Das deutsche Europa – eine katastrophale Erfolgsgeschichte
Artikel von Karl Heinz Roth aus Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie – Heft 20 (Winter 2012/2013), exklusiv im LabourNet Germany!
Wird danken und empfehlen das gesamte Heft sowie die Homepage von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie
Von den Rändern Europas kommen schreckliche Nachrichten. In Spanien erhängen sich Menschen oder stürzen sich aus den Fenstern ihrer Hochhauswohnungen, wenn die Gerichtsvollzieher zur Zwangsräumung erscheinen. Verzweifelte Rentner erschießen sich auf den Plätzen vor den Parlamentsgebäuden, weil sie ihre Mieten und Stromrechnungen nicht mehr bezahlen und sich kein warmes Essen mehr leisten können. Schwerkranke Erwerbslose bekommen ihre Diagnosen nicht mehr mitgeteilt und sterben unbehandelt, denn sie sind aus der Krankenversicherung „ausgesteuert“. Die Statistiken der aktuellen Armutsberichte schaffen eine wenig tröstliche Distanz zu diesen individuellen Katastrophen: In Spanien wurde bis heute die Hälfte der über 400.000 Zwangsräumungsbefehle vollstreckt.
In den Ballungsgebieten der europäischen Peripherie hat sich die Zahl der Obdachlosen in den letzten zwei Jahren verdreifacht. In Griechenland werden täglich bis zu 250.000 Essensrationen an Bedürftige ausgegeben.
Zehntausende hochqualifizierte Jugendliche kehren den europäischen Peripherieländern den Rücken und wandern nach Übersee aus, denn sie können noch nicht einmal mehr einen prekären Job ergattern. Die Massenarmut beginnt von den Rändern her in die Kernzone der Europäischen Union vorzudringen. (Siehe Kasten)
Die immer größer werdenden Randzonen des Elends GriechenlandLaut Information der Hellenic Association of Scientif & Medical Equipment breiten sich ín Griechenland Malaria, Tuberkulose und das Nilvirus aus. Der Staat kann Apotheken und Ärzte nicht mehr bezahlen; sozial Schwache können sich Medikamente und Behandlungen immer weniger leisten. Die Situation soll sich, geht es nach der EU, weiter deutlich verschlechtern. Die aktuellen neuen Forderungen der Troika zur „inneren Abwertung“ – Senkung der Lohnkosten und der Sozialausgaben anstelle einer Währungsabwertung – lauten: Abschaffung der 5-Tage-Woche, 13-Stunden-Arbeitstag dort, wo ein Betrieb dies als notwendig erachtet, Komplette Beseitigung der Kollektivverträge, (Weisungsbefugnis des Arbeitsministeriums anstelle der Tarifautonomie), Abschaffung sämtlicher Kündigungsfristen, Weitere Steuerermäßigungen für Unternehmen bis zu einem Steuersatz von 0 %. Kommentar: „Die Griechen sind aus der Hängematte geflogen.“ Maria Fekter, österreichische Finanzministerin, im ORF vom 20. Oktober 2012. Spanien Seit Beginn der Krise gab es 350.000 Zwangsräumungen. Derzeit werden täglich 500 Wohnungen zwangsgeräumt. Gleichzeitig stehen mehr als eine Million neu gebaute Wohnungen als Folge des spekulativen Baubooms leer. 5,8 Millionen Menschen sind offiziell arbeitslos, gut 25 Prozent der Erwerbsbevölkerung (Stand: Oktober 2012). Unabhängige Schätzungen sprechen von 7-8 Millionen. Auch in der wirtschaftlich starken Region Katalonien sind 22,5 Prozent offiziell arbeitslos gemeldet. 2011 verließen 500.000 Menschen das Land. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2012 waren es bereits 420.000 – 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Website mit den Arbeitsangeboten aus dem Ausland der Oficina de Traball (der staatlichen Arbeitsvermittlung Kataloniens) zählt jeden Tag mehr als hunderttausend Besucher. Kommentar: “Genial!“. EU-Währungskommissar Olli Rehn gegenüber dem spanischen Wirtschaftsminister Lius de Guindos, nachdem dieser ihm eine „extrem aggressive Arbeitsmarktreform“ mit der Aushebelung der Kollektivverträge angekündigt hatte. Heimlicher Mitschnitt des anbiederischen Auftretens Guindos (ehemals Top-Manager von Lehman Brothers) gegenüber Olli Rehn bei „público.es“ |
Das Europa des Jahrs 2012 ist das krasse Gegenteil jener „Europäischen Föderation“, die die Linkssozialisten der italienischen Resistenza und der französischen Résistance vor 70 Jahren zum Widerstand gegen die deutsche Besatzungsherrschaft motiviert hatte: Ihre Vision sollte dem Kontinent nicht nur den ewigen Frieden bescheren, sondern auch Arbeiterdemokratie, Gemeineigentum, soziale Gleichheit und Wohlstand. Aber ihre Initiative strandete rasch an den Klippen des heraufziehenden Kalten Kriegs.
