Management im digitalen Kapitalismus: Wird die Lean Production von einem Amazonismus abgelöst?

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitSeit der Veröffentlichung von Chat GPT im Herbst 2022 wird wieder verstärkt darüber diskutiert, ob und wie künstliche Intelligenz menschliche Arbeitskraft ersetzen könnte. Dabei zeigt sich wieder, dass in der Debatte um die Digitalisierung der Arbeit der Fokus meist auf den technischen Möglichkeiten neuer Technologien liegt. Die Strategien des Managements, die entscheidenden Einfluss auf ihren Einsatz ausüben, werden jedoch meist kaum beachtet. (…) Die digitale Erfassung und Verarbeitung von Informationen und die Vernetzung durch das Internet schaffen neue Möglichkeiten für Geschäftsmodelle und einer Organisation der Arbeitsprozesse. Dabei zeigt sich in den Managementstrategien ein Trend zur Nutzung neuer Technologien, den ich unter dem Begriff Amazonismus zusammenfasse, weil sie an Amazon besonders prägnant zu erkennen sind. (…) Die kurzfristige und flexible Beschäftigungspolitik wird mit einem System der Interessenregulierung im Betrieb kombiniert, die eine relative Offenheit gegenüber informellem kollektiven Handeln der Beschäftigten und systematischem Union-Busting kombiniert…“ Artikel von Georg Barthel in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 10/2023:

Management im digitalen Kapitalismus

Wird die Lean Production von einem Amazonismus abgelöst? – von Georg Barthel[*]

Seit der Veröffentlichung von Chat GPT im Herbst 2022 wird wieder verstärkt darüber disku­tiert, ob und wie künstliche Intelligenz menschliche Arbeitskraft ersetzen könnte. Dabei zeigt sich wieder, dass in der Debatte um die Digitalisierung der Arbeit der Fokus meist auf den technischen Möglichkeiten neuer Technologien liegt. Die Strategien des Managements, die entscheidenden Einfluss auf ihren Einsatz ausüben, werden jedoch meist kaum beachtet. Die Anwendung neuer Technik wird durch etablierte Prozesse und Abläufe geprägt. Gleichzeitig können technische Möglichkeiten neue Geschäftsmodelle oder Konzepte der Betriebsorgani­sation ermöglichen oder befördern. Der Regulationstheorie zufolge dominieren in jeder histo­rischen Phase des Kapitalismus bestimmte Strategien, mit denen versucht wird, strukturelle Probleme der kapitalistischen Wirtschaft zu lösen. Sie werden auf der Ebene der Arbeits- und Betriebsorganisation, des Geschäftsmodells, der Wirtschafts- und Sozialpolitik und der gesell­schaftlichen Integration angewendet.

Paradigmatisch lässt sich dies am Fordismus nachzeichnen. Dieser entstand nach Einfüh­rung der Fließbandproduktion 1913 bei Ford in den USA und dauerte bis Anfang der 1970er Jahre an. Nach dem zweiten Weltkrieg etablierte er sich endgültig auch in Deutschland. For­dismus beruhte auf standardisierter Einfacharbeit. Die einfachen Beschäftigten wurden darauf beschränkt, vorgegebene Arbeitsabläufe auszuführen. Zusätzlich wurden sie durch den Rhyth­mus und die Geschwindigkeit des Fließbands und anderer Maschinen in ihrer Arbeit kontrol­liert. Planung und Gestaltung der Arbeit lagen dagegen fast ausschließlich beim Management. Das Geschäftsmodell des Fordismus beruhte auf standardisierter Massenproduktion, die die Kostenvorteile der Herstellung großer Mengen gleicher Güter ausnutzte. Die internationale Konkurrenz war zunächst beschränkt und die Produktion erfolgte vorrangig für den nationalen Markt. In den westlichen Industrieländern etablierte sich der Fordismus im Rahmen eines Klassenkompromisses, bei dem die Lohnerhöhungen an das Wachstum der Produktivität ge­koppelt wurden. Die Wirtschaftspolitik war keynesianisch geprägt und betrachtete die Löhne als wichtigen Faktor der Binnennachfrage. Der nationale Sozialstaat sicherte die Beschäftig­ten vor den größten Risiken der Erwerbstätigkeit ab. Die gesellschaftliche Integration wurde dadurch sichergestellt, dass die meisten zunehmend an allgemeinen Konsumstandards (u.a. Kühlschrank, Fernseher, Auto, Urlaub) teilnehmen konnten. Die Hochphase des Fordismus fällt mit dem starken Wirtschaftswachstum und dem Anstieg des Wohlstands nach dem Zwei­ten Weltkrieg zusammen.

