[PROKLA 218 vom März 2025] „Surplus Society – »Überflüssige« im Gegenwartskapitalismus“ – oder „kein mensch ist überflüssig“?
„In diesem Heft widmen wir uns dem Thema, wie kapitalistische Ökonomien auf der einen Seite nicht nur Unmengen an Reichtum, Mehrwert und materiellem Überschuss anhäufen, sondern auf der anderen Seite mit Blick auf die kapitalistische Nachfrage nach Arbeitskräften fortwährend »Überschussbevölkerungen« hervorbringen. Kapitalistische Gesellschaften sind demnach in zweifacher Hinsicht »surplus societies«, in denen die Aufhäufung von stofflichem und wertförmigen Reichtum mit der Freisetzung und Verelendung von als »überschüssig« erachteten Bevölkerungsteilen korrespondiert. Auf diese zweifache Bedeutung des »Surplus« im Kapitalismus wollen wir mit dem Hefttitel »Surplus Society« hinweisen. (…) In den unterschiedlichen Beiträgen in diesem Heft wird mehrfach deutlich, dass diejenigen, die aus der verengten Perspektive des Kapitals als »überflüssig« erscheinen, aus gesellschaftlicher Sicht zentrale soziale Funktionen einnehmen und für die soziale Reproduktion eine unverzichtbare Bedeutung haben.“ Die PROKLA-Redaktion zum Heft Nr. 218 vom März 2025 der Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft – siehe mehr zum Heft und zu dieser spannenden Debatte sowohl den Link zum Editorial als auch die Erwiderung von Stefanie Hürtgen als Leseprobe, für die wir danken:
- PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft Bd. 55 Nr. 218 (März 2025) – alle Infos und Inhaltsverzeichnis
der Beiträge von Laura Boemke, Marie-Sophie Borchelt Camêlo, Jakob Graf, Tine Haubner, Stefanie Hürtgen, Johanna Neuhauser, Mike Laufenberg, Margit Mayer, Anil Shah, Christoph Scherrer, Dorothea Schmidt und Jan Weckwerth.
- Surplus Society – »Überflüssige« im Gegenwartskapitalismus
Editorial von Laura Boemke, Jakob Graf, Tine Haubner, Mike Laufenberg und Dorothea Schmidt - Peripherisiert, marginalisiert, einverleibt. Zur Produktion und Reproduktion ländlicher Surplusbevölkerungen
Artikel von Laura Boemke, Tine Haubner und Mike Laufenberg - Die notwendigen Überflüssigen
„Produziert der Kapitalismus immer eine »industrielle Reservearmee«? Ein Blick auf Deutschland vor 1914 und seit der Mitte des 20. Jahrhunderts…“ Artikel von Dorothea Schmidt am 28.02.2025 in ND online– gekürzter Vorabdruck aus Prokla 218
- kein mensch ist überflüssig. Oder: Von welcher ungleichen Entwicklung sprechen wir?
„Zusammenfassung: Eingangs diskutiere ich die Notwendigkeit einer glokalen raum-theoretischen Perspektive, um Peripherisierungsprozesse in Süd und Nord wahrzunehmen und sie als Bestandteil einer übergreifenden neoliberalisierten »Entwicklungs«-Logik zu fassen. Dann werden vier Kritiken am Revival des Surplus-Begriffs entwickelt: Er führt erstens zu irreführenden Dualismen, kann zweitens die insgesamt entsicherte (Lohn-)Arbeit begrifflich nicht fassen, reproduziert drittens partikular-bornierte Kapitalperspektiven, statt von einem sozialökologisch allgemeinen Arbeitsbegriff auszugehen, und führt viertens zu autoritären Klassifizierungen, die für eine emanzipatorische Perspektive von unten fraglich sind.
Prolog: Zur Neukonfiguration von Zentrum und Peripherie in glokaler Perspektive
Zunächst möchte ich unterstreichen, dass ich das Anliegen des Heftes sehr begrüße, Ansätze der ungleichen Entwicklung mit einer Auseinandersetzung um Arbeit zusammenzubringen. Ganz allgemein bedeutet ungleiche Entwicklung in der radical geography die Verräumlichung kapitalistischer Herrschaft von der globalen Scale bis »hinunter« zur kleinsten sozialräumlichen Ebene des (arbeitenden) Individuums (Smith 1984). In expliziter Anlehnung an Marx wie auch an die Dependenz- und kritische Entwicklungstheorie richtet sich diese konzeptionelle Perspektive gegen zwei Positionen: Erstens gegen diverse neoklassische bzw. Mainstream-Vorstellungen von »Kapitalismus« wesentlich als Marktökonomie, wo sozialräumliche Fragmentierungen durch Tausch vermeintlich eine Angleichung erfahren würden. Und zweitens gegen modernisierungs- wie entwicklungstheoretische Konzepte einer »dualen Ökonomie«, in der sozioökonomische Ungleichheiten zwar identifiziert, aber ohne kapitalismuskritische Analyse als Kontrast namentlich von Insidern und Outsidern des Arbeitsmarktes dargelegt werden (Lewis 1954; Emmenegger u.a. 2012). Hiergegen, und das ist für den vorliegenden Beitrag maßgeblich, insistiert das Theorem der ungleichen Entwicklung auf den (kapitalseitig, staatspolitisch etc.) hergestellten Zusammenhang ungleicher Aufspaltungsprozesse. (…)
In der skizzierten glokalen Perspektive und mit Blick auf kapitalistische Akkumulation und (Lohn-)Arbeit stellt sich ungleiche Entwicklung nun allerdings nicht als ein Gegensatz von »produktiv« fürs Kapital tätigen Arbeiter*innen hier und »Überflüssigen« dort dar. Diese Begriffsfamilie der »Überflüssigkeit « (also »Surplus-Proletariat«, »Überschussbevölkerung«, »Überbevölkerung« und »industrielle Reservearmee«) verführt vielmehr, so meine erste These, zu irreführenden dualistischen Betrachtungen und kann zweitens die insgesamt instabile und strukturell immer weniger reproduktionssichernde (Lohn-)Arbeit – bis hin zu vermeintlich »normal« Beschäftigten – nicht einfangen.
Drittens müssen wir, wenn wir emanzipatorisch-kritisch Theorie betreiben wollen, nach den eigensinnigtätig hergestellten reproduktiven Zusammenhängen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse fragen, ohne die kapitalistische Produktion nie stattfinden könnte.
Anstatt also die verwertungs logische Kapitalperspektive in ihrem Verständnis von Arbeit »kritisch«-begrifflich zu verdoppeln, braucht es den analytischen Standpunkt eines radikal anderen, nämlich gesellschaftlich allgemeinen Arbeitsbegriffs (Haubner/Pongratz 2021). Hieran anschließend stellt sich gerade in einer Zeit, in der das Fortschritts- und Wohlstandsversprechen kapitalistischer Ideologien in multiple Krisen geraten ist, die generelle Frage: Wie kritisch ist ein Konzept, das lebendige Menschen entlang der unmittelbaren Herrschaftsperspektive des Kapitals klassifiziert?…“ Artikel von Stefanie Hürtgen in PROKLA 218 vom März 2025
Siehe zuletzt vom Dezember 2024: [PROKLA 217] KI: Die Innovation, die gar keine ist?