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Eine erstaunlich erstaunte Debatte über Rassismus in den Reihen der französischen Polizei, aber Verbote von Demos gegen Polizeigewalt

Dossier

Frankreich: Bewegungen gegen die Rentenreform und ökologische gemeinsam gegen PolizeigewaltKein Bock auf Öffentlichkeit für so’n Thema: Wie die französische Presse im Laufe der letzten Tagen infolge eines ersten Berichst in den Spalten der KP-nahen Tageszeitung L’Humanité vom 13. Juli dieses Jahres feststellen durfte, hatte die Regierungsspitze ihr seit nunmehr zwei Jahren ein Dokument zu einem mehr oder minder brisanten Thema vorenthalten. Es ging um Rassismus in den Reihen der französischen Polizei, als im Juli 2021 ein sieben Seiten zuzüglich Anlagen unter dem einschlägigen Titel „Police et racisme“ an die „ministerübergreifende Aufgabenstelle für die Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Homophobie“ (DILCRAH) überreicht wurde. (…) Etwas entschlossener gegen bestimmte Polizeibedienstete vor ging unterdessen die Justiz in Marseille. (…) Mehrere Polizeigewerkschaften drohen unterdessen offen mit Gehorsamsverweigerung, sollten ihre Kollegen gar ungebührlich sanktioniert werden (…) Verboten worden war am vorigen Samstag, den 15. Juli 23 erneut eine Demonstration zum Thema Polizeigewalt, wie bereits am Sonnabend zuvor…“ Artikel von Bernard Schmid vom 21.7.2023 und die Fortsetzung:

