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Raub per Kugelschreiber: Mit Social Unionism gegen Armutslöhne und Kleinkreditindustrie – von Judy Ancel

Artikel von Judy Ancel erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2012/12

Bei einer Demonstration für die Erhöhung des Mindestlohns in Kansas City im US-Bundesstaat Missouri berichtet der junge Afroamerikaner Ibn Frazer den Versammelten, er sei in den letzten sechs Jahren jeden Tag aufgestanden und zweimal zur Arbeit gegangen. Seit seinem 17. Lebensjahr, sagt Frazer, habe er stets mit zwei Mindestlohn-Jobs bei den Restaurantketten Panera und Applebee’s, an Tankstellen oder in den Comfort Inns des Konzerns Choice Hotels jongliert. Wie fast alle seine Kollegen bekommt er »entweder nicht genug Stunden, oder die Stunden, die wir bekommen, bringen nicht genug ein, um davon zu leben«. Mittlerweile arbeitet Frazer 45 Stunden in der Woche bei Pizza Hut plus 30 Stunden bei der Textileinzelhandelskette Burlington Coat Factory. Seine Arbeitswoche hat sieben Tage: »An fünf Tagen arbeite ich in zwei Jobs, und seit fast zwei Monaten hatte ich nicht einen einzigen Tag frei. Ich habe das Gefühl, mein Leben zu vergeuden.« Artikel von Judy Ancel, sie lehrt Labor Studies an der University of Missouri und ist Aktivistin bei Jobs with Justice in Kansas City,  erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2012/12, in einer Übersetzung von Anne Scheidhauer, TIE Internationales Bildungswerk e.V. Originalquelle: Quelle: Labornotes, Oktober 2012

Vor vier Jahren brach sich Elliot Clarks Frau den Knöchel und konnte nicht mehr arbeiten. Daraufhin nahm er einen ›Überbrückungskredit‹[1] auf. »Auf den ersten Kredit folgte der zweite, dann der dritte«, erinnert er sich. Innerhalb kurzer Zeit hatte er fünf Kredite von insgesamt 2 500 Dollar laufen – und zahlte schließlich im Laufe der letzten drei Jahre 30 000 Dollar Zinsen. Während er noch mit der Abzahlung der Kredite beschäftigt war, verlor Clark sein Haus. Es wurde zwangsversteigert.

Frazer und Clark haben etwas gemeinsam: Sie sind Arbeiter, deren niedrige Löhne weder ausreichen, um die Rechnungen zu zahlen, noch um einen vernünftigen Kredit zu bekommen. Milliarden-Dollar-Unternehmen wie der Finanzinvestor Bain Capital mit Burlington Coat Factory oder Yum Brands mit Pizza Hut zahlen Mindestlöhne, die die ArbeiterInnen räuberischen Anbietern von Überbrückungskrediten in die Fänge treiben.

Überbrückungskredite sind kleine Kredite mit kurzen Laufzeiten. Familien, die sich von einem Gehaltsscheck zum nächsten hangeln, stopfen damit häufig Löcher im Budget, die sich durch akute Mehrausgaben auftun, z.B. für eine Autoreparatur oder die Arztrechnung eines Kindes. Der Staat Missouri erlaubt für solche Kredite Zinssätze von bis zu 1 950 Prozent.

Vor einem Jahr kam Jobs with Justice Missouri, ein Bündnis von Beschäftigtenorganisationen und lokalen Initiativen, mit zwei religiösen Basisorganisationen in Kansas City and St. Louis zusammen, die sich aus Dutzenden Kirchengemeinden zusammensetzen. Sie überbrückten die Spaltung zwischen Stadt und Land, indem sie drei weitere Gruppen miteinbezogen, wie Kirchengemeinden kleinerer Städte, landwirtschaftliche Familienbetriebe und Leute mit Niedriglöhnen (die Aktionsgruppe Grassroots Organizing). Zusammen beschlossen sie, gemeinsame Sache gegen die Niedriglohnzahler, allen voran den Gastgewerbeverband Missouri Restaurant Association, und die Kleinkreditindustrie zu machen und in diesem Herbst zwei Wählerinitiativen für Gesetzesänderungen zu lancieren.[2]

Mit der einen sollte der staatliche Mindestlohn in Missouri von 7,25 auf 8,25 Dollar sowie der Stundenlohn für Beschäftigte, die Trinkgelder erhalten, von 50 auf 60 Prozent des Mindestlohns angehoben werden. Mit der anderen sollten die Kreditzinsen bei 36 Prozent gedeckelt werden. Umfragen ergaben, dass beide Gesetzesänderungen mit einer komfortablen Mehrheit der Wählerstimmen rechnen konnten.

