Gastarbeiter 2.0: 1973 streikten in der BRD Tausende ausländische Beschäftigte, oft illegal und ohne die Gewerkschaften an ihrer Seite – eine Erfahrung, die einige migrantische Arbeiter:innen fünfzig Jahre später erneut machen
„«Als ich vom Ford-Streik 1973 gehört habe, dachte ich: Wow, die Geschichte wiederholt sich. Wir sind die Gastarbeiter 2.0» (…) Eigentlich Englischlehrerin von Beruf, landete sie [Duygu Kaya] wegen mangelnder Deutschkenntnisse schnell in einem «Kreislauf prekärer Jobs», wie sie es nennt. Im Sommer 2021 fing Kaya als Kurierfahrerin beim damals noch jungen Onlinelieferdienst Gorillas an. Nur wenige Monate später war sie eine der Sprecher:innen eines Arbeitskampfs an mehreren Gorillas-Standorten in der Stadt. (…) «Vieles hat sich in den letzten fünfzig Jahren verändert: Die Arbeitsplätze, an denen Migrant:innen in Deutschland ausgebeutet werden, sind andere, die Anforderungen sind andere. Aber diesbezüglich waren wir in der gleichen Situation wie die Gastarbeiter 1973: Auch damals musste etwas passieren. Und die Gewerkschaften sahen das nicht.»…“ Artikel von Jan Ole Arps und Nelli Tügel in der WoZ Nr. 33 vom 17. August 2023 und mehr daraus sowie Hintergründe:
- Weiter aus dem Artikel von Jan Ole Arps und Nelli Tügel in der WoZ Nr. 33 vom 17. August 2023 : „… In der westdeutschen Arbeitskampfgeschichte war 1973 ein besonderes Jahr: Sogenannte Gastarbeiter:innen begehrten in etlichen Betrieben mit «wilden» Streiks gegen Akkordarbeit, schlechte Bezahlung, miese Wohnbedingungen oder Kündigungen auf. Von Februar bis Ende Oktober legten insgesamt 275 000 Beschäftigte in 335 Betrieben ihre Arbeit zeitweilig nieder – nicht nur, aber zu einem grossen Teil Migrant:innen. (…)
Als Vavitsa in den Streik trat, schufteten an Werkbänken und in Kohlegruben in Westdeutschland Hunderttausende ausländische Arbeiter:innen, die im Rahmen der «Anwerbeverträge» ab 1956 gekommen waren. Die Organisationen der Lohnabhängigen hatten diesen Teil der Arbeiter:innenklasse jahrelang vernachlässigt. Ein Grund dafür war, dass zumindest die Spitzen der Gewerkschaften – im Einklang mit der deutschen Regierung – darauf setzten, dass die Arbeiter:innen nach einiger Zeit wieder in ihre «Heimatländer» zurückkehren würden.
Anfang der siebziger Jahre hatte sich die Situation zum Teil bereits geändert: Manche Gewerkschaftssekretärinnen und Betriebsräte erkannten den Handlungsbedarf. In einigen Fabriken spielten linke Betriebsgruppen, die nach 1968 entstanden waren, dabei eine wichtige Rolle. Manche Gremien begannen, sich neu zusammenzusetzen – auch weil 1972 das Gesetz dahingehend novelliert worden war, dass bei Betriebsratswahlen erstmalig auch Bürger:innen aus Ländern antreten durften, die nicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehörten. Von Augenhöhe konnte allerdings noch lange keine Rede sein.
Zugleich wuchs das Selbstbewusstsein vieler migrantischer Beschäftigter – befeuert durch die Enttäuschung über die miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland, aber auch durch die Selbstorganisierung in linken Exilgruppen und Bewegungen von Lohnabhängigen in Ländern wie Italien, Griechenland oder der Türkei, die aufmerksam verfolgt wurden. Schon in den Jahren vor 1973 hatte es daher spontane Streikaktionen gegeben. Im Sommer 1973 erreichten sie ihren Höhepunkt. (…)
Die Forderungen der Streikenden bei Ford blieben unerfüllt. Doch trotz der Niederlage ist ihr Streik für frühere migrantische Arbeiter:innen ein wichtiger Bezugspunkt – und steht für Emanzipation: Man liess sich nicht mehr alles gefallen, stellte laut Forderungen. «Der Streik hat uns Respekt eingebracht – und war ein grosser Schritt in Richtung Gleichberechtigung. Das wollen wir feiern! Mit unseren Kindern und Enkelkindern», schreibt etwa ein Kreis früherer Ford-Arbeiter, die anlässlich des Fünfzig-Jahr-Jubiläums in Köln eine Veranstaltungsreihe organisieren. Andere «wilde» Streiks des Jahres 1973 – beim Autozulieferer Pierburg in Neuss, wo vor allem migrantische Frauen gegen die sexistische Leichtlohngruppe streikten, oder eben bei Hella, wo Irina Vavitsa und ihre Kolleg:innen die Arbeit niederlegten – sind weniger bekannt, waren aber erfolgreich. (…)
Auch fünfzig Jahre nach dem Streikjahr 1973 hat sich nichts daran geändert, dass wilde – ebenso wie politische – Streiks nach der dominierenden Rechtsauslegung in Deutschland als nicht zulässig gelten. Und die DGB-Gewerkschaften, die mit ihrer enormen Organisationsmacht – noch immer vertreten sie Millionen Lohnabhängige – daran etwas ändern könnten, halten sich weitgehend daran. Entsprechend ist das Jubiläum ein zweischneidiges: Die Gewerkschaften verstehen die damaligen Streiks als Teil ihrer Geschichte – und verweisen gerne darauf, dass sie die Gewerkschaften verändert und diversifiziert haben. Doch für neue Gruppen migrantischer Arbeiter:innen – seien es EU-Ausländer:innen, die auf deutschen Feldern ausgebeutet werden, Geflüchtete in Logistikzentren oder eben junge Migrant:innen, die auf Velos Essen ausfahren – stellt sich die Frage von 1973 erneut: Wer setzt sich für uns ein, und wie können wir kämpfen, wenn die etablierten Möglichkeiten dazu – Tarifvertragsrunde, Betriebsrat – nicht existieren?…“
Siehe zum aktuellen Hintergrund Gorillas und Streikdebatte:
- Dossier: [Q-commerce] Schneller, als die Eiscreme schmilzt: Lieferservice Gorillas
- Dossier: Mythos wilder Streik + Illegalität. Neue Debatte zum Grundrecht auf Streik am Bsp. Gorillas
- Dossier: Kampagne für ein umfassendes Streikrecht – auch gegen massive Preissteigerungen, hohe Mieten oder Heizkosten…