  • »Aufstände haben eine lange Tradition in Frankreich« Für die linke Abgeordnete Danièle Obono ist es höchste Zeit, dass man gegen den strukturellen Rassismus aufbegehrt New
    Über Rassismus, Polizeibrutalität und die Mittel dagegen sprach Cole Stangler mit Danièle Obono in der Übersetzung von Raul Rosenfelder in Jacobin.de am 25. September 2023 externer Link: „… Gibt es ein Problem mit strukturellem Rassismus bei der französischen Polizei? [Danièle Obono:] Ja, es gibt strukturellen Rassismus in Frankreich, in der französischen Gesellschaft und in ihren Institutionen, vor allem in der Polizei, die eine besondere Geschichte hat. In dieser Geschichte spielt insbesondere die Beziehung zu bestimmten Bevölkerungsgruppen eine Rolle, die mit der kolonialen und postkolonialen Erfahrung zusammenhängt. Außerdem gibt es eine zunehmende Tendenz unter verschiedenen Regierungen, die Polizei als Instrument der sozialen und politischen Unterdrückung einzusetzen. Dies verschärft die bereits bestehenden Tendenzen dieser Institution, exzessiv Gewalt anzuwenden und die Rechtsstaatlichkeit zu missachten. Das gilt in besonderem Maße für ihr Verhalten gegenüber diskriminierten Gruppen. In den letzten Monaten haben wir Revolten erlebt, die mit dem Mord an einem jungen Mann nach einer Verkehrskontrolle begannen. Dieser Fall reiht sich ein in eine Serie von Todesfällen junger, nicht-weißer Männer, die bei Konfrontationen mit der Polizei ums Leben kamen, vor allem weil sie sich angeblich weigerten, einer polizeilichen Anordnung Folge zu leisten. In Frankreich gab es in diesem Zusammenhang bereits mehrere Todesfälle. Das ist nicht nur ein Einzelfall. Es handelt sich um ein System. Das hängt auch mit einem Gesetz zusammen, das am Ende der Präsidentschaft von François Hollande verabschiedet wurde. Wie Studien zeigen, hat dieses Gesetz zur Folge, dass Polizistinnen und Polizisten, wenn sie sich bedroht fühlen, vermehrt Schusswaffen einsetzen. (…) Ich denke, dass Riots eine Form der politischen Aktion sind. Ich habe am Bastille-Tag getwittert: »Heute feiern wir den erfolgreichsten Riot in der politischen Geschichte unseres Landes.« Das ist eine Grundlage unserer Republik und unserer Institutionen. Ich wollte auch aufzeigen, wie diejenigen sich in Widersprüche verstricken, die den Bastille-Tag mit einem sehr rechten, nationalistischen Diskurs feiern und dabei vergessen, dass es sich um einen Riot handelte, bei dem öffentliche Gebäude zerstört wurden. Doch so wurde unser Land begründet. Diejenigen, die sich auflehnen, folgen also einer langen französischen Tradition. Sie sind keineswegs »auf ihre ethnischen Ursprünge zurückgeworfen«, wie Bruno Retailleau [der Chef der rechten Fraktion Les Républicains im Senat] sagte. Aber es stimmt, wir haben beschlossen, von »Revolten« zu sprechen, da die Verwendung des Begriffs »Riot« im aktuellen politischen und medialen Diskurs verunglimpfend und entpolitisierend ist. Wir sprechen von Revolten, um zu unterstreichen, dass es sich um ein politisches Phänomen handelt und dass wir uns in einem politischen Moment befinden. (…) Aber das eigentliche Problem ist, dass die offizielle, institutionelle Linke in Frankreich, wie in vielen Ländern, insgesamt eine hauptsächlich weiße und männliche Linke ist sowie aus der Mittel- bis Oberschicht stammt. Es besteht eine Kluft zwischen den Menschen, die von diesen Fragen betroffen sind, und denjenigen, die sie vertreten. Dennoch haben sich die Dinge etwas weiterentwickelt. Ich bin nicht mehr eines von wenigen schwarzen Mitgliedern unserer Fraktion, sondern wir sind einige mehr geworden. (…) Wenn man sich die Gewerkschaften anschaut, sind sie auch nicht sehr repräsentativ für die Arbeiterbewegung im weitesten Sinne, die heute extrem multikulturell ist. Wenn man sich die großen NGOs ansieht, sind sie sehr, sehr weiß. Es gibt eine Reihe von Barrieren in Bezug auf die Repräsentation. Das ist etwas, woran wir auch gearbeitet haben. Wir können als Bewegung nicht die Arbeiterklasse vertreten, wenn diejenigen, die das Wort ergreifen und Machtpositionen innehaben, im Wesentlichen weiße Menschen aus der Mittelschicht sind. Wir müssen daran arbeiten, eine Bewegung aufzubauen, die den Menschen nützt, die sich engagieren wollen. Das ist unser Ziel. Wir wollen La France Insoumise und die [linke Koalition] NUPES mit diesem Ziel weiter aufbauen…“
  • Landesweite Demos am 23. September gegen Polizeigewalt in Frankreich 
    Am Samstag, den 23. September 2023, fanden in ganz Frankreich mehr als 150 Demonstrationen und Protestkundgebungen gegen rassistische Diskriminierung, soziale Marginalisierung und Polizeigewalt statt. (…) Erwartet wurden im Vorfeld landesweit 30.000 Teilnehmer. Laut frz. Polizei seien es dann real 31.300 gewesen (9.000 davon in Paris). Die Veranstalter sprachen hingegen von insgesamt 80.000 Menschen (15.000 davon in der Hauptstadt), die sich beteiligten. Nach dem Willen der Organisatoren soll dieser Aktionstag jedoch keine Eintagsfliege, sondern nur der Auftakt zu einer langfristigen Mobilisierung der Arbeiterviertel für bessere Lebensbedingungen sein. (…) Über diese Bemühungen und die damit verbundenen Probleme berichtete das den sozialen Bewegungen gewidmete linke Online-Magazin „Rapports de Force“ („Kräfteverhältnisse“) am 21.9.2023 in Form der folgenden, von uns übersetzten, Reportage in der verschiedene Aktive aus den Arbeiterquartieren zu Wort kommen.“ Aus dem Vorwort des Gewerkschaftsforum Hannover zu deren Übersetzung am 24.9.2023  – wir danken! Siehe auch:

    • der franz. Aufruf bei Solidaires externer Link
    • und deren franz. Bericht auf Twitter externer Link: „23.9.: Marsch gegen Rassismus, Polizeigewalt und für die Verteidigung von Freiheiten und Gerechtigkeit marschierten 80.000 Menschen in Frankreich, davon 15.000 in Paris.“
    • Siehe auch #23Septembre #violencespolicières #racisme
  • Proteste gegen Polizeigewalt (und Einwanderungsgesetz) in mindestens 118 französischen Städten am 23.09.2023 und die neuesten Gründe hierfür New
    Gut 10.000 Teilnehmende in Paris (…) Und frankreichweit, in insgesamt mindestens 118 französischen Städten, je nach Angaben „30.000“ Protestierende laut Polizei respektive „80.000“ laut Veranstalter/inne/n. So lautet die quantitative Bilanz zu den Demonstrationen gegen „Polizeigewalt und systemimmanenten Rassismus“, die am vorigen Sonnabend/Samstag, den 23. September d.J. In Frankreich stattfanden, die größte unter ihnen in Paris. Dazu hatten rund 100 Organisationen, unter ihnen Gewerkschaften, NGOs sowie Linksparteien aufgerufen (…) Thematisiert wurden neben Vorfällen von Polizeigewalt, vor dem Hintergrund – selbstredend – der Riots/Revolten/Unruhen im Juni & Anfang Juli dieses Jahres und der Todesschüsse unter anderem auf Nahel Merzouk (Ende Juni in Nanterre), auch stark die aktuellen Pläne der Regierung unter Emmanuel Macron und Elisabeth Borne für ein neues Einwanderungsgesetz…“ Artikel und Fotos von Bernard Schmid vom 25.9.2023 – wir danken!
  • Ermittlungen in Frankreich wegen außergesetzlicher Gewalt bei der Tötung von Mohamed B.: 5  Polizisten in Gewahrsam, 20 zur Vernehmung vorgeladen 
    Wir berichteten bereits über den „Fall“ (oder „Vorfall“) des am Rande der fünftätigen Riots/Revolten in Frankreich von Ende Juno und Anfang Juli d.J. durch die Polizei getöteten Mohamed B., dessen Name inzwischen bekannt wurde: Mohamed Bendriss. In jener Nacht hatte der 27jährige nicht selbst an den Riots teilgenommen, doch gegen ein Uhr früh auf seinem Handy gefilmt. In dieser Angelegenheit wurden zu Anfang dieser Woche fünf Polizeibedienstete zwecks Vernehmung in polizeilichen Gewahrsam genommen. Zwei von ihnen wurden inzwischen wieder aus dem Gewahrsam entlassen, drei weitere verbleiben dort jedoch. Diese gehören der polizeilichen Sondereinheit RAID (vgl. unten) an. Vgl. u.a.:
    https://www.liberation.fr/societe/sante/marseille-cinq-policiers-en-garde-a-vue-apres-la-mort-dun-homme-en-marge-des-emeutes-de-juillet-20230808_SOF7RXB6QVD4TGYQ2JGEWW76JE/ externer Link
    https://www.francetvinfo.fr/faits-divers/police/violences-policieres/marseille-cinq-policiers-du-raid-places-en-garde-a-vue-apres-la-mort-d-un-homme-de-27-ans-pendant-les-emeutes_5995940.html externer Link
    https://www.cnews.fr/france/2023-08-08/marseille-deux-des-cinq-policiers-mis-en-garde-vue-remis-en-liberte-apres-la-mort externer Link
    https://www.huffingtonpost.fr/france/article/a-marseille-trois-policiers-du-raid-toujours-en-garde-a-vue-apres-la-mort-de-mohamed-b-durant-les-emeutes-clx1_221567.html externer Link
    https://www.lefigaro.fr/actualite-france/deces-d-un-homme-en-marge-des-emeutes-a-marseille-cinq-policiers-du-raid-en-garde-a-vue-20230808 externer Link
    Rund zwanzig Angehörige der polizeilichen Eliteeinheit RAID – ungefähr mit der Einsatzgruppe GSG9 der deutschen Bundespolizei vergleichbar – wurden im Laufe dieser Woche bei der Dienstinspektion IGPN vorgeladen. (Vgl.: https://www.bfmtv.com/marseille/marseille-une-vingtaine-de-policiers-du-raid-convoques-a-l-igpn-apres-la-mort-de-mohamed-lors-des-emeutes_AN-202308080203.html externer Link )