Das Rennen machten ihre bürgerlichen Konkurrenten, für die die „soziale Frage“ auch unter antifaschistischen Vorzeichen nur eine nachrangige Bedeutung hatte. Für sie ging es neben der Friedenssicherung in erster Linie um den Abbau von Zollschranken, die Liberalisierung des Kapitalverkehrs und um die grenzüberschreitende Verflechtung der Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik. Dabei konnten auch ihre Vordenker auf Traditionen der Vorkriegsjahrzehnte zurückgreifen, so etwa auf das vom luxemburgischen Stahlindustriellen Emile Mayrisch finanzierte „Deutsch-Französische Studienkomitee“, das sich seit der Mitte der 1920er Jahre um einen grenzüberschreitenden Ausgleich der wechselseitigen Wirtschaftsinteressen bemüht hatte. Aber ein derartiger Exzess der Massenverarmung, wie er sich heute von den Rändern her ausbreitet, war auch ihren Blaupausen fremd. Wie hatte es also zum Fiasko der Europa-Politik kommen können? Über diese Frage wird inzwischen heftig diskutiert. Im Folgenden werde ich einige Überlegungen vortragen, die in den Debatten weitgehend ausgeblendet werden.
Von Anfang an bildete die deutsch-französische Verständigung die Achse der europäischen Wirtschaftsintegration. Das war kein Zufall. Die Kopfgeburt Mayrischs hatte sich schon während des zweiten Weltkriegs bewährt, wenn auch unter den asymmetrischen Bedingungen des deutschen militärischen Triumphs. Aber die deutschen Planer waren großzügig gegenüber ihren französischen Kollaborateuren, als sie noch mitten im Krieg den „Europäischen Großwirtschaftsraum“ mit der Reichsmark als Leitwährung aus der Taufe hoben. Sie gewannen die 500 großen Familien für ihr Projekt, denn deren Exporte und Rüstungslieferungen brachten enorme Gewinne. Zur Zementierung der deutsch-französischen Achse des Großraums genügte ein winziger deutscher Expertenapparat, der dann in den 1950er Jahren im Bundeswirtschaftsministerium unter der Protektion Ludwig Erhards sein Come back feierte.
Ursprünge der EU (EWG) im Zweiten Weltkrieg
Nach der Ingangsetzung des westeuropäischen Wiederaufbaus durch die amerikanischen Marshallplan-Darlehen und das Wechselkursregime des Vertragswerks von Bretton Woods kehrte sich die Asymmetrie um. Nun statteten die französischen Eliten ihren Dank für die vergangene Generosität ab. 1952 entstand die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) als Regulationsbehörde der französischen, luxemburgischen und deutschen Montanindustrie. Fünf Jahre später folgte in Rom die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Das war der Rahmen, in dem sich die Westdeutschen – flankiert durch den allmählichen Wiedergewinn der politischen Souveränität und die Wiederbewaffnung – großhungerten. Der wichtigste Hebel zum Wideraufstieg war dabei ihre Währung. Die westdeutsche Zentralbank war – ein Novum der Wirtschaftsgeschichte – vom politischen Souverän unabhängig. Sie konnte – und sollte – nicht als Steuerungsinstrument zu Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung beitragen, sondern beschränkte sich auf die Stabilhaltung der Preise durch hohe Zinssätze und die Beschränkung der Geldmenge. Dadurch zollten ihre Akteure einer Massenerfahrung Tribut, die durch die Hyperinflationen und Währungsschnitte der beiden verlorenen Weltkriege geprägt war. Binnenwirtschaftlich fiel dieser Restriktionskurs zunächst kaum auf, weil sich der Lohndruck in engen Grenzen hielt und sich die Unterordnung unter die US-amerikanische Zentralnotenbank dämpfend auswirkte.