Warum zusammenschließen?

Jobs with Justice war es zuvor bereits gelungen, den Mindestlohn um 1,35 Dollar anzuheben. Eine Koalition von Organisationen für ökonomische Gerechtigkeit, an der auch die Service Employees und andere Gewerkschaften beteiligt gewesen waren, hatte die entsprechende Initiative 2006 mühelos erfolgreich eingefahren. Die Initiative war von Gewerkschaften angeführt worden, hatte aber auch die Unterstützung vieler progressiver Kirchen. Parallel hatten sich glaubensbasierte Gruppen jahrelang vergeblich darum bemüht, dem Gesetzgeber die Regulierung der Kleinkreditindustrie abzuringen. Das Motiv für diese Bemühungen lag bei Vielen in der traditionellen Lehre begründet, dass Zinsnahme prinzipiell als Sünde zu verurteilen sei, aber auch in der Erfahrung, immer wieder Familien ihrer Kirchengemeinden aus diesen Krediten herauskaufen zu müssen.

Einige Gewerkschaften in Jobs with Justice mussten sich für das aktuelle Bündnis ganz schön verbiegen. Manche fragten sich, warum man die Glaubensgruppen überhaupt brauchte, wo doch die Umfragen zum Mindestlohn bereits alleine so gut liefen. Manche hatten auch Angst, sich mit der reichen und mächtigen Kleinkreditindustrie anzulegen – die den zweitgrößten Spendenposten während der Wahlperiode stellte. Um eine Reihe von gewerkschaftsfeindlichen Gesetzesentwürfen abzuwehren, hatten die Gewerkschaften in Missouri bislang eine defensive Strategie verfolgt und Lobbyarbeit bei gemäßigten Republikanern gemacht.

Aber einige Funktionäre der Gewerkschaften und des Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO auf lokaler Ebene sowie im Staat Missouri kamen offenbar zu der Überzeugung, dass ein offensives Vorgehen im Bezug auf die Besserstellung von Niedriglöhnern langfristig dazu beitragen könnte, das politische Klima und somit die Bedingungen für gewerkschaftliches Organizing zum Positiven zu wenden. Mit Sorge beobachten Gewerkschafter in Missouri den Frontalangriff gegen das Recht auf Kollektivverhandlungen in anderen Staaten des mittleren Westens. Sie wissen, dass zu dessen Abwehr nicht nur Gewerkschaften benötigt werden, sondern auch ArbeiterInnen, die in ihren Nachbarschaften, Kirchengemeinden und auf den Schul- und Universitätsgeländen organisiert sind.

Die Idee war, unter der riesigen Mehrheit der Nicht-Gewerkschaftsmitglieder zu organisieren, um so Erfolge zu erzielen, von denen jeder profitiert. Daher war Missouri 2012 einer der wenigen Staaten, wo ArbeiterInnen und ihre Verbündeten tatsächlich in die Offensive gingen, um die Umverteilung des Reichtums von dem einen Prozent auf die 99 Prozent zu fordern.[3]

Synergie

Indem man zusammenarbeitete und gegenseitig die jeweilige Initiative unterstützte, vergrößerte jede Seite ihre Reichweite. Studierende, religiös orientierte Ehrenamtliche und Gewerkschaftsmitglieder machten an den Straßenecken die lehrreiche Erfahrung, dass die WählerInnen die beiden Themen (Mindestlohnerhöhung, Zinsbegrenzung) zusammen besser verstanden.

Die Initiative zur Zinsdeckelung war der perfekte Aufhänger für Gespräche. Angesichts durchschnittlicher Jahreszinsen von 445 Prozent war den AktivistInnen die Aufmerksamkeit der Leute und meist auch deren Unterschrift gewiss, woran man dann etwa so anknüpfen konnte: »Du weißt, dass die Niedrigverdiener auf diese Kredite nicht angewiesen wären, wenn sie besser verdienen würden.« So konnte man schließlich meist mit dem allzu verbreiteten Glauben aufräumen, die Anhebung des Mindestlohns werde Jobs kosten. Pastor David Gerth vom Kirchengemeindenverband St. Louis’s Metropolitan Congregations United stellt fest: »Unsere Mitglieder erfuhren eine Stärkung dadurch, mit den ArbeiterInnen und StudentInnen von Jobs with Justice zum Unterschriftensammeln raus auf die Straße zu gehen. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir das schon früher getan.«

