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Zwischen Ritualisierung des Notwendigen und notwendiger Ritualisierung: Zur widersprüchlichen Rolle der Gewerkschaften in Uruguay
„In Bezug auf gewerkschaftlich organisierte Arbeitsniederlegungen kann man in Uruguay schnell den Überblick verlieren – irgendwer scheint immer zu streiken. Ein Eindruck, der auch von der Statistik bestätigt wird: Durchschnittlich kommt auf jede*n Beschäftigte*n ein Streiktag pro Jahr. Etwa achtmal so viel wie im oft fälschlicherweise als „Streikweltmeister“ bezeichneten Frankreich. Zudem spielen die Gewerkschaften eine herausragende Rolle in den politischen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig sind sie so fest in dem uruguayischen Sozialpartnerschaftsmodell verankert, dass viele ihrer Aktionen den Eindruck erzeugen, diese seien eher Ausdruck eines Rituals zur Selbstversicherung als Kampfmittel zur konsequenten Durchsetzung der anvisierten Ziele…“ Artikel von Wolfgang Ecker aus ila, das Lateinamerika-Magazin 476 vom Juni 2024 mit dem Schwerpunkt „Arbeitskämpfe“ – wir danken!
Zwischen Ritualisierung des Notwendigen und notwendiger Ritualisierung:
Zur widersprüchlichen Rolle der Gewerkschaften in Uruguay
In Bezug auf gewerkschaftlich organisierte Arbeitsniederlegungen kann man in Uruguay schnell den Überblick verlieren – irgendwer scheint immer zu streiken. Ein Eindruck, der auch von der Statistik bestätigt wird: Durchschnittlich kommt auf jede*n Beschäftigte*n ein Streiktag pro Jahr. Etwa achtmal so viel wie im oft fälschlicherweise als „Streikweltmeister“ bezeichneten Frankreich. Zudem spielen die Gewerkschaften eine herausragende Rolle in den politischen Auseinandersetzungen. Gleichzeitig sind sie so fest in dem uruguayischen Sozialpartnerschaftsmodell verankert, dass viele ihrer Aktionen den Eindruck erzeugen, diese seien eher Ausdruck eines Rituals zur Selbstversicherung als Kampfmittel zur konsequenten Durchsetzung der anvisierten Ziele.
Anders als in vielen lateinamerikanischen Ländern sind in Uruguay militante Streikformen, in bewusster Konfrontation mit staatlichen Sicherheitsorganen, nicht anzutreffen – ebenso wenig wie „wilde Streiks“ jenseits etablierter Gewerkschaftsstrukturen. Darüber hinaus beschränken sich die allermeisten Arbeitsniederlegungen auf maximal einen Tag und rufen somit kaum unmittelbare Konsequenzen hervor. Gleichzeitig gilt Uruguay jedoch als das Land der Region mit den weitestgehenden Arbeitnehmer*innenrechten, der geringsten sozialen Spaltung sowie dem (neben Argentinien) höchsten Organisierungsgrad unter den abhängig Beschäftigten.
Ein Widerspruch, der sich nicht allein mit dem Verweis auf die Quantität und Qualität von Arbeitskämpfen auflösen lässt. Vielmehr sind diese selbst als Ausdruck eines historisch gewachsenen, komplexen politischen Machtgefüges zu betrachten, in dessen Rahmen den uruguayischen Gewerkschaften mitunter eine wichtigere Rolle zugesprochen werden kann als den parteipolitischen Organisationen der uruguayischen Linken.
Wenn in Uruguay von Gewerkschaften gesprochen wird, bezieht sich dies fast ausschließlich auf die Organisationen, die sich im Dachverband PIT-CNT zusammengeschlossen haben – insgesamt über siebzig Betriebs- und Sektorengewerkschaften sowie Konföderationen, die wiederum mehrere Einzelgewerkschaften repräsentieren. Laut eigenen Angaben sind in diesen Strukturen etwa 400000 Menschen organisiert, rund ein Viertel aller lohnabhängig Beschäftigten des Landes [1].