Umso mehr schlugen die wachsenden Vorteile im europäischen Binnenverhältnis zu Buch. Die D-Mark erwarb den Ruf einer harten und soliden europäischen Ankerwährung. Sie musste seit Beginn der 1960er Jahre mehrfach aufgewertet werden, um die wachsenden Wettbewerbsvorteile gegenüber den übrigen EWG-Ländern und den internationalen Konkurrenten auszugleichen. Etwa zehn Jahre nach der EWG-Gründung war klar: Der Juniorpartner der französisch-deutschen Achse hatte nicht nur gleichgezogen. Er war auch allmählich dabei, zur führenden europäischen Wirtschaftsnation aufzusteigen.
Bundesbank macht Europa-Politik
Aber so weit war es noch lange nicht. Dass die Konstellation der gleichen Augenhöhe nicht – wie von den meisten Experten erwartet – ein oder zwei Jahrzehnte Bestand hatte, war einem externen Ereignis geschuldet: Der Weltwirtschaftskrise von 1973, die in eine zehnjährige Depression – den „Kondratiev-Winter“ von 1973-1982 – einmündete. Im Frühjahr 1973 zerfiel das auf der Gold-Parität des US-Dollars begründete System von Bretton Woods mit seinen festen, nur in periodischen Abständen korrigierten Wechselkursen. Im Herbst desselben Jahrs folgte der erste Ölpreisschock. Es kam zu massiven Währungsturbulenzen und Preissteigerungen, die heftige Arbeiterkämpfe auslösten und zu erheblichen Lohnerhöhungen führten. Gleichzeitig begann das Wirtschaftswachstum zu stagnieren. Die Wiederaufbauära war endgültig zu Ende. Die wirtschafts- und währungspolitischen Parameter mussten grundsätzlich neu justiert werden – auch und gerade in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.
In der nun einsetzenden Phase der Neuorientierung spielten sich die westdeutschen Herrschaftseliten nach vorn, und zwar in zwei Etappen, die durch die Jahre 1973/74 und 1979/80 markiert sind. In den ersten Jahren des Kondratiev-Winters nutzten sie die unverhofft entstandene Unabhängigkeit von den Zins-Vorgaben der US-amerikanischen Zentralbank, um die bisherige Politik der Geldwertstabilität zur alles beherrschenden Doktrin auszubauen. Den ersten Schritt dazu bildete die Flexibilisierung des Wechselkurses der D-Mark gegenüber dem US-Dollar m März 1973. Danach ging die Deutsche Bundesbank zu einer restriktiven Zinspolitik über, die sie mit einem Konzept der gedrosselten Ausweitung der Geldmenge verknüpfte, durch das die jährlichen Preissteigerungen mittelfristig unter der Obergrenze von 2 Prozent gehalten werden sollten. Die Folgen – Wirtschaftsstagnation und wachsende Erwerbslosigkeit – nahm ihr Direktorium billigend in Kauf. Es stellte sich in aller Offenheit gegen die nun anbrechende weltweite „Große Inflation“, während es die vor allem von Frankreich und den Benelux-Ländern ausgehenden Initiativen zu einer Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses durch die Etablierung einer vom Europäischen Parlament gewählten Wirtschaftsbehörde und eines „Europäischen Wechselkursverbunds“ stillschweigend sabotierte.