Spätestens mit der Wirtschaftskrise 1973 trat die Krise des Fordismus offen zu tage. Sein Wachstumspotenzial war erschöpft, der Nachholeffekt nach dem Zweiten Weltkrieg war auf­gebraucht und die internationale Konkurrenz nahm zu. Starke Gewerkschaften konnten hohe Löhne erkämpfen, die die Profite reduzierten. Die Unternehmen sahen sich daher zur Reakti­on genötigt. Die Löhne galten nicht mehr als Nachfragefaktor im Binnenmarkt, sondern als Kostenfaktor in der globalen Konkurrenz. In Reaktion auf den wachsenden Konkurrenzdruck setzte eine Welle der Rationalisierung und Flexibilisierung der Produktion ein. In Schweden und Deutschland wurde mit Gruppenarbeit experimentiert, bei der die Beschäftigten die Ar­beit im Team selbst organisierten. In Japan entwickelte sich bereits seit den 1950er Jahren der Toyotismus, der die Einfacharbeit am Fließband beibehielt. Die einfachen Beschäftigten er­hielten hier jedoch eine beratende Funktion bei der Gestaltung der Arbeit im Rahmen des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses. Vor allem nach 1990 dominierte das vom Toyotis­mus inspirierte Lean Management die Produktion auch in der westlichen Welt, die just-in-time organisiert werden sollte und versuchte, individuelle Kundenwünsche zu befriedigen. Die Arbeitsbeziehungen wurden zunehmend fragmentiert. In Deutschland wurden die Stamm­belegschaften der großen Industriebetriebe nach wie vor durch Betriebsrat und Tarifvertrag organisiert und abgesichert. Daneben wurden durch Outsourcing, Subunternehmen, Leiharbeit und Werkverträge die sozialpartnerschaftlichen Beziehungen aufgeweicht oder umgangen. Zudem verlor die organisierte Industrie durch den Abbau von Stellen an Bedeutung gegen­über dem wachsenden Dienstleistungssektor, in dem der gewerkschaftliche Einfluss traditio­nell geringer war. Die Wirtschaftspolitik im Post-Fordismus wandte sich vom Keynesianis­mus ab und dem Neoliberalismus zu. In der Folge wurden staatliche Unternehmen privatisiert und auf die Selbstregulation der Märkte gesetzt. In der Sozialpolitik zeigte sich ein Wandel zum aktivierenden Sozialstaat, der den Druck auf die Beschäftigten erhöhen sollte, jede Form der Beschäftigung aufzunehmen. Die gesellschaftliche Integration erfolgte zunehmend über milieuspezifische Konsummuster und die Abkehr vom Gedanken, alle mitnehmen zu können.