Jede der beiden Initiativen musste ca. 95 000 Unterschriften sammeln. Von März bis August 2012 ließen die Mitglieder der Koalition alles verfügbare Personal in einem Umfang, der 42 Vollzeitstellen entspricht, an Bildungsmaßnahmen und Unterschriftensammlungen arbeiten. Sie rekrutierten 1 300 Ehrenamtliche. Lara Granich, Geschäftsführerin von Jobs with Justice Missouri, berichtet, wie die Ehrenamtlichen im ganzen Staat ausschwärmten und selbst in Bezirken, die von Republikanern repräsentiert waren, Boden gutzumachen lernten. Am Ende wurden 350 000 Unterschriften für beide Initiativen gesammelt.

Überbrückungsbetrug

Die Vergabe von Überbrückungskrediten hat in Missouri rapide zugenommen, seit der Gesetzgeber sie in den frühen 1990er Jahren zuzulassen begann. Bis 2009 ist das Netz der Überbrückungskreditunternehmen in den 35 US-Staaten, in denen diese Kredite legal sind, auf insgesamt 22 000 Filialen angewachsen, wobei Missouri zu den fünf Staaten mit der höchsten Dichte gehört. Es gibt in Missouri mehr Filialen von Kleinkreditanbietern als von McDonald’s, Starbucks und WalMart zusammen.

Gemeinsam mit der Missouri Restaurant Association haben die reichen Kleinkreditunternehmen der Zinsbegrenzungsinitiative massiven Widerstand entgegengesetzt und dabei keine schmutzigen Tricks gescheut. Lara Granich schätzt, dass sie dafür mindestens fünf Millionen Dollar ausgegeben haben. Advance America, das größte Ratenkreditunternehmen der USA (Ratenkredite sind Überbrückungskredite mit längeren Laufzeiten), versuchte, das Bündnis durch Drohungen kombiniert mit Anreizen für Pastoren und gewählte Vertreter der armen, häufig afroamerikanischen Gemeinden zu spalten. Eine Anwaltskanzlei drohte Kirchen mit strafrechtlicher Verfolgung und dem Verlust ihres steuerbefreiten Status. Eine ganze Flut von Klagen musste vor dem Obersten Gerichtshof von Missouri Niederlagen einstecken.

Dann schaltete die Kreditwirtschaft warnende TV-Werbespots: Eine Senkung der Zinsen werde die Unternehmen ruinieren, und arme Stadtviertel würden dann ohne Kredite dastehen. Sie schickten Schläger, um die Unterschriftensammler zu bedrohen und ihnen Bestechungsgelder anzubieten, damit sie nach Hause gingen. Zehn Tage vor Ablauf der Sammelfrist wurden 5 000 Unterschriften aus dem Auto eines Unterstützers gestohlen. Am folgenden Tag strömten Dutzende von BasisaktivistInnen aus ganz Missouri in die Region Ozark und sammelten in einem fünftägigen Marathon 7 000 Unterschriften.

Keine weiteren Initiativen?

Die Gegner der Initiative wussten: Sobald die Gesetzesänderungsanträge zur Abstimmung zugelassen wären, hätten sie verloren. Also suchten und fanden sie eine Lücke im Kleingedruckten der schlecht geschriebenen gesetzlichen Grundlagen für Wählerinitiativen. Zehn Tage vor Fristablauf für die unterschriebenen Petitionen am 21. September reichten ihre Anwälte Anträge ein, die die 116 lokalen Wahlvorstände von Missouri dazu gezwungen hätten, für jede Unterschrift die korrespondierende Wähler-Registierungskarte vorzulegen. Angesichts der wenigen verbliebenen Gerichtstage bis zum Drucktermin der Stimmzettel musste die Koalition ihre Initiative zurückziehen. Das war ein Tritt in die Magengrube.

Diese neue Form der Wählerunterdrückung, die der einzigen verbleibenden Möglichkeit der arbeitenden Bevölkerung, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen, den Garaus zu machen droht, löste massive Empörung aus. Todd Appleby von den Communications Workers sagt: »Dies ist ein radikalisierender Moment für meine Mitglieder.

