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155. Jahreskonferenz des britischen Gewerkschaftsbundes TUC: TUC, Labour und die Verteilungskämpfe in Großbritannien

TUC Congress 2023, 10-13 SeptemberVom 10. bis 13. September 2023 findet in Liverpool die 155. Jahreskonferenz des britischen Gewerkschaftsbundes TUC statt. Die Dachorganisation vereint nach eigenen Angaben 48 Mitgliedsverbände, in denen insgesamt 5,5 Millionen „arbeitende Menschen“ zusammengeschlossen sind. Die Konferenz bzw. dieser „Kongress“, wie er offiziell auch genannt wird, findet vor dem Hintergrund einer Streikwelle für Lohnerhöhungen in besser Arbeitsbedingungen statt, die in den letzten Monaten ein Ausmaß erreichte wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. (…) Wichtig für den Kontext dieses Klassenkampfes auf der Insel ist allerdings auch die politische Lage: Die regierende Konservative Partei steckt in einer tiefen Krise (…) Die allzu unternehmerfreundliche Linie von Sir Starmer sorgt allerdings selbst bei der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsbürokratie für einiges Unbehagen, wie TUC-Boss Paul Nowak der „Financial Times“ in einem Interview anvertraute. Seine (alles andere als radikalen) Ansichten und Forderungen fasste die Stimme der Londoner City in folgendem, von uns übersetzten, offenkundig recht wohlwollenden Artikel vom 7.9.2023 zusammen…“ Aus dem Vorwort des Gewerkschaftsforums Hannover vom 10.9.2023 zu deren Übersetzung – siehe im Beitrag auch weitere Informationen zum TUC-Kongress:

TUC, Labour und die Verteilungskämpfe in Großbritannien

Liebe Kolleginnen & Kollegen!

Vom 10. bis 13. September 2023 findet in Liverpool die 155. Jahreskonferenz des britischen Gewerkschaftsbundes TUC statt. Die Dachorganisation vereint nach eigenen Angaben 48 Mitgliedsverbände, in denen insgesamt 5,5 Millionen „arbeitende Menschen“ zusammengeschlossen sind.

Die Konferenz bzw. dieser „Kongress“, wie er offiziell auch genannt wird, findet vor dem Hintergrund einer Streikwelle für Lohnerhöhungen in besser Arbeitsbedingungen statt, die in den letzten Monaten ein Ausmaß erreichte wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Zum Teil gibt es inzwischen Tarifabschlüsse, die jedoch nicht selten Einkommensverluste bedeuten, zum Teil (z.B. im Gesundheitswesen und im Transportsektor) dauern die Kämpfe weiter an. Ein großer Mangel war und bleibt, dass sich der TUC als unfähig oder unwillig erwies, die verschiedenen Auseinandersetzungen in einer einheitlichen, umfassenden Mobilisierung zu vereinen und ihnen so eine ganz andere Stärke und Durchsetzungskraft zu verleihen.

Wichtig für den Kontext dieses Klassenkampfes auf der Insel ist allerdings auch die politische Lage: Die regierende Konservative Partei steckt in einer tiefen Krise. Sie hatte in den letzten Jahren einen hohen Verschleiß an Parteichefs und Premierministern (David Cameron – Theresa May – Boris Johnson – Liz Truss – Rishi Sunak) und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit bis den nächsten, spätestens Ende Januar 2015 stattfindenden, Unterhauswahlen von der Labour Party an der Regierung abgelöst werden.

Die sozialdemokratische Opposition ist allerdings, nach dem gescheiterten Intermezzo des Linken Jeremy Corbyn als Labour-Chef von 2015 – 2020, inzwischen unter der Leitung von Sir Keir Starmer immer weiter nach rechts, in die sog. Neue Mitte, gerückt und versucht ganz offen eine Neuauflage der Linie des neoliberalen Ex-Regierungschefs und Irak-Kriegsverbrechers Tony Blair (Regierungschef von 1997 – 2007). Blair-treue Abgeordnete und ehemalige Minister, wie Pat McFadden, Hilary Benn, Liz Kendall, Darren Jones und Peter Kyle beförderte Starmer Anfang September in Schlüsselpositionen seines „Top Teams“, wie die „Financial Times“ am 4.9.2023 berichtete („Keir Starmer hands Blairite MPs key roles in Labour reshuffle“).

