Krebs und Gesundheitspolitik: Arbeitsbedingte Ursachen werden systematisch übergangen

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit„… Mit der Jahrtausendwende etablierte sich auch eine Zeitenwende in der Gesundheitspolitik, zumindest in Deutschland. Im DKFZ (Deutsches Krebsforschungszentrum) und in anderen deutschen Forschungseinrichtungen wird industriellen Risiken nicht mehr nachgegangen. Sie werden gleichsam als unvermeidbar angesehen. Man konzentriert sich nur noch auf Lebensstileinflüsse: Rauchen, Trinken, Essen, Bewegung usw. Diese Individualisierung der Risiken geht noch weiter: Inzwischen werden auch alte erbbiologische Denkmodelle aus der Mottenkiste geholt. (…) Weltweit sterben allein durch die Exposition gegenüber tödlichen Asbestfasern mehr als 100.000 Menschen. Viele weitere Krebserzeuger wurden identifiziert, so u.a. quarzhaltige Stäube, wie sie in der Bauwirtschaft vorkommen, Schweißrauche und vor allem Dieselabgas- und verkehrsbedingte Feinstaub-Expositionen, die auch hierzulande ein großes Problem darstellen. (…) Krebspolitik war vor 40 Jahren noch ansatzweise industriekritische Politik, heute ist sie eine Politik, die zur Anpassung an die herrschenden Verhältnisse mit Anleihen an längst überwunden gedachte erbbiologische Konzepte konditioniert…“ Aus dem Artikel von Wolfgang Hien in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 9/2024:

Krebs und Gesundheitspolitik

Arbeitsbedingte Ursachen werden systematisch übergangen

 1981 erschien ein Buch des Investigativjournalisten Egmont R. Koch: »Krebswelt«. Es zeigte auf, dass in der Arbeitswelt erhebliche Krebsrisiken zu finden sind: Asbestfaserstäube, Schwermetalle, Vinylchlorid, Azofarben und vieles mehr. In den 1980er Jahren gab es im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) Heidelberg noch ein Institut für Toxikologie und ein weiteres Institut für Biochemie, in dem in einer Abteilung für molekulare Toxikologie – in dem auch der Autor des hier vorliegenden Artikels damals arbeitete – über industrielle Krebs­ursachen intensiv geforscht wurde: Nitrosamine, Chlorchemikalien, Dioxine, Pestizide, Weichmacher in Kunststoffen usw. waren die Themen. Internationale Forschungsgruppen und die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC), eine Untergliederung der WHO, befassten sich mit vielen weiteren Stoffgruppen und Einflüssen, so auch mit Dieselabgasen, deren krebserzeugende Wirkung sich letztlich als eindeutig herausstellte. Es wurde immer klarer, dass sich, sollen die Risiken gemindert werden, in der Industriepolitik etwas grundlegend än­dern müsste, so z.B. Verzicht auf bestimmte Stoffe oder Stoffgruppen und restriktivere Hand­habung bestimmter Stoffe in der Weiterverarbeitung, vor allem: ein baldiges Verbot von die­selbetriebenen Fahrzeugen. Unbestritten wurden auch Risiken durch Tabakrauch und anderen Lebensstileinflüsse thematisiert. Und auch hier war klar: Viele dieser Einflüsse sind industri­ellen Ursprungs oder werden durch industriellen Einfluss – z.B. die Zigarettenwerbung – mit­erzeugt. Unter Prävention von Krebserkrankungen verstand man, all diesen Einflüssen entge­genzutreten, um zumindest einen Teil der Krebserkrankungen, d.h. die vermeidbaren Krebser­krankungen, zu verhüten.