Risse im Gebälk …

Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 zeigen sich Risse in der Dominanz der neolibe­ralen Dogmen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Derzeit zeigen sich neue Ansät­ze der staatlichen Industriepolitik in den USA und Europa, die angesichts der Krise die sozial-ökologische Transformation als Chance betrachten, den eigenen Wirtschaftsstandort fit für den Weltmarkt zu machen. In Deutschland zeigt sich mit der Einführung des Mindestlohns und des sogenannten Bürgergelds zumindest in Ansätzen, dass tendenziell vom Ziel abgerückt wird, den Faktor Arbeitskraft möglichst billig zu machen. In den letzten Jahren zeigen sich die Konturen des digitalen Kapitalismus. Die digitale Erfassung und Verarbeitung von Infor­mationen und die Vernetzung durch das Internet schaffen neue Möglichkeiten für Geschäfts­modelle und einer Organisation der Arbeitsprozesse. Dabei zeigt sich in den Managementstra­tegien ein Trend zur Nutzung neuer Technologien, den ich unter dem Begriff Amazonismus zusammenfasse, weil sie an Amazon besonders prägnant zu erkennen sind.

… oder ein neues Akkumulationsmodell?

Die Entstehung des Amazonismus als Geschäftsmodell kann am besten begriffen werden, wenn sie in die globale ökonomische Dynamik eingeordnet wird. Amazon wurde 1994, das heißt kurz nach dem Ende der Sowjetunion und der massiven Ausweitung des globalen Welt­marktes gegründet. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Entwicklung Chinas zur Werkbank der Welt in den folgenden Jahren. Gleichzeitig bleiben die mit der Digitalisierung verbundenen Versprechen massiver Produktivitätszuwächse in der Produktion bisher aus. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich die Digitalisierung weniger auf die Wertschöpfung als auf die Wertrealisierung, etwa in Form von Werbung, Verkauf und Logistik. In dieser Situati­on ist die zentrale Strategie der Kapitalakkumulation im digitalen Kapitalismus weniger die Rationalisierung der Produktion für den Markt als vielmehr der Versuch, den Markt und da­mit die Wertrealisierung zu kontrollieren.

Amazon ist dafür das paradigmatische Beispiel. Das Unternehmen ist nicht nur der größte Onlinehändler der westlichen Welt, sondern zugleich der größte Online-Marktplatz. Mehr als die Hälfte der über seine Plattform verkauften Produkte stammen von Dritthändlern. Die Dritthändler müssen mittlerweile 44 Prozent ihrer Erlöse an Amazon abtreten, wenn sie die gesamten Dienstleistungen des Unternehmens in Kauf nehmen wollen. Amazon nutzt seine Marktkontrolle aus, indem es Unternehmen abstraft, die auf anderen Onlinemarktplätzen Arti­kel billiger als bei Amazon anbieten. Generell zahlen Händler acht bis 15 Prozent Provision, wenn sie auf dem Online-Marktplatz von Amazon verkaufen. Der Anteil vom Umsatz, den Händler an Amazon abtreten müssen, wenn sie weitere Dienstleistungen wie Lagerung, Ver­sand und Werbung in Kauf nehmen, ist von 2016 bis 2022 von ca. 35 Prozent auf über 50 Prozent gestiegen. Wenn sie Prime-Lieferungen in Anspruch nehmen wollen, müssen sie die gesamte Logistikdienstleistung inkl. Lagerung, Verpackung und Transport in Anspruch neh­men. Werbung nimmt zudem für Amazon eine immer größere Rolle ein und bildet mittlerwei­le sieben Prozent des Gesamtumsatzes des Unternehmens. Werbung ist dabei eine zentrale Strategie der Abschöpfung der Wertproduktion, weil sie keine Werte schafft, sondern zwi­schen Produzent:innen und Kund:innen vermittelt. Auch die anderen großen IT-Konzerne set­zen vor allem auf die Abschöpfung der Wertproduktion, indem sie den Zugang zu den Kund:innen über diese Vermittlung kontrollieren. Alphabet (Google, Youtube) und Meta (Facebook, Instagram, Whatsapp) stehen für knapp die Hälfte aller digitalen Werbeeinnahmen in den USA. Apple und Alphabet kassieren zudem bis zu 30 Prozent der Umsätze, die Anbie­ter:innen in ihren App-Stores mit den Apps machen.