Dieser Kurs erfreut sich in Kreisen der britischen Bourgeoisie selbstverständlich wachsender Zuneigung. Die herrschende Klasse sieht in der neuerlichen „New Labour Party“ einen notwendigen Ersatz für die abgewirtschafteten, ideenlosen, skandalgeschüttelten und reformunfähigen Tories, die dann in der Opposition „genesen“ könnten.

Ablesbar ist das auch auf der finanziellen Ebene: Allein von April bis Juni 2023 überwiesen private Spender Starmers Partei 6,5 Millionen Sterling. Insgesamt erhielt Labour 10,5 Millionen Pfund an Zuwendungen und lag damit nur knapp hinter den Tories, die 10,9 Mio. einsackten (siehe: „Financial Times“ vom 7.8.2023, „Labour raises £ 6.5 mn from private donors in second quarter“). Das ist auch insofern bedeutend als traditionell die britischen Gewerkschaften wichtigster Geldgeber „ihrer Arbeitspartei“ waren und so auch ihr materieller Einfluss auf Labour sinkt…

Die allzu unternehmerfreundliche Linie von Sir Starmer sorgt allerdings selbst bei der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsbürokratie für einiges Unbehagen, wie TUC-Boss Paul Nowak der „Financial Times“ in einem Interview anvertraute. Seine (alles andere als radikalen) Ansichten und Forderungen fasste die Stimme der Londoner City in folgendem, von uns übersetzten, offenkundig recht wohlwollenden Artikel vom 7.9.2023 zusammen.

GEWERKSCHAFTSFORUM HANNOVER

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„Financial Times“  7. September 2023

Gewerkschaftschef fordert Vermögenssteuer, um die „ungezügelte“ Ungleichheit in Großbritannien zu bekämpfen

Paul Nowak vom TUC fordert von der Labour-Partei ein „nationales Gespräch“ über Steuern

Jim Pickard + Delphine Strauss in London

Das Vereinigte Königreich sollte eine Vermögenssteuer erheben, um die „ungezügelte“ Ungleichheit zu bekämpfen, so der Vorsitzende des Dachverbands der britischen Gewerkschaftsbewegung, der damit implizit der Labour-Partei entgegentritt, die eine solche Politik in der vergangenen Woche ausgeschlossen hat.

In einem Interview mit der Financial Times forderte Paul Nowak, Generalsekretär des Trades Union Congress, ein „nationales Gespräch über die Besteuerung von Übergewinnen und Vermögen“ vor dem Hintergrund steigender Managergehälter und durchschnittlicher Reallöhne, die immer noch niedriger sind als im Jahr 2008.

„Angesichts des sinkenden Lebensstandards, des Niedergangs der öffentlichen Dienste und der ungezügelten Vermögensungleichheit in allen Teilen des Landes muss eine faire Besteuerung ein wichtiger Bestandteil eines umfassenderen Maßnahmenpakets sein, das dazu beiträgt, dass die Wirtschaft wieder für die arbeitenden Menschen funktioniert“, sagte er.

Vor dem Beginn der TUC-Jahreskonferenz in Liverpool am Sonntag zitierte Nowak Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Opinium, die eine starke öffentliche Unterstützung für höhere Steuern auf Kapitalgewinne und „überschüssige“ Unternehmensgewinne zeigen. 61 Prozent der Menschen wollen, dass reiche Menschen mehr an den Fiskus zahlen.

Nur 4 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass die Wohlhabenden weniger Steuern zahlen sollten, während 72 Prozent der Befragten meinten, dass die Kapitalertragssteuer zumindest auf das Niveau der Einkommenssteuer angehoben werden sollte.

Die Labour-Partei, die von den meisten großen Gewerkschaften umfangreiche Spenden erhält, schloss letzte Woche die Einführung von Vermögenssteuern aus, falls sie die regierende konservative Partei bei den für nächstes Jahr erwarteten Parlamentswahlen besiegen sollte.

Die Zusage von Schattenkanzlerin Rachel Reeves war der jüngste Hinweis auf den Versuch des Parteivorsitzenden Sir Keir Starmer, die Partei in einem „zentristischen“ ((d.h. in der politischen Mitte angesiedelten)) Stil wieder aufzubauen, ähnlich dem von Tony Blair, dem letzten Labour-Führer, der 2005 die Macht gewann.