Mit der Jahrtausendwende etablierte sich auch eine Zeitenwende in der Gesundheitspolitik, zumindest in Deutschland. Im DKFZ (Deutsches Krebsforschungszentrum) und in anderen deutschen Forschungseinrichtungen wird industriellen Risiken nicht mehr nachgegangen. Sie werden gleichsam als unvermeidbar angesehen. Man konzentriert sich nur noch auf Lebens­stileinflüsse: Rauchen, Trinken, Essen, Bewegung usw. Diese Individualisierung der Risiken geht noch weiter: Inzwischen werden auch alte erbbiologische Denkmodelle aus der Motten­kiste geholt. Ende Mai dieses Jahres gab das DKFZ eine Presseerklärung heraus, deren Kern­aussage hier zitiert werden soll: »Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und vom European Bioinformatics Institute EMBL-EBI, Hinxton, UK, nutzen die dänischen Gesundheitsregister, um die individuellen Risiken für 20 verschiedene Krebsarten mit hoher Treffsicherheit vorherzusagen. Das Vorhersagemodell lässt sich auch auf andere Gesundheitssysteme übertragen. Es könnte helfen, Menschen mit hohen Krebsrisiken zu identifizieren, für die man gezielt individuelle Früherkennungsangebo­te im Rahmen von Studien erproben könnte.« Der Presseerklärung war im Weiteren Folgen­des zu entnehmen: Nötig sei eine große und systematische Datenerfassung, in die von allen Personen die grundlegenden Körperdaten, Vorerkrankungen, personale Risikofaktoren sowie Krebserkrankungen bei Familienmitgliedern einfließen. Auf diese Weise könne man mehr als 80 Prozent der Krebserkrankungen auch individualisiert vorhersagen, was bedeute, dass bei den identifizierten Personen frühzeitigere Diagnosen und Therapien möglich wären. Um noch mehr Treffsicherheit zu erhalten, schlagen die DKFZ-Forscher:innen darüber hinaus noch zu­sätzliche Blut-Tests vor, mit Hilfe derer auch genanalytische Daten zu generieren wären. Ein solche irrwitzige Konzeption firmiert unter dem Begriff »Prävention«, was in der Konsequenz eine völlige Sinnverschiebung, wenn nicht gar Sinnentleerung bedeutet.

Krebserkrankungen sind zumeist Folge multifaktorieller Einflüsse. Ohne an dieser Stelle allzu tief in die molekulare Onkologie einzusteigen: Ein großer Teil der Krebserkrankungen sind zufallsbedingte Erscheinungen des Alterungsprozesses unseres biologischen Körpers, verbunden mit der teilweise unvermeidlichen Mischexposition gegenüber natürlichen und in­dustriellen Lebensmitteln und vielen weiteren Umweltbedingungen. Dazu gehört auch die all­gegenwärtige radioaktive Strahlung, die durch die Atombombenexperimente der 1960er Jahre rund um den Globus sprunghaft angestiegen ist. Viele weitere Faktoren wäre zu benennen. Auch Viren, Spätfolgen viraler Infektionen sowie Stress und Spätfolgen von Stresseinwirkun­gen können sich krebserzeugend oder krebsförderlich auswirken. Das Problem ist, dass in ver­schiedenen Bereichen unseres Körpers, die gegenüber Schadstoffen oder deren Stoffwechsel­produkten exponiert sind, Stammzellen in ihrem genetischen Material verändert werden und sich diese Veränderungen im Laufe des weiteren Lebens anhäufen. Auch wenn es manche Reparaturprozesse gibt, so kann als Regel gesagt werden: Die Stammzellen »vergessen« nichts. Irgendwann ist die kritische Schwelle überschritten, und die geschädigten Zellen be­ginnen, aggressiv zu wachsen. Selbst wenn wir es schaffen würden, schädliche Faktoren in unseren Lebensmitteln und Lebensbedingungen zu reduzieren, würden Krebserkrankungen auftreten. Sie gehören zum Leben dazu wie das Altern und Sterben. Die Frage aber, die sich jede zivilisierte und aufgeklärte Gesellschaft stellen sollte, ist die: Gibt es einen Anteil von Krebserkrankungen, der durch eine konsequente Prävention zu verhindern wäre? Was müsste sich strukturell ändern und welches Wissen brauchen die einzelnen Menschen, um in ihrem eigenen Leben präventiv zu handeln? In diesem Zusammenhang ist auch zu fragen: Was macht eigentlich die Epidemiologie in Deutschland? Wir haben mehrere große Institute, doch sie sparen die Faktoren Beruf und Arbeitswelt aus. Ich sehe hierzulande keinen Epidemiolo­gen, keine Epidemiologin, der oder die von der Politik fordert, ein Berufsregister einzuführen, sodass zumindest ein Ansatz für eine arbeitsweltbezogene Forschung möglich wäre. Fast überflüssig zu erwähnen, dass epidemiologisch-statistische Abschätzungen zu Krebsursachen in dem Maße verzerrt werden, wie mögliche Faktoren nicht berücksichtigt werden, zum Teil, weil sie nicht oder nur schlecht messbar sind, zum Teil, weil sie bewusst ausgespart werden.