    Bislang jedenfalls ermittelt die IGPN beim Verdacht von Regelverstößen durch Polizeibedienstete und untersteht dabei nicht unmittelbar der Polizeihierarchie, wohl aber dem Innenministerium und damit demselben staatlichen Ressort. Seit den jüngsten Riots und der dadurch ausgelösten politischen Debatte stehen, seitens von Kritiker/inne/n, erneut Vorwürfe mangelnder Unabhängigkeit der IGPN im Raum und sind Vorschläge zur Herauslösung der Dienstinspektion aus dem Innen-, eventuell zu ihrer Unterstellung unter das Justizministerium im Gespräch.
    Durch die jüngsten Ermittlungsereignisse weitet sich der Polizeiskandal, sowie der eventuell nach wie vor schwelende Dissens zwischen Polizei- und Justizkreisen noch aus. Jüngst hatte es für Schlagzeilen gesorgt, dass Beamte einer anderen Einheit – der „BAC Centre et Sud“ von Marseille – in Ermittlungen einbezogen und dass einer von ihnen in Untersuchungshaft genommen wurde(n), weil ihnen vorgeworfen wird, den 22jährigen, ebenfalls nicht selbst an den Riots beteiligten Hedi im zeitlichen Zusammenhang mit ihnen schwer misshandelt zu haben. (Wir berichteten) Fortsetzung folgt.“ Aktueller Stand von Bernard Schmid vom 9.8.2023 – wir danken!
  • Polizeigewalt bleibt aktuelles Thema in Frankreich: Rechte freuen sich über den Druck der polizeilichen „Protest“bewegung – und lavieren doch… 
    Demonstration am 23. September d.J. gegen Rassismus und Polizeigewalt angekündigt – Polizist in Marseille gibt in der „Strafsache Hedi“ nun den Einsatz eines Gummigeschossgewehrs zu, und bleibt in U-Haft – polizeilicher Bummelstreik wird fortgesetzt, vor allem in Südfrankreich. Unter anderem zu 100 % in Béziers; mit ambivalenter Haltung des dortigen rechtsextremen Bürgermeisters. Im ebenfalls südfranzösischen Marignane unterstützt ein zwischen Konservativen und R.extremen stehender Bürgermeister den polizeilichen Ausstand vollständig, und bekommt dafür Kritik aus der rechtsextremen kommunalen Opposition…“ Artikel von Bernard Schmid vom 4.8.2023  – wir danken!
  • 2 Interviews zum Freifahrtschein für Frankreichs Knüppelgarde 
    Je weniger die herrschende Klasse bereit oder in der Lage ist, der Masse der Lohnabhängigen soziale Zugeständnisse zu machen, umso mehr offene physische Gewalt wendet sie an. (…) Dass die staatlichen Hooligans in Uniform dafür manchmal – wenn auch selten – strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden und zuweilen gar im Knast landen, gefällt den politisch vielfach sehr weit rechts angesiedelten Polizeigewerkschaften jenseits des Rheins gar nicht. (…) Um dem einen Riegel vorzuschieben, fordern die korporativen Interessenvertreter der Flics und Gendarme nun eine generelle Straffreiheit für ihr Tun und stoßen bei Macrons Innenminister Gérald Darmanin auf viel Verständnis. (…) Diese jüngste Entwicklung und Erfahrung in Frankreich als einem Kernstaat und Stützpfeiler der EU ist angesichts der Aussicht auf eine langanhaltende wirtschaftliche und soziale Krise und die entsprechenden politischen Reaktionen in der BRD auch bei uns hochinteressant und nichts, was als französische (oder griechische oder spanische oder italienische) Besonderheit abgetan werden sollte. Daher haben wir zwei aufschlussreiche Interviews zum Thema aus der linken italienischen Tageszeitung „il manifesto“ vom 30. Juli 2023 mit dem Rechtsanwalt Arié Alimi und aus dem linksliberalen „il Fatto Quotidiano“ vom 31.7.2023 mit dem (etwas gemäßigtere Kritik übenden) Direktor des Nationalen Zentrums für Wissenschaftliche Forschung (CNRS) Sebastian Roché übersetzt…“ Aus dem Vorwort des Gewerkschaftsforum Hannover vom 2.8.2023  mit den genannten Übersetzungen – wir danken! Siehe zum aktuellen Hintergrund:

    • Frankreich: Beistand für Polizeigewalt. Ordnungskräfte in Frankreich lassen sich aus »Solidarität« krankschreiben
      Seit einer guten Woche bleiben in Frankreich Tausende Polizisten dem Dienst fern. Am vergangenen Wochenende hatte die Aktion bereits landesweit ein Zehntel des Personalbestandes erfasst. Da Polizisten kein Streikrecht haben, lassen sie sich krankschreiben. Die Aktion begann damit, dass Polizisten in Marseille dagegen protestiert haben, dass einer von ihnen in Untersuchungshaft genommen wurde, weil er bei den jüngsten Unruhen einen Jugendlichen zusammengeschlagen und dabei schwer verletzt haben soll. Zu diesem Fall wird auch gegen drei weitere Polizisten ermittelt, die aber vorläufig wieder auf freien Fuß gesetzt wurden.
      Es ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass ein Polizist in Untersuchungshaft sitzt. Die zumeist stark rechts ausgerichteten Polizeigewerkschaften wollen darin das Ergebnis einer von links geschürten Hetze gegen die Polizei sehen, der zu Unrecht pauschal Gewaltbereitschaft und Rassismus unterstellt werde. Als Beispiel verweisen sie auf die Losung der Bewegung La France insoumise »Die Polizei tötet«.
      Eine brisante politische Dimension bekam die Protestaktion durch eine Bemerkung des im Innenministerium für die nationalen Polizeikräfte zuständigen Generaldirektors Frédéric Veaux, der in einem Zeitungsinterview erklärte, dass »vor einem eventuellen Prozess ein Polizist nicht ins Gefängnis gehört, auch wenn er im Rahmen seiner Arbeit möglicherweise schwere Fehler oder Irrtümer begangen hat«.
      Die Richtergewerkschaft hat umgehend scharf dagegen protestiert, dass ein hoher Beamter eine Entscheidung der Justiz infrage stellt und damit deren Unabhängigkeit von der Exekutive angreift. Präsident Emmanuel Macron als Garant der Institutionen der Republik wurde aufgefordert, für die Respektierung der Gewaltenteilung zu sorgen. Der Präsident hielt sich zu diesem Zeitpunkt zu einem Besuch von französischen Überseegebieten im Pazifikraum auf. In einem Fernsehinterview stimmte er erst nach mehrfachem Nachfragen der Journalisten zu, dass »niemand, auch kein Polizist, über dem Gesetz steht«. Macron hat den Innenminister Gérald Darmanin, der ihn auf seiner Pazifikreise begleitete, vorzeitig wieder zurück nach Frankreich geschickt, um unter den Polizisten für Ruhe zu sorgen. Dort hatte inzwischen Laurent Martin de Frémont von der Polizeigewerkschaft Unité SGT Police die Meinung seiner Kollegen in kurzen Worten zusammengefasst: »Diese Haft gegen einen der Unseren ist der Tropfen, der das Fass der Frustration zum Überlaufen bringt. Wir sind nicht bereit hinzunehmen, dass Polizisten im Gefängnis sitzen und Ganoven frei herumlaufen.« Kaum war Innenminister Darmanin zurück in Paris, hat er dort – in Begleitung der extra hinzugeladenen Medien – ein Polizeirevier besucht. Doch anstatt die Boykott-Aktion der Polizisten zu kritisieren, erklärte er: »Ich verstehe diese Emotionen, diese Wut, diese Niedergeschlagenheit.« (…)
      Die Vertreter von zwölf Polizeigewerkschaften, die der Innenminister zu einer Aussprache empfing, zeigten sich danach fast durchweg zufrieden. Der Minister habe ihnen bereits zugesagt, dass der Staat die Anwaltskosten für jeden Polizisten übernimmt, dem Vergehen in Ausübung seines Dienstes vorgeworfen werden. Über weitere Forderungen der Gewerkschaften, beispielsweise nach einem grundsätzlichen Ausschluss von Untersuchungshaft für Polizisten, soll bei einem bereits vereinbarten Treffen Anfang September gesprochen werden. Der Minister zeige sich jedoch »sehr offen«….“ Artikel von Ralf Klingsieck, Paris, vom 31.07.2023 in ND online externer Link

