WSI: Tariflöhne steigen 2023 nominal um durchschnittlich 5,6 Prozent – Kaufkraft kann annähernd gesichert werden
„Die Tariflöhne in Deutschland steigen im Jahr 2023 nominal gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 5,6 Prozent. Die Zuwachsrate ist damit mehr als doppelt so hoch wie 2022, als die Tariflöhne lediglich um 2,7 Prozent anstiegen. (…) Die hohen Tarifzuwächse erfolgen vor dem Hintergrund einer nach wie vor sehr hohen Inflationsrate. Angesichts einer für das Gesamtjahr 2023 zu erwartenden Steigerung der Verbraucherpreise um 6,0 Prozent ergäbe sich hieraus ein durchschnittlicher Rückgang der tarifvertraglich vereinbarten Reallöhne von 0,4 Prozent. (…) „Allerdings bleiben die erheblichen Reallohnverluste der beiden Vorjahre, die nicht innerhalb einer einzigen Tarifrunde ausgeglichen werden können.“ …“ Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 7. Dezember 2023 und nun der endgültige Jahresbericht:
- WSI-Arbeitskampfbilanz: 2023 streikintensives Jahr, doch unter Höchststand von 2015 – Arbeitskampfvolumen international im unteren Mittelfeld
„2023 war im Vergleich der vergangenen zwei Jahrzehnte in Deutschland ein konfliktintensives Jahr. Sowohl die Zahl der Arbeitskämpfe als auch die durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage haben sich gegenüber 2022 deutlich erhöht. Wichtige und öffentlich stark beachtete Arbeitskämpfe zogen sich über Monate hin, zum Teil bis ins Jahr 2024. Gleichwohl blieb sowohl die Zahl der Streikteilnehmer*innen, als auch die Anzahl der ausgefallenen Arbeitstage unter dem Höchststand von 2015. Bei einzelnen Kenngrößen weisen auch noch einige andere Jahre seit 2006 überdurchschnittliche Werte auf (…). Das zeigt die neue Arbeitskampfbilanz 2023, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung heute vorlegt. Auch 2024 dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit „eher ein arbeitskampfintensives Jahr werden“, schreiben die Forschenden. Ob dabei die Werte des abgelaufenen Jahres übertroffen werden, sei aber durchaus noch offen. Viel werde vom Verlauf der Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie im Herbst abhängen. Im internationalen Vergleich bewegt sich Deutschland „trotz zunehmender Arbeitskämpfe immer noch lediglich im unteren Mittelfeld“, analysieren die Wissenschaftler*innen. In Ländern wie Belgien, Frankreich, Finnland, Kanada oder Dänemark ist das relative Arbeitskampfvolumen um ein Mehrfaches höher. So fielen beispielsweise nach den neuesten vorliegenden Zahlen pro 1000 Beschäftigte im mehrjährigen Mittel in Belgien 103 Arbeitstage pro 1000 Beschäftigte aus, in Kanada 83 und in Dänemark 53. In Deutschland waren es 18 (…)Durch die außergewöhnlich starke Inflation und dadurch verursachte Reallohnverluste war „eine Konstellation vorgegeben, die für die Tarifverhandlungen im Jahr 2023 auf eine besonders hohe Konfliktintensität hindeutete“, skizzieren die WSI-Fachleute Dr. Heiner Dribbusch, Prof. Dr. Thorsten Schulten, Marlena-Sophie Luth und Thilo Janssen den besonderen Hintergrund der aktuellen Tarifpolitik. Im Kern ging es 2023 um die Frage, „wie die Kosten der Inflation zwischen Kapital und Arbeit verteilt werden sollen“ – und das in einer Situation, in der die demografische Entwicklung in vielen Bereichen die Position von Arbeitnehmer*innen stärke. Für 2023 haben die Studienautor*innen insgesamt 312 Arbeitskämpfe ermittelt – 87 mehr als 2022. Rechnerisch fielen dadurch 1.527.000 Arbeitstage aus – mehr als doppelt so viele wie 2022. Etwas anders sah hingegen die Entwicklung bei der Streikbeteiligung aus: Wurden 2023 über alle Arbeitsniederlegungen hinweg insgesamt 857.000 Streikteilnehmer*innen gezählt, waren es 2022 rund 930.000 gewesen…“ Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 20. Juni 2024 zur 40-seitigen WSI Arbeitskampfbilanz 2023 von Heiner Dribbusch, Thorsten Schulten, Marlena Sophie Luth, Thilo Janssen - Jahresbilanz des WSI-Tarifarchivs: Reale Tariflöhne aktuell nur noch auf dem Niveau von 2016 – „Erheblicher Nachholbedarf“ dürfte Tarifrunde 2024 prägen