EWS als Probelauf für den Euro
Allerdings schlug diese erste „monetaristische“ Systematisierung der westdeutschen Restriktionspolitik noch nicht auf die gesamte Wirtschafts- und Finanzpolitik durch. Das war auch 1979/80 noch nicht der Fall, als die ökonomische Stagnation im Gefolge der zweiten Erdölkrise nochmals in eine Rezession umschlug. In dieser Situation ergriffen die Spitzenpolitiker der deutsch-französischen Achse erneut die Initiative und setzten die Etablierung eines „Europäischen Währungssystems“ durch, das faktisch eine auf den EWG-Raum begrenzte Kopie des Bretton Woods-Systems darstellte. Auf der Basis eines Währungskorbs der beteiligten Währungen wurde ein Buchgeld (ECU) geschaffen, das die EWG von den globalen Währungsturbulenzen abschottete. Gleichzeitig wurden die Wechselkurse der beteiligten Länder innerhalb einer gewissen Bandbreite gegeneinander fixiert. Da Westdeutschland nicht nur über die stabilste Währung verfügte, sondern inzwischen auch zur führenden europäischen Wirtschaftsmacht aufgestiegen war, avancierte die D-Mark zur Leitwährung. Das hatte zur Folge, dass sich die übrigen europäischen Zentralbanken von jetzt an der restriktiven Geldmengen- und Zinspolitik der Deutschen Bundesbank unterordnen mussten. Die Regierungen der EWG-Staaten gingen zu Beginn der 1980er Jahre dazu über, sich dem westdeutschen Stabilitätsregime durch eine erste Lohnsenkungs- und Deregulierungskampagne anzupassen. Dabei waren sie jedoch nur begrenzt erfolgreich. Um die nach wie vor bestehenden Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit auszugleichen, mussten sie ihre nationalen Währungen immer wieder gegen die D-Mark abwerten. Aber auch das half wenig weiter. Zuletzt wurde die zulässige Bandbreite der Wechselkursschwankungen auf 15 % erhöht, was einem faktischen Zusammenbruch des gemeinsamen Währungssystems nahekam. Das veranlasste die deutschen Akteure jedoch keineswegs zur Aufgabe ihres Restriktionskurses: Sie dachten nicht im Geringsten daran, den Vorrang ihrer nationalen Stabilitätsinteressen zugunsten eines ausgewogenen europäischen Homogenisierungsprozesses zurückzustellen.
Im Vergleich mit Frankreich, Italien und Spanien fielen die Auswirkungen des Restriktionskurses der Bundesbank auf die BRD selbst ziemlich moderat aus. Das hatte damit zu tun, dass die politische Klasse aller Schattierungen zu dieser Zeit noch nicht bereit war, die in den Wiederaufbaujahrzehnten gewachsenen Strukturen des sozialpartnerschaftlichen „rheinischen Kapitalismus“ aufs Spiel zu setzen. Im binnenwirtschaftlichen Kontext ließen sie nur die Blockade des weiteren Anstiegs der Lohn- und Sozialeinkommen zu. Dagegen führte die kontinuierliche Zunahme der Massenerwerbslosigkeit zu heftigen Auseinandersetzungen. Trotzdem blieb die „Autonomie der Währungshüter“ unangetastet, weil sie mit ihrer restriktiven Geld- und Preispolitik die inzwischen erreichte europäische Vormachtstellung zementierten. Ansonsten blieben die Akteure an den politischen Schalthebeln bis Ende der 1980er Jahre „beratungsresistent“ gegenüber allen Versuchen, die nachfrageorientierten Konzepte der Finanz- und Wirtschaftssteuerung aufzugeben und einen Schulterschluss zwischen den marktradikalen Angebotstheorien und dem in der Zentralbank verankerten Monetarismus zuzulassen.
Die Dominanz des Sachverständigen Giersch