Daneben existieren weitere gewerkschaftliche Zusammenschlüsse, die teilweise in Kooperation mit der PIT-CNT, teilweise in expliziter Abgrenzung dazu agieren. Dass diese im öffentlichen Diskurs kaum wahrgenommen werden, liegt neben der deutlich geringeren Mitgliederzahl beziehungsweise ihrer sektoralen Beschränktheit vor allem an der Tatsache, dass sich die PIT-CNT als bedeutender politischer Akteur etabliert hat. Ohne deren Strukturen wären vermutlich alle in der Vergangenheit von der uruguayischen Linken initiierten Volksentscheide nie zustande gekommen, und auch bei vielen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – sei es über die Erinnerungskultur in Bezug auf die Verbrechen der Diktatur, die Bildungs- und Sozialpolitik oder die ökonomischen Entwicklungsperspektiven des Landes – besitzt ihre Stimme Gewicht. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Mobilisierungsfähigkeit und -bereitschaft zu politischen Themen, die sich nicht nur in Kundgebungen und Demonstrationen ausdrücken, sondern auch in temporären Arbeitsniederlegungen.
Dabei stößt dieses Agieren auf starken Widerspruch, sowohl in der politischen Sphäre als auch in Teilen der Bevölkerung, die der Gewerkschaftsführung vorwerfen, ihre „eigentlichen“ Aufgaben als Interessenvertretung der Lohnabhängigen einem parteipolitisch motivierten Handeln unterzuordnen. Explizit geht es dabei um eine mutmaßliche Orientierung des gewerkschaftlichen Agierens an der politischen Agenda des Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio. Als Indiz hierfür wird nicht nur auf ähnliche politische Forderungen in vielen Bereichen verwiesen, sondern auch auf eine Vielzahl von Arbeitskämpfen, in denen die Kritik an der Regierung stärker im Fokus zu stehen scheint als tarifliche und arbeitsrechtliche Fragen. Zudem wird auf die Parteizugehörigkeit wichtiger gewerkschaftlicher Funktionsträger*innen hingewiesen – hauptsächlich bezogen auf die kommunistische PCU, die sowohl in den gewerkschaftlichen Strukturen als auch in der Frente Amplio starken Einfluss besitzt.
Ein Vorwurf, der von Seiten der PIT-CNT harsch zurückgewiesen wird. Zum einen, was eine von außen kommende Definition ihrer „eigentlichen“ Aufgaben beträfe, zum anderen sei ihr Agieren zwar selbstverständlich politisch, jedoch nicht parteipolitisch motiviert. Dabei kann sie darauf verweisen, dass sie auch in der Regierungszeit der Frente Amplio (2005-2019) die politische Konfrontation suchte, wenn es in ihren Augen notwendig erschien. Beispielsweise spielten die Gewerkschaften eine Schlüsselrolle bei den von Streiks begleiteten Protesten, die 2015 dazu führten, dass die Regierung ihre Pläne in Bezug auf einen Beitritt Uruguays zu dem TISA-Abkommen [2] aufgeben musste, welches eine Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen erleichtert hätte.
Potenzieller historischer Block
Indes streitet der Dachverband nicht ab, dass die Frente Amplio für die eigene politische Strategie eine hervorgehobene Rolle spielt. Schließlich sei sein Ziel die Schaffung eines progressiven – im Sinne von Gramsci – „historischen Blocks aus politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Komponenten“. Entsprechend eng ist seit Jahrzehnten die Zusammenarbeit mit den wichtigsten Organisationen der Studierenden- und der Genossenschaftsbewegung. Seit 2017 besteht auch mit Teilen der feministischen Kollektive über die „Intersocial feminista“ eine institutionelle Zusammenarbeit. Potenziell wird auch die Frente Amplio als Teil eines solchen Blocks gesehen, auch wenn deren Regierungszeit im Nachhinein scharf kritisiert wird: „Die Ausübung der Regierungstätigkeit hat die Frente Amplio von ihren sozialen Grundlagen abgekoppelt. Als politische Kraft beschränkte sie sich darauf, in die staatliche Verwaltung eingegliedert zu sein, obwohl sie in erster Linie etwas anderes sein und eine andere Rolle erfüllen sollte.“
Bis zu einem gewissen Grad lässt sich das Handeln der Gewerkschaften als Versuch interpretieren, Arbeitskämpfe politisch (auch) dafür zu nutzen, die Frente Amplio daran zu erinnern, welche andere Rolle sie als progressives Parteienbündnis „erfüllen sollte“ [3]. Das hat dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren die PIT-CNT bei vielen als eigentliche Opposition wahrgenommen wurde. Während sich die Gewerkschaften daran machten, Proteste gegen die Regierungspolitik zu organisieren, war von der, nach ihrer Wahlniederlage paralysiert wirkenden, Frente Amplio jenseits von Parlamentsdebatten, juristischen Klagen gegen einzelne Handlungen der Regierung und wiederkehrenden internen Zwistigkeiten kaum etwas zu vernehmen. Auf das Mittel einer öffentlich sichtbaren Mobilisierung ihrer Basis wurde weitgehend verzichtet, und falls dies doch der Fall war – wie bei der Kampagne zum Referendum 2022 (siehe ila 448 und 455) – musste sie von der PIT-CNT und anderen sozialen Organisationen zuvor „zum Jagen getragen“ werden.