Das Geschäftsmodell von Amazon verfolgte entsprechend der Lean Production einer abso­luten Kundenorientierung. Im Kampf um Marktanteile sollten andere Unternehmen ausgesto­chen und die Kund:innen langfristig an den eigenen Onlinemarkt gebunden werden. Daher versprach Amazon die niedrigsten Preise, das größte Angebot, die schnellste Lieferung und die größten Kulanz gegenüber Kund:innen etwa bei Retouren. Dafür wurden jahrzehntelang Verluste in Kauf genommen und die Einnahmen in die permanente Expansion investiert. So erzielte das Unternehmen das erste Mal im vierten Quartal 2017 mit 1,856 Mrd. Dollar einen am Umsatz gemessenen nennenswerten Gewinn. Mit der langfristigen Orientierung auf die Marktkontrolle setzte sich Amazon von der kurzfristigen Orientierung auf Quartalsergebnisse und Dividenden im Shareholder Value-Kapitalismus des Postfordismus ab.

Diese Geschäftsstrategie konnte nur gelingen, weil das Unternehmen gleichzeitig systema­tisch sein Logistiknetzwerk rationalisierte und ausweitete. Damit stand das Unternehmen im Zeichen der logistischen Revolution, die verstärkt in den 1990er Jahren einsetzte und die Lo­gistik zum zentralen Faktor in der globalen Konkurrenz machte. Walmarts Aufstieg zum nach Umsatz größten Unternehmen der Welt beruhte wesentlich auf der effektiven Kontrolle der Unternehmen in seiner Lieferkette. Amazon übernahm das Konzept und ging einen Schritt weiter, in dem es immer weitere Teile der Lieferkette in das Unternehmen integrierte und selbst organisierte. Am Anfang organisierte es zunächst die sogenannten fulfillment center (FC) oder Logistikzentren, in denen die Artikel gelagert, kommissioniert, verpackt und in LKW verladen wurden. Die Auslieferung in Deutschland überließ es Logistikdienstleistern wie DHL und Hermes. Da Amazon schneller expandierte, als die Dienstleister nachkommen konnten, organisierte das Unternehmen zunehmend weitere Teile der Lieferkette und baute in Deutschland Sortierzentren, Verteilzentren und Subunternehmen für die Auslieferung auf. Mittlerweile kontrolliert das Unternehmen die gesamte Lieferkette von den Produzent:innen bis zu den Kund:innen selbst.

Grundlage für den Erfolg der Logistik von Amazon bildet eine Arbeits- und Betriebsorga­nisation, die auch über Amazon hinaus anzutreffen ist. Angesichts geringer Profit-Margen in der Logistik ist der Druck hier besonders groß, die Arbeitsprozesse zu rationalisieren. Die Ar­beitsorganisation in den Logistikzentren basiert auf standardisierter Einfacharbeit. Die Tätig­keiten werden so stark vereinfacht, dass es möglich ist, sie innerhalb weniger Stunden zu ler­nen. Digitale Arbeitsmittel führen die Beschäftigten durch den Arbeitsprozess. Anomalien im Arbeitsprozess werden an Spezialpositionen delegiert, deren Tätigkeit wiederum standardi­siert und durch digitale Arbeitsmittel gesteuert wird. Die Handscanner zeigen den Beschäftig­ten den Weg zum nächsten Artikel, der den Regalen entnommen werden soll. An den Packsta­tionen befinden sich Bildschirme, die anzeigen, welcher Karton verwendet werden soll, wenn ein Artikel gescannt wird. Entsprechend der Lean Production gibt es durchaus Ansätze, die einfachen Beschäftigten zumindest in beratender Funktion in die Planung und Gestaltung der Arbeit einzubeziehen. Faktisch werden die Vorschläge und Ideen der Beschäftigten meist je­doch nicht berücksichtigt. In den USA gab es bis 2018 und in Deutschland bis 2022 Aktien und zusätzlich einen kollektiven Bonus, die die Beschäftigten dazu motivieren sollten, sich im Eigeninteresse und im Interesse des Unternehmens zu verausgaben. Generell wird jedoch ver­sucht, die Beschäftigten durch Druck zur Arbeit anzuspornen. Die digitale Erfassung jedes Arbeitsschritts ermöglicht den Vorgesetzten, die Arbeit der Beschäftigten zu überwachen. Diese müssen daher jederzeit mit einer Intervention der Vorgesetzten rechnen, wenn sie län­gere Zeit inaktiv waren oder unter dem Leistungsdurchschnitt ihrer Abteilung liegen.