Sie lernen, wozu die Konzerne in der Lage sind.« Sogar die Presse schäumte vor Wut. Der St. Louis Post-Dispatch beginnt seine Meldung vom 6. September mit der Feststellung: »Raub mit dem Kugelschreiber bleibt in Missouri legal.«

Die Arbeiterbewegung von Missouri ist darauf gefasst, 2014 eine beschäftigtenfeindliche Gesetzesinitiative unter dem Schlagwort »Recht auf Arbeit« abwehren zu müssen.[4] Jetzt, mit Verbündeten, befindet sie sich in einer viel besseren Ausgangposition für solcherlei Kämpfe. Granich sagt: »Wir sind uns sicher: Auf lange Sicht ist die geschlossene Aufstellung, die progressive Kräfte im Moment aufbauen, genau das, was wir brauchen, um die Macht der Konzerne zu brechen.«

Quelle: Labornotes, Oktober 2012

Judy Ancel lehrt Labor Studies an der University of Missouri und Aktivistin bei Jobs with Justice in Kansas City.

Übersetzung: Anne Scheidhauer, TIE Internationales Bildungswerk e.V.

 

Mindestlöhne in den USA

Der reale Wert des US-weiten Mindestlohns geht seit Jahrzehnten zurück. Er liegt heute bei 7,25 Dollar, aber wenn er seit 1968 mit der Inflation Schritt gehalten hätte, läge er bei 10,59 Dollar. Wäre er so gewachsen wie die Vergütungen der Führungskräfte seit 1990, stünde der Mindestlohn heute bei 23 Dollar.

Zwei Drittel aller Jobs in den Branchen, die sich gerade von der Rezession erholen (Einzelhandel, Gastronomie, Warenhäuser und häusliche Pflege), sind Niedriglohnjobs.

Wer bekommt Mindestlohn?

Bei der letzten Erfassung gab es 3,8 Millionen ArbeiterInnen, die unterhalb des US-Mindestlohns verdienen. Ca. zehnmal so viele, 28 Prozent aller ArbeiterInnen in den USA, verdienen so wenig, dass sie bei Vollzeitbeschäftigung unterhalb der offiziellen Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie liegen. (11,06 Dollar/Stunde bzw. 23 050 Dollar/Jahr)

Und, gegen alle Mythen: Mehr als drei Viertel der Mindestlöhner sind nicht Teenager. Ungefähr zwei Drittel sind Frauen. Ein Drittel sind Schwarze oder Latinos. Zwei Drittel arbeiten Teilzeit.

Löhne mit Trinkgeldern

Der US-weite Mindestlohn für Jobs, bei denen man zusätzlich ein Trinkgeld bekommt (z.B. in Restaurants, Autowäschereien, Nagelstudios) stockte 21 Jahre lang bei 2,13 Dollar. Ursprünglich waren solche Löhne fixiert bei 60 Prozent des vollen Mindestlohns, aber die Restaurant-Besitzer überzeugten den Kongress, beide zu entkoppeln.

 

 


[1] Der Originalbegriff payday loan, also »Zahltag-Kredit«, macht noch deutlicher, worum es hier tatsächlich geht, nämlich das Haushaltsbudget durch einen Kredit aufzustocken, wenn der Lohn mal wieder nicht ausreicht, um das Überleben der Familie vom einen Monat zum nächsten zu sichern. Anm. d. Ü.

[2] In einigen US-Bundesstaaten, so auch in Missouri, können in Form sogenannter Wählerinitiativen (ballot initiatives) Vorschläge für Gesetzesänderungen gemacht werden. Dafür muss eine festgelegte Anzahl von Unterschriften gesammelt werden. Wird diese erreicht, kann der Änderungsantrag bei anstehenden Wahlen, wie kürzlich bei den Präsidentschaftswahlen im November 2012, mit zur Abstimmung gestellt werden. Anm. d. Ü.

[3] Anspielung auf die Umverteilungsforderung der Occupy-Bewegung: den Reichtum, der bislang dem einen Prozent der Superreichen gehört, auf die restlichen 99 Prozent der Bevölkerung umverteilen. Anm. d. Ü.

[4] Die Initiative »Right to Work« befindet sich in der Vorbereitung und will ein Verbot von Tarifverträgen erreichen, welche die Zahlung von Gewerkschaftsbeiträgen durch die Beschäftigten vorsehen (vgl. http://ballotpedia.org/wiki/index.php/Missouri_2012_ballot_measures externer Link ). Anm. d. Ü.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=21425
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