Wahrscheinlich ist dieser zunächst begrenzt gebliebene Einfluss der Grund dafür, dass sich im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre in der westdeutschen Wirtschaftswissenschaft eine besonders radikale und kompromisslose Strömung des Marktradikalismus durchsetzte. Im Kern bestand sie aus „gewendeten“ Keynesianern, die die bisher betriebene antizyklische Nachfragesteuerung für das Fiasko der „Stagflation“ verantwortlich machten. Zu ihrem wichtigsten Exponenten stieg der Ökonom Herbert Giersch auf. Giersch war Mitbegründer des seit 1964 tätigen Sachverständigenrats der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, seit 1969 Lehrstuhlinhaber an der Universität Kiel und Präsident des ebenfalls in Kiel ansässigen Instituts für Weltwirtschaft. In diesen Funktionen dirigierte er bis Ende der 1980er Jahre das wichtigste ökonomische Forschungszentrum der BRD, bildete den wissenschaftlichen Spitzennachwuchs aus und agierte als informeller Kopf der „Wirtschaftsweisen“ an der entscheidenden Schnittstelle der ökonomischen Politikberatung. Er verfocht die Durchsetzung einer „spontanen Ordnung“, die er dann für erreicht hielt, wenn sich die gesamte Welt in einen globalen Markt verwandelte, auf dem die Wirtschaftsakteure ihre Innovationen anboten, während ihre Konkurrenz für einen permanenten Ausgleich der „relativen Preise“ sorgte. Waren diese Bedingungen erfüllt, dann ergab sich das Problem der kaufkräftigen Nachfrage von selbst. Folglich musste alles, was sich dieser spontanen Dynamik der Märkte in den Weg stellte, in einem unaufhörlichen Prozess der „schöpferischen Zerstörung“ aus dem Weg geräumt werden – allen voran die nach unten „rigiden“ Löhne, alle sozialpolitischen Regulierungen, und selbstverständlich auch alles, was den freien Kapital- und Devisenverkehr begrenzte. Für gesamtwirtschaftliche Regulierungsprozesse war in diesem Modell kein Platz mehr. Die Nationalökonomien waren überholt, letztlich aber auch alle Tendenzen zur supranationalen Blockbildung. Sie sollten sich zu zentralen Standorten des globalen Marktgeschehens zurückbilden, die Angebotsfunktionen der Unternehmen unterstützen und sich durch die Senkung der Arbeitskosten und Steuern sowie ein steigendes Innovationsangebot gegenseitig Konkurrenz machen. Letztlich war in dieser neuen, vor allem an Friedrich August von Hayek angelehnten ökonomischen Religion für die politische Klasse kein Platz mehr. Ihre Exponenten fanden nur Gnade, wenn sie der neuen Heilslehre wenigstens teilweise folgten. Da dies zunächst nur begrenzt der Fall war, hatte Giersch für sie nur Spott übrig. Über das Regime Helmut Kohls war er zuletzt bitter enttäuscht. Den sich allmählich konsolidierenden europäischen Integrationsprozess betrachtete er als „Eurosklerose“. Dank dieser klaren Worte und des längst wieder beendeten US-amerikanischen und britischen Flirts mit der monetaristisch untermauerten Angebotstheorie stieg Giersch zu einer internationalen Größe auf. 1986 wurde er zum Präsidenten des Jesuitenordens der Marktradikalen, der Mont Pelerin Society, gewählt.
Zuvor aber hievte Giersch seine Schüler und Anhänger an die wichtigen Schaltstellen der bundesdeutschen und zunehmend auch europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dabei kam es zum Schulterschluss mit den Vordenkern des Bundesbank-Monetarismus, allen voran Helmut Schlesinger und Otmar Issing, aber auch mit anderen Satrapen der monetaristischen Angebotstheorie, so etwa den in Bonn lehrenden Ökonomen Manfred M. Neumann und Axel Weber. Im Verlauf der 1980er Jahre war das Netzwerk geschlossen: Zusätzlich zu den Hochburgen von Forschung sowie zur Bundesbank nahmen die Jünger der neuen Wirtschaftsreligion Schlüsselpositionen in den Beiräten der Bundesministerien, in den von den Kapitalverbänden und Großbanken getragenen Stiftungen, in den Planungs- und Forschungsabteilungen der Großkonzerne und in den Wirtschaftsressorts der großen Medien ein. Es fehlte nur noch der Zugriff auf die entscheidenden politischen Machthebel. Mit Sorge beobachteten die Auguren der neuen Lehre gegen Ende der 1980er Jahre, dass sich eine weitere Verdichtung des europäischen Integrationsprozesses anbahnte, der unter der Regie des Präsidenten der EG-Kommission Jacques Delors auf eine Wirtschafts- und Währungsunion mit einer Einheitswährung und einer europäischen Zentralbank zusteuerte.