Die Organisation des Arbeitsprozesses mit massenhafter Einfacharbeit und Überwachung wird kombiniert mit einer kurzfristigen und flexiblen Beschäftigungspolitik. Ein Betriebsrat der ver.di-Liste beschreibt die dahinter liegende Logik folgendermaßen:

»[W]er [Lohn-]Level eins hat, ist austauschbare Materie. Der Level-1er hat für Amazon kein Gesicht. Der, der unten an der Bandanlage steht, ist Verschleißmaterial.
 Wenn der aufgebraucht ist, schmeiße ich ihn raus und stelle einen neuen hin.«

Die kurzfristige Beschäftigungspolitik soll neue Arbeitskräfte mit Löhnen am oberen Rand für vergleichbare Tätigkeiten anziehen. Seit 2023 liegt der unternehmenseigene Mindestlohn bei 14 Euro pro Stunde. Sie zielt jedoch nicht darauf ab, die Beschäftigten langfristig an das Un­ternehmen zu binden, wie das im Fordismus oder bei Toyota der Fall war. Die Löhne steigen entsprechend nur nach dem ersten und dem zweiten Jahr. Unzufriedenen Beschäftigten wird eine Vertragsauflösung mit einer Prämie oder einer mehrmonatigen bezahlten Freistellung schmackhaft gemacht. Zudem setzt Amazon systematisch auf flexible Beschäftigung. In neu­en Standorten werden die einfachen Beschäftigten bis zu zwei Jahre mit befristeten Verträgen angestellt. Später pendelt sich ein Wert von 25 bis 30 Prozent Befristeten an der Gesamtbeleg­schaft ein, der im Weihnachtsgeschäft durch zahlreiche Saisonkräfte stark ansteigt. Leiharbeit wird zwar nicht in den Logistikzentren, dafür in den anderen Teilen des Logistiknetzwerkes wie Verteilzentren oder dem Air Hub in Leipzig, in dem Amazon eigene Flugzeuge belädt, eingesetzt.

Die kurzfristige und flexible Beschäftigungspolitik wird mit einem System der Interessen­regulierung im Betrieb kombiniert, die eine relative Offenheit gegenüber informellem kollek­tiven Handeln der Beschäftigten und systematischem Union-Busting kombiniert. Wenn Be­schäftigte sich mit Petitionen, spontanen Protesten oder kurzen Arbeitsniederlegungen für ein­zelne Anliegen einsetzen, verhandelt das Unternehmen teilweise und verzichtet auf Repressio­nen. In Leipzig setzten sich Beschäftigte ohne Gewerkschaft und Betriebsrat mit einer Petition und Hartnäckigkeit erfolgreich dafür ein, dass über 1.000 Transportwagen mit einem fünften Rad nachgerüstet wurden. Dadurch wurde es sehr viel ergonomischer, sie in den engen Gän­gen der Regalreihen zu manövrieren. In den USA waren Aktivist:innen der Amazonians Uni­ted überrascht, dass Amazon weniger mit Repression als mit Verhandlungen und Zugeständ­nissen auf ihre direkten Aktionen reagierte. Gegen Versuche, die Arbeitsbeziehungen bei Amazon durch Verträge mit Gewerkschaften zu formalisieren, reagiert Amazon dagegen mit massivem Union Busting:

»Für die sind Gewerkschafter schlimm,
aber gewerkschaftliche Betriebsräte [sind] für die [Manager:innen von Amazon] der absolute Hass. Das ist einfach so und  das wird auch immer so bleiben.«
(Betriebsrätin Leipzig 2020)

In der Praxis bedeutet dies, dass streikende oder gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:in­nen schlechtere Tätigkeiten zugewiesen werdeen und ihre Hoffnung auf einen Aufstieg im Unternehmen aufgeben müssen, der jedoch generell sehr schwierig ist. Zudem versucht Ama­zon, Ansätze der gewerkschaftlichen Organisierung zu brechen, indem es betrieblichen Akti­vist:innen kündigt. Die bekanntesten Fälle sind hier Chris Smalls in New York in den USA, Magda Malinowska in Poznan in Polen und Rainer Reising in Achim in Deutschland.Schließ­lich etabliert Amazon eine Unternehmenskultur, die die Kultur von Start-Ups auf einen Welt­konzern auszudehnen versucht. Wie der Slogan »Work hard. Have fun. Make history«, der in allen Logistikzentren groß an einer Wand steht, zum Ausdruck bringt, sollen permanente Leistungssteigerung und Spaß kombiniert werden. Die Beschäftigten sollen sich als »leader« begreifen, die ihr Handeln an den Kundenwünschen ausrichten. Dabei gilt permanente Inno­vationsfreudigkeit und Leistungsbereitschaft als Maxime. Kombiniert wird dies mit Locker­heit im alltäglichen Umgang. Alle bis hin zur Geschäftsleitung duzen sich, es wird Alltags­kleidung getragen, in den Kantinen stehen Tischkicker und andere Spiele und regelmäßig gibt es Gemeinschaftsevents wie Trikot- oder Kostümtage oder Konzerte. Die Unternehmenskul­tur scheint bei einigen Arbeiter:innen durchaus zu verfangen. Der Widerspruch zwischen den Forderungen nach eigenständigem Denken und dem Einbringen in die Arbeit durch die Unter­nehmenskultur und die tatsächliche Organisation der Arbeit und die betriebliche Hierarchie lässt sie jedoch weitgehend ins Leere laufen oder motiviert gewerkschaftlich Aktive.

Diese Strategien von Amazon lassen sich als Amazonismus verallgemeinern. Das Ge­schäftsmodell des Amazonismus setzt weniger auf die Rationalisierung der Produktion für den Markt als auf die Kontrolle des Marktes und damit die Abschöpfung der Wertproduktion. Im Betrieb lässt sich Amazonismus als Einfacharbeit und Überwachung, eine kurzfristige und flexible Beschäftigungspolitik, eine gewisse Offenheit gegenüber informellem Handeln, eine Start-Up-Kultur und Repression gegen Gewerkschaft zusammenfassen. Dieses Bündel von Managementstrategien lässt sich nicht nur bei Amazon, sondern zunehmend auch in anderen Unternehmen, z.B. den Lieferdiensten (Lieferando, Gorillas, etc.), antreffen. Ob Amazonis­mus ein Trend im digitalen Kapitalismus unter vielen bleiben oder sich zur dominanten Stra­tegie einer ganzen Epoche wie der des Fordismus entwickeln wird, ist bisher offen. Fordismus wird heute rückblickend mit Sozialpartnerschaft und Sozialstaat assoziiert. Tatsächlich brauchte es mehrere Jahrzehnte intensiver und militanter Arbeitskämpfe, bevor Ford in den 1940er Jahren Gewerkschaften als Verhandlungspartner akzeptierte. Deren Slogan lautete in den 1930er Jahren entsprechend noch »Unionism, not Fordism!«.