Die strategische Ausrichtung hin zu einem „historischen Block“ mit der Frente Amplio ist jedoch auch innerhalb der Gewerkschaft nicht unumstritten. Zum einen, was den tatsächlichen Spielraum für radikale Veränderungsansätze in dem, per se als klassenübergreifendes Projekt konzipierten, Parteienbündnis betrifft, zum anderen in Bezug auf den Verlust an Unabhängigkeit im eigenen politischen Handeln.
Unstrittig ist hingegen, dass sich die Gewerkschaften aktiv in die politische Sphäre einmischen und mit ihren Aktionen Druck auf die Regierenden ausüben – nicht nur, wenn es um konkrete Gesetzesvorhaben geht, sondern auch bei den alltäglichen Kämpfen um bessere Arbeitsbedingungen oder höhere Löhne. Vor allem deswegen, weil die uruguayische Regierung per Gesetz eine entscheidende Rolle bei tariflichen Auseinandersetzungen spielt – nicht nur als öffentlicher Arbeitgeber, sondern auch als Verhandlungsteilnehmer im privatwirtschaftlichen Bereich.
Teil des Systems
Die aktive Rolle des Staates in der Arbeitswelt ist eines der Kernelemente des uruguayischen Sozialpartnerschaftsmodells, seit vor 80 Jahren die sogenannten Lohnräte (Consejos de salarios) gegründet wurden, in denen Vertreter*innen von Unternehmen, Gewerkschaften und des Arbeitsministeriums den tariflichen Rahmen für die unterschiedlichen Wirtschaftsbereiche festlegen. Ebenso sind Drei-Parteien-Gespräche auch die Instanz, wenn es um eine mutmaßliche Nichteinhaltung getroffener Vereinbarungen, geplante Stellenkürzungen oder gewerkschaftsfeindliches Verhalten einzelner Unternehmen geht.
Viele Streikaktionen haben vor diesem Hintergrund tatsächlich etwas von einem Ritual: Zwar werden in deren Rahmen weitreichende, zum Teil auch kapitalismuskritische Positionen formuliert, gleichzeitig zielen sie primär darauf ab, staatliche Stellen zur Schlichtung eines Konfliktes zu bewegen. In diesem Sinne könnte die Mehrzahl der Arbeitsniederlegungen auch treffender als „Warnstreik“ bezeichnet werden, in dessen Rahmen Forderungen öffentlich gemacht, aber nicht durchgekämpft werden.
Kritische Stimmen, die auf die Beschränktheit des, diesem Agieren zugrunde liegenden, Sozialpartnerschaftsmodells hinweisen, sind kaum zu vernehmen. Vielmehr wird auf die negativen Konsequenzen verwiesen, als in der Vergangenheit die Lohnräte auf Druck der Kapitalseite zugunsten von Verhandlungen auf Betriebsebene ausgesetzt wurden. Zuletzt war dies zwischen 1990 und 2004 der Fall – im Ergebnis führte dieser Schritt zu einer zunehmenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, begleitet von einem massiven Absinken der Reallöhne. Entsprechend kann die Wiederherstellung der Lohnräte durch die Frente-Amplio-Regierung nicht nur als die Umsetzung einer zentralen gewerkschaftlichen Forderung betrachtet werden, sondern auch als eine der wirkungsvollsten sozialpolitischen Maßnahmen ihrer gesamten Regierungszeit.
Neben den Lohnabhängigen profitieren die Gewerkschaften selbst unmittelbar von diesen Lohnräten, da diese Instanz die Beschäftigten dazu motiviert, sich zu organisieren. In Bereichen, in denen dies nicht der Fall ist, haben sie kein Mitspracherecht und sind somit von tariflichen Vereinbarungen abhängig, die lediglich zwischen dem Arbeitsministerium und den Unternehmen verhandelt werden. Vor diesem Hintergrund wird das Phänomen erklärbar, warum es in Uruguay Gewerkschaften in Bereichen gibt, die anderswo als „nicht organisierbar“ gelten, wie beispielsweise Hausangestellte.