Anschluss DDR als Versuchsanordnung
Im Jahr 1990 kam es zu einem weiteren exogene Großereignis, das die in den Startlöchern sitzenden Marktradikalen überrollte und aufs Neue zu Statisten der politischen Klasse zu degradieren schien: Der Zerfall des Sowjet-Imperiums und das sich plötzlich öffnende strategische Fenster eines DDR-Anschlusses. Da niemand genau wusste, wie lang dieses Fenster geöffnet blieb, entschied sich die Kohl-Regierung, diesen Prozess mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu beschleunigen. Diesem Vorrang hatten sich auch die währungs- und wirtschaftspolitischen Instrumente unterzuordnen. Noch vor der politischen Einigung kam es zur Wirtschafts- und Währungsunion, denn vor allem die Gier nach den Segnungen der „starke D-Mark“ dämpfte bei der Mehrheit der DDR-Bevölkerung die Neigung, sich einem selbstbestimmten – und den westdeutschen Interessen zuwiderlaufenden – Erneuerungsprozess von Wirtschaft und Gesellschaft anzuvertrauen. Zur Förderung dieser Dynamik wurde die DDR-Währung vor ihrem Verschwinden noch einmal rasch aufgewertet. Dabei schlugen die westdeutschen Anschluss-Strategen zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen erlangte die breite Mehrheit der DDR-Bevölkerung einen erheblichen Anschluss-Bonus, zum anderen wurde die DDR-Wirtschaft schlagartig konkurrenzunfähig gemacht und konnte innerhalb kürzester Frist zu Ramschpreisen in die Hände überwiegend westdeutscher Kapitalgruppen überspielt (sowie bis auf wenige konkurrenzfähige Reste stillgelegt) werden. Parallel dazu kam es zu markanten Lohnerhöhungen. Ein Wirtschaftsboom war die Folge, der freilich auf Kosten des Zusammenbruchs der DDR-Ökonomie erkauft wurde. Um den Prozess der politischen Einverleibung nicht zu stören, wurden milliardenschwere öffentliche Transferleistungen erforderlich. Die Staatsverschuldung stieg rasant und führte zusammen mit der abrupt vergrößerten Kaufkraft der DDR-Bevölkerung zu einer gewaltigen Aufblähung des Geldvolumens.
Dieses Szenario widersprach in allen Punkten den Doktrinen der Angebots- und Stabilitätspolitik. Gleichwohl mussten ihre institutionellen Anhänger wegen der politischen Prioritäten gute Miene zum bösen Spiel machen. Sobald jedoch das politische Ziel – die Unwiderruflichkeit des DDR-Anschlusses – erreicht war, begannen sie massiv gegenzusteuern. Unter dem Applaus der Giersch-Schule erhöhte die Bundesbank die Leitzinsen 1992/993 auf knapp 9 Prozent und würgte die deutsch-deutsche Sonderkonjunktur wieder ab. Eine Rezession schloss sich an. Um die öffentliche Verschuldung wieder unter Kontrolle zu bringen, wurden die nach Ostdeutschland fließenden Transferleistungen reduziert und versteigt. Zusätzlich begannen erstmalig substanzielle Eingriffe in das Sozialbudget. Auch die Bezieher erwerbsabhängiger Einkommen mussten nun auf längere Frist die Gürtel enger schnallen. Auf diese Weise legten die Akteure des marktradikalen Monetarismus der politischen Klasse wieder Zügel an.
Genauso dramatisch waren aber auch die Auswirkungen auf die Europapolitik. Wie zu Beginn der 1980er Jahre demonstrierte die Bundesbank auch diesmal den Vorrang der nationalen Stabilisierungsinteressen vor den europäischen Integrationszielen. Es war klar, dass ein bis an die Zehnprozentgrenze heranreichender Leitzins der Ankerwährung das Europäische Währungssystem aufsprengen musste. Neuerliche Währungsturbulenzen und Abwertungen waren die Folge. Italien und Großbritannien traten sogar aus dem Währungsverbund aus – Italien bis 1996, Großbritannien für immer. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass die Frankfurter Zentralbanker auch diesmal einen möglichen Kollaps des europäischen Integrationsprozesses in Kauf nahmen.
Diesmal war ihre Option aber besonders brisant: Sie traf auf eine Konstellation, in der die französischen Partner der europäischen Achse auf eine Beschleunigung des Integrationsprozesses als Gegenleistung für ihre Tolerierung des um jeden Preis vorangetriebenen DDR-Anschlusses pochten; die Grundlagen dazu waren in einem nach dem Präsidenten der EG-Kommission benannten Kommissionsbericht geschaffen worden, der einen dreistufigen Übergang vom Europäischen Währungssystems zur Einführung einer Einheitswährung vorsah. Hinzu kam der Kollaps der Sowjetunion und Ostmitteleuropas, der die Chance einer imperialen Gebietserweiterung eröffnete. Das war aber aus französischer Sicht nur denkbar, wenn das wieder zur Großmacht aufgestiegene Deutschland nach der Ratifizierung des Zwei plus Vier – Vertrags auch währungs- und wirtschaftspolitisch gezähmt wurde. Unter dem Druck seiner Berater hatte sich der französische Präsident Francois Mitterrand gegenüber Kohl mit seiner Forderung durchgesetzt, bis zum Ende des Jahrzehnts eine Europäische Zentralbank zu gründen und eine Einheitswährung einzuführen.