„Durch die starke Inflation in den vergangenen Jahren sind die realen Tariflöhne in Deutschland im Durchschnitt auf das Niveau von 2016 zurückgefallen. Die Kaufkraft der Tarifbeschäftigten lag Ende 2023 im Mittel sechs Prozentpunkte niedriger als 2020, was eine Folge der drastischen Reallohnverluste 2021 und insbesondere 2022 ist. Im vergangenen Jahr konnte die weiterhin hohe Inflation immerhin weitgehend ausgeglichen werden: Die Tariflöhne in Deutschland stiegen nominal gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 5,5 Prozent. Die Zuwachsrate ist damit mehr als doppelt so hoch wie 2022, als die Tariflöhne lediglich um 2,7 Prozent wuchsen. Bereinigt um die Inflation von 5,9 Prozent ergibt sich hieraus ein durchschnittlicher Rückgang der tarifvertraglich vereinbarten Reallöhne von 0,4 Prozent im Jahr 2023 (siehe auch Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). In dieser Berechnung kann die Wirkung der in vielen Branchen vereinbarten steuer- und abgabenfreien Inflationsausgleichsprämien allerdings nicht in vollem Umfang berücksichtigt werden. Bei einem Teil der Beschäftigten dürfte die finanzielle Bilanz daher positiver ausfallen (mehr unten). Das ergibt der neue Tarifpolitische Jahresbericht, in dem das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung das Tarifjahr 2023 analysiert und einen Ausblick auf 2024 gibt. (…) Insgesamt haben die DGB-Gewerkschaften in der Tarifrunde 2023 für rund 6,3 Millionen Beschäftigte neue Tarifverträge abgeschlossen. Verhandelt wurde unter anderem im öffentlichen Dienst, bei der Deutschen Bahn, der Deutschen Post sowie in unzähligen kleineren Tarifbereichen. Für weitere 9,2 Millionen Beschäftigte traten 2023 Lohnerhöhungen aus Tarifabschlüssen in Kraft, die bereits 2022 oder früher vereinbart worden waren. Darunter waren auch große Branchen wie die chemische Industrie oder die Metall- und Elektroindustrie. Die Laufzeiten der im Jahr 2023 neu abgeschlossenen Tarifverträge betrugen im Durchschnitt 23,3 Monate.
Zahlreiche Streiks mit hoher Beteiligung
Vor dem Hintergrund anhaltend hoher Inflationsraten lagen die Forderungen der Gewerkschaften 2023 deutlich über denen des Vorjahres. Sie reichten von 8 Prozent in der westdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie bis zu 15 Prozent bei der Deutschen Post. In vielen Branchen wurde zudem eine soziale Komponente gefordert, meist in Form eines zusätzlichen festen Betrags. Eine Einigung konnte teilweise erst nach umfangreichen Warnstreiks erzielt werden. (…)
Beschäftigte mit geringem Einkommen profitieren
Die Tarifabschlüsse des Jahres 2023 zeichnen sich nach Schultens Analyse durch drei Merkmale aus: Erstens erhielten die Beschäftigten in fast allen großen Branchen sogenannte Inflationsausgleichsprämien. Dabei handelt es sich um steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen, die den Beschäftigten im Vergleich zu einer regulären Tariferhöhung einen höheren Nettolohn und den Arbeitgebern niedrigere Arbeitskosten bescheren. Zweitens traten die tabellenwirksamen Lohnerhöhungen in Kombination mit den Inflationsausgleichsprämien häufig relativ spät in Kraft. Bei der Deutschen Post und im öffentlichen Dienst werden sie beispielsweise erst im Laufe des Jahres 2024 wirksam. Drittens verzeichneten die unteren Lohngruppen in den meisten Branchen überproportionale Lohnzuwächse. (…)
„Die steuer- und abgabenfreien Inflationsausgleichsprämien haben dazu beigetragen, dass Reallöhne für einen Teil der Beschäftigten nicht nur gesichert, sondern auch angehoben werden konnten. Eine wichtige kurzfristige Entlastung angesichts der Preisschocks, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine verursacht wurden“, sagt Schulten. Allerdings habe das Instrument auch eine Kehrseite: „Da es sich hierbei um Einmalzahlungen handelt, wirken sie sich mit ihrem Auslaufen in den Folgejahren stark dämpfend auf die Lohnentwicklung aus.“ (…)
Auf den ersten Blick erscheint der Anstieg der Tariflöhne 2023 außergewöhnlich hoch. Seit Anfang der 2000er-Jahre schwankten die nominalen Zuwächse nur zwischen 1,5 Prozent und 3,1 Prozent. Allerdings war die Inflationsrate in diesem Zeitraum nie so hoch wie in den letzten beiden Jahren. Trotz der hohen Tarifabschlüsse im Jahr 2023 liegt die Kaufkraft der Beschäftigten immer noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau, wie ein längerfristiger Vergleich zeigt…“ HBS-Pressemitteilung vom 13.02.2024 zu Tarifpolitischer Jahresbericht 2023: Offensive Tarifpolitik angesichts anhaltend hoher Inflationsraten , WSI-Tarifarchiv, Februar 2024.