Nowak sagte, er begrüße einige der Steuerpläne der Partei, wie z.B. das Versprechen, den Steuerstatus für Nicht-Domizilierte abzuschaffen und die Mehrwertsteuerbefreiung für Privatschulen zu beenden, aber es sei noch ein „umfangreicheres Gespräch“ notwendig.

„Jede neue Labour-Regierung wird sich mit der Notwendigkeit auseinandersetzen müssen, die öffentlichen Dienste zu reparieren und zu erneuern. … durch das Wachstum der Wirtschaft … aber auch durch die effektive Besteuerung von Reichtum“, sagte er und wies darauf hin, dass es einen Präzedenzfall gebe, bei dem sogar ein konservativer Kanzler (Nigel Lawson im Jahr 1988) die Kapitalertragssteuer mit der Einkommenssteuer gleichgesetzt habe.

„Die Leute kaufen Whisky für 300.000 Pfund, und unsere Mitglieder können die Rechnungen nicht bezahlen. Irgendetwas muss passieren.“

Im Juli verwässerte das nationale Politikforum der Labour-Partei das Maßnahmenpaket der Partei für die Beschäftigungsförderung als Teil umfassenderer Bemühungen, Unternehmenschefs für sich zu gewinnen.

Unter anderem verwässerte es die für 2021 zugesagte Einführung eines einheitlichen Arbeitnehmerstatus für alle (mit Ausnahme der wirklich Selbstständigen), wobei die Labour-Partei nun über den Vorschlag beraten soll, anstatt ihn sofort einzuführen.

Die Gewerkschaft Unite the Union (der größte Langzeitspender von Labour) hat die Partei auch dafür kritisiert, dass sie ihr Versprechen, Null-Stunden-Arbeitsverträge zu verbieten, dahingehend präzisiert hat, dass sie nur gegen „ausbeuterische“ Formen von Gelegenheitsverträgen vorgehen werde.

Nowak sagte, er stehe dieser Änderung gleichgültig gegenüber und merkte an, dass einige Arbeitnehmer (inklusive der Kreativindustrie) froh seien, flexible Verträge zu haben, solange sie nicht „ausbeuterisch“ seien.

Er fügte hinzu, dass der von der Labour Party vorgeschlagene New Deal dennoch „transformativ“ für die Arbeitnehmer wäre, wenn er ein Verbot zwanghafter „Entlassungs- und Wiedereinstellungs“-Praktiken, volle Beschäftigungsrechte ab dem ersten Arbeitstag und einen neuen Rahmen für Tarifverhandlungen über branchenweite Standards für Löhne und Arbeitsbedingungen vorsehen würde.

Die Gewerkschaften haben im vergangenen Jahr eine historische Welle von Arbeitsniederlegungen wegen Gehaltsfragen angeführt, vor allem im öffentlichen Sektor, aber einige Gruppen (wie z. B. die Lehrer) einigten sich vor kurzem mit den zuständigen Ministern.

Nowak signalisierte, dass die Gewerkschaften in den kommenden Monaten entschlossen seien, Lohnerhöhungen in Höhe der Inflation oder darüber hinaus für das nächste Jahr zu erreichen.

Er wies darauf hin, dass die Gewerkschaften nur deshalb bessere Abschlüsse erzielt hätten, weil ihre Mitglieder für Aktionen gestimmt und Maßnahmen ergriffen hätten, um die Position der Regierung zu beeinflussen.

„Die Menschen werden sagen, dass wir uns ein weiteres Jahr mit Reallohnkürzungen nicht leisten können, wenn wir auf die Gehälter im öffentlichen Sektor im nächsten Jahr blicken“, fügte Nowak hinzu und argumentierte, dass weitere Reallohnkürzungen die Probleme bei der Einstellung und Bindung von Personal in Schulen und Krankenhäusern verschärfen würden.

Hochrangige Regierungsvertreter haben darauf bestanden, dass sie angesichts der angespannten öffentlichen Finanzen an den sparsamen Gehaltsangeboten für 2024 festhalten müssen.

„Sie haben letztes Jahr versucht, sparsam zu sein. Ich würde nicht erwarten, dass die Regierung etwas anderes sagt“, sagte Nowak.

(Übersetzung aus dem Englischen + Einfügung in doppelten Klammern: Gewerkschaftsforum Hannover)

Informationen zum TUC-Kongress:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=214901
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