Schlussendlich legitimiert sich auch der bedeutende politische Einfluss, den die PIT-CNT heute in Uruguay besitzt, darin, dass sich so viele Menschen wie nie zuvor unter ihrem Dach zusammengeschlossen haben. Dabei waren es zu Beginn des Jahrtausends lediglich etwas mehr als hunderttausend, seit der Wiedereinführung der Lohnräte hat sich die Zahl jedoch mehr als verdreifacht. In der Konsequenz bedeutet dies aber ebenfalls, dass selbst die Sektoren innerhalb der PIT-CNT, die sich in einer anarcho-syndikalistischen beziehungsweise kommunistischen Tradition sehen, ein Sozialpartnerschaftsmodell verteidigen müssen, obgleich es ihren eigenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen widersprechen dürfte. Damit laufen sie Gefahr, dass ihre Forderungen in Bezug auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft nur noch als Ritual wahrgenommen werden, das auf etwas Notwendiges verweist, sich aber nicht in einem notwendigen Handeln niederschlägt.
Artikel von Wolfgang Ecker aus ila, das Lateinamerika-Magazin 476 vom Juni 2024 mit dem Schwerpunkt „Arbeitskämpfe“ – wir danken!
Der Schwerpunkt „Arbeitskämpfe“ der ila 476 hat einen Umfang von 30 Seiten (das gesamte Heft 50 Seiten). Die Juni-Ausgabe kann zum Preis von 6,00 Euro bei der ila (Heerstraße 205, 53111 Bonn, 0228-658613, ila-bonn@t-online.de, www.ila-web.de ) bestellt werden – wir empfehlen dies!
Anmerkungen
(1) Damit liegt der Repräsentationsgrad fast doppelt so hoch wie jener der DGB-Gewerkschaften
(2) TISA ist die Abkürzung für das „Trade in Services Agreement“. Ziel des Abkommens ist die Liberalisierung des internationalen Handels mit Dienstleistungen
(3) Letztes Beispiel hierfür ist die Federführung der PIT-CNT bei der Durchsetzung eines Plebiszits im kommenden Oktober zum Rentensystem – trotz der expliziten Ablehnung eines solchen Vorgehens von Teilen der Frente Amplio
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Uruguay 1994: Generalstreik für das Recht auf Asyl
Vor 30 Jahren, am 23. August 1994, kam es in Uruguay zu diesem ungewöhnlichen und leider bis heute einzigartigen Streik. Gegen die Auslieferung von drei Basken, die von Spanien als „ETA-Terroristen“ beschuldigt wurden, rief der Gewerkschaftsdachverband PIT-CNT zu einem Generalstreik „Zur Verteidigung des Lebens“ auf.
In Spanien wurde damals noch systematisch gefoltert. Betroffen waren vor allem Aktivist*innen der baskischen Unabhängigkeitsbewegung. Als die Auslieferung der drei baskischen Compañeros von der uruguayischen Regierung bestätigt wurde, bildete sich eine breite Solidaritätsbewegung. Welche Bedeutung das politische Asyl hat, wissen viele Uruguayer*innen aus eigener leidvoller Erfahrung. Während der dortigen Diktatur (1973-85) wurden Tausende gefoltert. 380000 Menschen – 14 Prozent der Bevölkerung – flohen in andere Länder.
Als die Basken gegen ihre Auslieferung in den Hungerstreik traten und in das Krankenhaus „El Filtro“ verlegt wurden, begannen Unterstützer*innen am 20.8. eine Belagerung. Am 22.8. waren Tausende bei einer Kundgebung der PIT-CNT vor Ort, die Lehrer*innen streikten und auch der Generalstreik am nächsten Tag wurde breit befolgt. Aber mit einem für uruguayische Verhältnisse ungewöhnlich harten Polizeieinsatz wurde die Auslieferung durchgesetzt. Demonstrierende erlitten Schussverletzungen, zwei von ihnen starben. Der Trauerzug wurde erneut von einem Generalstreik begleitet. Bis heute wird an jedem 24. August mit einer großen Demonstration an das „Filtro-Massaker“ und die beiden von der Polizei Ermordeten, Fernando Morroni und Roberto Facal, erinnert. (Alix Arnold)
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Siehe (u.a.) auch im LabourNet:
- Dossier von 2023: Auch Uruguays rechte Regierung will das Renteneintrittsalter anheben – Proteste, Aktionstage und Generalstreik
- Dossier von 2022: Uruguay: Proteste gegen Reformen (= Kürzungen) im Bildungswesen
- und beispielsweise von 2017: (Nicht alle) Gewerkschaften Uruguays mobilisieren: Gegen das Anti-Streikpostengesetz der linken Regierung