An diesen Vorgaben konnten die das regulationspolitische Dreieck (Sachverständigenbeirat, Weltwirtschaftsinstitut und Bundesbank) kontrollierenden angebotsorientiertem Monetaristen nun nicht mehr vorbei. Sie machten einmal mehr gute Miene zum bösen Spiel und schickten sich an, den nun unwiderruflich werdenden Prozess der währungspolitischen Blockbildung nach den von ihnen diktierten Spielregeln zu gestalten. Dabei ging es ihnen vor allem darum, die Lehren aus dem Desaster des DDR-Anschlusses zu ziehen und eine sich aus den extrem unterschiedlichen Wettbewerbskonstellationen der beteiligten Wirtschaftsnationen ergebende Transfer-Logik zu vermeiden: Ausgleichszahlungen zugunsten der ärmeren Nationalökonomien sollten unter allen Umständen unterbleiben. Das war der Grundtenor des Maastrichter Vertrags zur Gründung der Europäischen Union von 1992, der rigorose Konvergenzbedingungen vorschrieb. Aber auch die sechs Jahre später gegründete Europäische Zentralbank war eine hundertprozentige Kopie der Bundesbank. Sie war von der EU-Kommission unabhängig, musste sich jeglicher monetärer Budgetfinanzierung enthalten und durfte nicht als „lender of last resort“ aktiv werden. Darüber hinaus wurde sie zu einer grundsätzlich restriktiven Geld- und Preispolitik mit einem Inflationsziel unterhalb der Zweiprozentgrenze verpflichtet.
E wie „Euro“ und „Expansion“
Zu Beginn des neuen Millenniums war die neu geschaffene Europäische Union funktionsfähig, wobei schon einige Jahre zuvor die imperiale Expansion in Richtung Ostmitteleuropa eingesetzt hatte. Ihre Kerngruppe führte die neue Einheitswährung, den Euro, ein. Der Rest verblieb in einem „Europäischen Währungssystem II“, das mit festen Wechselkursen auf den Euro als Leitwährung bezogen wurde. Für die Euro-Zone selbst begann nun eine Ära des faktischen Goldstandards. Wettbewerbsunterschiede konnten nicht mehr währungspolitisch durch die Auf- oder Abwertung der nationalen Währung ausgeglichen werden. Es gab nur noch die Alternative des interregionalen Finanzausgleichs oder die sogenannte innere Abwertung, nämlich die Absenkung des Lohnniveaus und der öffentlichen Ausgaben für Sozialtransfers, Bildungswesen, Gesundheitswesen usw.
Den deutschen Taktgebern des Integrationsprozesses waren diese Zusammenhänge bestens vertraut. Das veranlasste sie jedoch keineswegs, daraus die Konsequenzen zu ziehen und die Währungsintegration durch eine Homogenisierung der Arbeits- und Lohnbedingungen sowie der Produktivitätsentwicklung zu ergänzen. Das Gegenteil war der Fall. Die Startphase der europäischen Währungs- und Wirtschaftsunion fiel genau in jene Zeit, in der die deutschen Exponenten des marktradikalen Monetarismus die Schalthebel der politischen Macht endlich unter ihre Kontrolle brachten. Was ihnen die alt-sozialdemokratischen Keynesianer vom Schlag eine Willy Brandt oder Helmut Schmidt und der konservative Machtmensch Helmut Kohl versagt hatten, wurde ihnen nun unter der Ägide der Schröder-Fischer-Regierung uneingeschränkt zuteil.