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Frankreich: „Die Regierung hört nicht auf Gewerkschaften… außer die der Polizei“

Infolge mehrerer Vorfälle mutmaßlicher außergesetzlicher Polizeigewalt in Marseille: Polizeiprotest wegen Strafverfolgung(smodalitäten) gegen der Regelübertretung beschuldigte Polizisten weitete sich in den letzten Tagen aus. Die Regierung ging zunächst auf rohen Eiern; zumindest ihr Innenminister stellt sich inzwischen, infolge eines Zusammentreffens mit Polizei„gewerkschaften“ am gestrigen Abend, jedoch überdeutlich schützend vor die unruhigen Staatsdiener. Gehaltsfortzahlung (samt Prämien) für bspw. illegaler Gewaltausübung beschuldigte Polizisten, möglichst keine Verhängung von Untersuchungshaft für dieselben, Übernahme der Anwaltskosten… stehen auf dem Programm seiner faktischen Vereinbarungen mit mehreren Polizei„gewerkschaften“; die CGT unter den Staatsbediensteten distanziert sich nun. Die Polizeigewerkschaft Alliance fordert einen strafrechtlichen Sonderstatus für Polizeibedienstete und empört sich nun, im Munde eines ihrer Sprecher, auch explizit über die U-Haft des Polizeibeamten, welcher im Juni d.J. den siebzehnjährigen Nahel Merzouk erschoss

Ein Mann schlief schlecht in den letzten Tagen. Ziemlich schlecht. Doch nun erhielt er professionelle Einschlafhilfe vom Herrn Minister.

Nein, das Schlafproblem rührte nicht von den vom Klimawandel radikalisierten Temperaturspitzen her; im Übrigen wichen die Hitzewellen derzeit jedenfalls im Raum Paris dem Durchzug einer Regenfront, und nur in Teilen Südfrankreichs oder auf Korsika kämpft man derzeit noch mit hohen Temperaturen und Waldbränden (jedoch nicht derart dramatisch wie in Italien oder Griechenland).

Es handelt sich überdies um ein „hohes Tier“. Nämlich den Generaldirektor der nationalen Polizei (DGPN), Frédéric Veaux. Ihn beraubte tagelang die Vorstellung bzw. das Wissen darum, dass derzeit ein Polizist (oder gar mehrere) in Untersuchungshaft schmort bzw. schmoren und auf ihren Prozess wartet bzw. warten, der nächtlichen Ruhe: ça m’empêche de dormir. (https://www.lesoir.be/527157/article/2023-07-24/le-savoir-en-prison-mempeche-de-dormir-les-propos-polemiques-du-chef-de-la externer Link und https://www.ladepeche.fr/2023/07/24/policier-ecroue-a-marseille-le-savoir-en-prison-mempeche-de-dormir-declare-le-patron-de-la-police-11358628.php externer Link)

Dies dachte er nicht nur etwa im Stillen bei sich, sondern er ließ es umgehend wissen und begab sich dafür auch (Hitze im Süden hin oder her) am vorigen Wochenende des 22./23. Juli dieses Jahres eigens von Paris nach Marseille. Am darauffolgenden Montag, den 24. Juli 23 waren seine Aussagen dann in der Tageszeitung Le Parisien zu lesen. (Vgl. u.a. https://www.bfmtv.com/police-justice/marseille-frederic-veaux-patron-de-la-police-a-rencontre-des-representants-de-la-police-et-des-syndicats_VN-202307220267.html externer Link und https://france3-regions.francetvinfo.fr/provence-alpes-cote-d-azur/bouches-du-rhone/marseille/policier-ecroue-a-marseille-on-vous-explique-pourquoi-les-propos-du-patron-de-la-police-suscitent-l-indignation-2816480.html externer Link) Dort vertritt er die Auffassung, ein beschuldigter Polizist habe „vor einem eventuellen Prozess“ – bitte, möglichst eventuell bleiben – „nicht seinen Platz im Gefängnis“. Dies rief wiederum zum Teil heftige Kritik aus Linksparteien und in Medien hervor, wo man ihm entgegen hielt, der oberste Repräsentant der Polizeihierarchie mische sich in die Arbeit der Justiz ein. (Vgl. https://www.leparisien.fr/faits-divers/frederic-veaux-patron-de-la-police-avant-un-eventuel-proces-un-policier-na-pas-sa-place-en-prison-23-07-2023-6O2DQ7IKSJEUPG3QZ2A4UW75IU.php externer Link und https://www.leparisien.fr/faits-divers/frederic-veaux-patron-de-la-police-avant-un-eventuel-proces-un-policier-na-pas-sa-place-en-prison-23-07-2023-6O2DQ7IKSJEUPG3QZ2A4UW75IU.php externer Link)

Strafverfahren wegen schädelbrechender/schädelbrechischer Gewalt

Worum ging es, worum geht es? Konkret darum: Gegen bislang fünf Polizisten läuft derzeit ein Strafverfahren, weil ihnen vorgeworfen wird, in Marseille am Rande der fünftägigen heftigen Unruhen in den letzten Juni- und ersten Julitagen d.J. einen (an ihnen wohl völlig unbeteiligten) 22jährigen mit dem Vornamen Hedi auf dem Nachhauseweg zuerst durch einen Schuss mit dem Gummigeschosswerfer Flash-ball am Kopf verletzt, danach zusammengeschlagen und möglicherweise noch bestohlen zu haben.