Forschungslandschaften sind komplexe Systeme. Es gibt keine zentrale Steuerung, die in jeden Winkel der Forschungslandschaft hineinreicht. Doch bestimmte Trends werden schlicht durch die Schwerpunktsetzung staatlicher Programme gesetzt, in die bekanntlich großindustri­elle Interessen eingehen. So hat die deutsche Automobilindustrie erreicht, dass Dieselmotore­missionen hierzulande nicht als krebserzeugend eingestuft wurden. Es fällt auf, dass in den meinungsbildenden deutschsprachigen Medien seit einigen Jahren diesem Trend kritiklos ge­folgt wird, so z.B. auch in Übersichtsartikeln der Süddeutschen Zeitung (SZ). Dem stehen die Einschätzungen und Einstufungen der WHO, der IARC und weiterer internationaler For­schungsgruppen entgegen. Im vergangenen Jahr schrieb ich der SZ einen Leserbrief, der hier zitiert werden soll: »Neueren Schätzungen führender epidemiologischer Forscher:innen zufol­ge sind 18 bis 25 Prozent der Lungenkrebserkrankungen bei Männern und generell fünf bis acht Prozent aller Krebserkrankungen schädlichen Arbeitsstoffen, d.h. beruflich bedingten kanzerogenen Expositionen zuzuordnen (Takala 2015; Ohlsson/Kromhout 2021). Weltweit sterben allein durch die Exposition gegenüber tödlichen Asbestfasern mehr als 100.000 Men­schen. Viele weitere Krebserzeuger wurden identifiziert, so u.a. quarzhaltige Stäube, wie sie in der Bauwirtschaft vorkommen, Schweißrauche und vor allem Dieselabgas- und verkehrs­bedingte Feinstaub-Expositionen, die auch hierzulande ein großes Problem darstellen. Warum befasst sich unser Journalismus damit nicht? Zu vermuten sind hier mehrere Faktoren: Zum einen betrifft dies das Mittelklassepublikum nicht ganz so stark wie die körperlich und eher prekär Arbeitenden, zum anderen rührt das Diesel-Thema an den Grundfesten unserer Auto­mobil-Nation und unseres Mobilitätsverständnisses. Allzu viel stünde auf dem Spiel, wenn endlich eine wirksame Krebsprävention arbeits- und umweltpolitisch durchgesetzt werden würde. Festzustellen ist, um es einmal krass auszudrücken: Der Wohlstand der einen wird mit der Krankheit der anderen erkauft. Kein gutes Vorzeichen für eine menschliche Gesellschaft.« Die SZ druckte meinen Leserbrief nicht ab. Nachdem ich nachhakte, kam als Antwort, die SZ bewege sich in ihrer Wissenschaftsredaktion auf hohem Niveau und man habe keine Beleh­rungen nötig. Wir sehen: Die Zeiten von Egmont R. Koch sind vorbei. Krebspolitik war vor 40 Jahren noch ansatzweise industriekritische Politik, heute ist sie eine Politik, die zur Anpassung an die herrschenden Verhältnisse mit Anleihen an längst überwunden gedachte erbbiologische Konzepte konditioniert. Soll dies etwa unwidersprochen bleiben?

Artikel von Wolfgang Hien in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 9/2024

Siehe zuletzt zu/von Wolfgang Hien im LabourNet:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=223430
nach oben