Die Angebotspolitik avancierte zusammen mit dem Monetarismus zur Regierungsdoktrin, der „Standort Deutschland“ sollte bis zum Jahr 2010 „fit gemacht“ werden. Keine konservative Regierung hätte je gewagt, was zwischen 2001 und 2005 geschah. In einer bedrückend präzisen Systematik wurden die Arbeitsverhältnisse dereguliert, die Arbeitsentgelte gesenkt, die Sozialrenten heruntergefahren und das weit nach unten verlagerte Netz der sozialen Mindestsicherung mit neuen Techniken der Arbeitserzwingung gekoppelt. Ein Niedriglohnsektor wurde geschaffen, der heute über ein Viertel der Beschäftigtenquote umfasst. Die Folge war eine massive Senkung der Arbeitsentgelte im Verhältnis zur Arbeitsleistung, der Lohnstückkosten. Sie lief dem gesamteuropäischen Trend krass zuwider, verschärfte die ökonomischen Ungleichgewichte und unterminierte die Währungsunion nachhaltig.
Ganz andere Trends waren zu dieser Zeit in einigen anderen Ländern der Währungsunion zu beobachten. Insbesondere die peripheren Wirtschaftsnationen verfügten nach Jahrzehnten der kontinuierlichen Abwertung plötzlich über eine harte Währung, die aufgrund des zunächst wenig restriktiven Kurses der Europäischen Zentralbank zu günstigen Konditionen geliehen werden konnte. Es kam zu einem Kreditboom, an dem sich entweder die Unternehmen und Privathaushalte (Irland, Portugal, Spanien) oder die öffentlichen Budgets (Griechenland, Italien) beteiligten. Durch diese Verschiebung der Kapitalströme in die Richtung der weniger leistungsfähigen Mitgliedsstaaten wurden die sich extrem verschärfenden strukturellen Ungleichgewichte zwischen der von Deutschland angeführten Kernzone und den Peripherieländern verschleiert. Auf mittlere Sicht konnte das jedoch nicht gut gehen.
Wie wir wissen, hat die Weltwirtschaftskrise von 2007/2008, der Beginn des aktuellen Kondratiev-Winters, die von beiden Seiten vorangetriebene Unterminierung des de facto- Goldstandards schonungslos offen gelegt. Während sich die Wirtschaftsnationen der Kernzone vom ersten Schock rasch erholten und in die Stagnationsphase übergingen, verschärfte sich die Krise der Peripherieländer zu einer nach unten gerichteten Spirale, bei der steigende Massenerwerbslosigkeit, Entindustrialisierung, Wirtschaftsschrumpfung und Überschuldung ineinandergreifen. Unter der harten Hand der deutschen Taktgeber wurden die Mühlen der „inneren Abwertung“ in Gang gesetzt, denn der Finanzausgleich ist in der von den Deutschen erzwungenen Konstruktion der Europäischen Union nicht vorgesehen.
Was das für die Unterklassen bedeutet, habe ich einleitend geschildert. Inzwischen haben die Austeritätsprogramme die rote Linie des sozialen Massenverbrechens zu überschreiten begonnen. Trotzdem halten die verantwortlichen Akteure bis heute an ihrer rigorosen Umsetzung fest. Nur wenn sie weiter durchgeführt werden, können die betroffenen Regierungen mit Hilfsgeldern seitens der Europäischen Zentralbank, der EU-Kommission und des mit ins Boot geholten Internationalen Währungsfonds rechnen. Diese Finanzspritzen dienen ausschließlich der Systemstabilisierung, denn ein Zerfall der Euro-Zone – und mit ihr des gesamten europäischen Machtblocks – würde unkalkulierbare weltwirtschaftliche Kettenreaktionen auslösen.
Mittlerweile steht außer Zweifel: Der aus der ungleichen deutsch-französischen Partnerschaft gezimmerte europäische Machtblock droht an seinen grundlegenden strukturellen Konstruktionsfehlern auseinanderzubrechen. Sollen wir tatenlos zusehen und den Dingen ihren Lauf lassen, oder sollten wir versuchen, am Vermächtnis des linkssozialistischen Widerstands anzuknüpfen und eine radikale Kehrtwende auf die Tagesordnung zu setzen? Klar ist auf jeden Fall: Auf nationalstaatlicher Ebene gibt es nichts mehr zu holen. Ein dritter Weg könnte sich nur eröffnen, wenn wir den global denkenden und operierenden Anti-Europäern des marktradikalen Monetarismus eine globale Perspektive von unten entgegensetzen.
Karl Heinz Roth lebt in Bremen. Er ist Historiker, Mediziner und Vorstandsmitglied der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Er schrieb in Lunapark21 u.a. zur griechischen Geschichte. Zuletzt veröffentlichte er „Griechenland: was tun?“, Hamburg (VSA) 2012.