Amazon als exemplarischer Vertreter des Amazonismus sieht sich auf verschiedenen Ebe­nen massivem Protest und Widerstand ausgesetzt. In den Betrieben kämpfen die Beschäftig­ten unter dem Slogan »Wir sind keine Roboter!« vor allem gegen die Organisation des Ar­beitsprozesses, aber auch für höhere Löhne und gegen prekäre Beschäftigung. In Deutschland streiken die Kolleg:innen bei Amazon seit zehn Jahren immer wieder, um das Unternehmen zu Verhandlungen oder Verbesserungen zu zwingen. Auch in anderen Ländern wie Italien, Frankreich, Großbritannien, Polen, den USA oder der Türkei kam es bereits zu größeren Pro­testen, spontanen Arbeitsniederlegungen oder Streiks. Darüber hinaus steht Amazon in der Kritik, nicht ausreichend Steuern zu zahlen. In den USA erhob am 26. September 2023 die Federal Trade Commission eine Anti-Trust-Klage gegen Amazon, weil es seine Kontrolle des Onlinemarktplatzes zu Ungunsten der Händler:innen einsetzt. Umweltverbände wie Green­peace kritisieren die massiven ökologischen Probleme, weil das Geschäftsmodell von Amazon mit einem verstärkten Verkehrsaufkommen, der massenhaften Vernichtung von unverkauften Artikeln und enormen Mengen an Verpackungsmüll verbunden ist. In den USA und Deutschland gibt es zum Teil massiven Widerstand gegen die Errichtung von neuen Standorten des Unternehmens. Dabei wird gegen die Belastung durch verstärkten LKW-Verkehr aus den Logistikzentren genauso wie gegen Gentrifizierung durch Bürogebäude für hochbezahlte Angestellte protestiert.

Angesichts dieses Widerstands ist daher keineswegs ausgemacht, wie sehr sich Amazon und damit der Amazonismus in den nächsten Jahren entwickeln wird. Im Fordismus konnten die Gewerkschaften ihre Anerkennung durch General Motors und Ford durchsetzen, weil die Arbeiter:innen über massive strukturelle Macht verfügten. In der Automobilindustrie war es möglich, durch die Bestreikung oder Blockade eines Bandabschnitts eine ganze Fabrik und darüber hinaus zum Teil die ganze Wertschöpfungskette stillzulegen. Bei Amazon gelingt es fast überall nur eine Minderheit oder eine knappe Mehrheit der Belegschaften zu organisieren und vom Streik zu überzeugen. Das liegt nicht zuletzt am Union-Busting von Amazon. Wenn eine Minderheit streikt, können die Logistikzentren jedoch mit reduzierter Kapazität weiter­laufen. Wenn ein Standort bei Amazon bestreikt wird, besteht für das Unternehmen zudem die Möglichkeit, die Lieferungen in anderen Standorten zu bearbeiten. In Deutschland wird die Macht der Streikenden nicht nur durch die nichtstreikenden Kolleg:innen und Standorte unter­laufen, sondern auch durch die Logistikzentren in Polen. Es ist daher höchstwahrscheinlich nur möglich, Amazon zur Anerkennung der Gewerkschaften und massiven Zugeständnissen zu zwingen, wenn militante Mittel wie die Blockade von Zufahrten mit einer breiten gesell­schaftlichen Mobilisierung auf internationalem Level kombiniert werden.

Artikel von Georg Barthel in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 10/2023

* Georg Barthel ist Soziologe, schrieb seine Dissertation zum Amazonismus, ist derzeit an der Universität Aalborg in Dänemark beschäftigt, lebt in Leipzig und ist langjähriger Unterstützer des Arbeitskampfes bei Amazon.

Anm. d. Red.: Während dieser Beitrag entstand, trafen sich erneut polnische und deutsche Amazon-Kolleg:innen zum Austausch. Ein Bericht darüber folgt in einer der kommenden Aus­gaben des express.

Siehe u.a. zum Hintergrund im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=215695
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