Seinen durch Schlageinwirkungen deformierten Schädel konnte man nun ab dem Mittwoch Abend im TV-Interview, wo er ausführlich zu Wort kam, betrachten. (https://www.bfmtv.com/marseille/je-ne-sentais-plus-mon-corps-hedi-detaille-les-violences-qu-il-dit-avoir-subi-de-la-part-de-policiers-a-marseille_AN-202307260721.html externer Link

Insgesamt gibt es im Zusammenhang mit den jüngsten Riots im Raum Marseille drei mutmaßliche Opfer ungerechtfertigten polizeilichen Handels: neben Hedi auch den durch ein Gummigeschoss getöteten 27jährigen Mohamed B., vgl. https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2023/07/fr-schmid080723.pdf pdf – er hatte nächtlich mit seinem Handy gefilmt – und dessen Cousin Abdelkarim, 22, ihm wurde ein Auge ausgeschossen. (Vgl. https://www.mediapart.fr/journal/france/240723/un-fils-tue-son-cousin-eborgne-marseille-une-famille-brisee-par-les-armes-de-la-police externer Link und https://www.bondyblog.fr/reportages/a-marseille-dans-la-cite-de-sabrina-agresti-roubache-a-part-les-anciens-personne-ne-la-connait/ externer Link) Unter den fünf Polizeibeamten, gegen welche im Fall „Hedi“ ermittelt wird, stehen vier unter Justizauflagen bis zu ihrem Prozess – diese dürfen sich nicht untereinander kontaktieren, um Absprachen zu verhindern -, und der fünfte wurde vorläufig in U-Haft genommen.

Juristisch gilt für ihn die Unschuldsvermutung, zugleich sieht die Strafprozessordnung (für jede/n Tatverdächtige/n) vor, dass eine Untersuchungshaft verhängt wird, wenn des indices graves et concordants – schwerwiegende und übereinstimmende Hinweise – dafür vorliegen, dass die Vermutung in näherer Zukunft in einem Strafprozess widerlegt werden könnte. Bei einer richterlichen Kontrolle wurde dies für den Polizeibeamten bejaht, überdies kam der betreffende Richter zu der Auffassung, das Risiko von Absprachen mit anderen Tatbeteiligten sei hoch.

Wie sich herausstellte, zeigen sich die übrigen beschuldigten Polizisten bislang im eröffneten Ermittlungsverfahren „unkooperativ“. Die Beamten behaupten, sich „an überhaupt nichts erinnern zu können“ und sich selbst auf den Aufnahmen von Überwachungskameras – diese filmten einen Teil des Geschehens, doch bei der zentralen Prügelszene zerrten die Beteiligten, den Schilderungen des Opfers Hedi zufolge, ihn (Hedi) auf einen im toten Winkel der Kameras liegenden kleinen Platz – „nicht wiederzuerkennen“. Zwei verweigerten jegliche Aussage, und einer weigerte sich auch standhaft, sich photographieren zu lassen, um bei den Befragungen seine Aufnahme dem Opfer vorlegen zu können. (Nun, einen anderen Beschuldigten ohne Polizistenstatus, welcher sich ähnlich „unkooperativ“ zeigen würde, täte man schlicht und einfach vor die Kamera zerren…)(Vgl. https://www.bfmtv.com/police-justice/passage-a-tabac-d-hedi-a-marseille-a-l-exception-de-deux-agents-aucun-policier-ne-souhaite-collaborer-a-l-enquete-selon-l-igpn_VN-202307280063.html externer Link)

„Nicht nur einer, sondern zwei schmoren in U-Haft“

Dass zumindest einer der Beteiligten überhaupt in Untersuchungshaft sitzt, schmeckt wiederum vielen anderen Polizisten nicht, die sich u.a. darauf berufen, man müsse doch aber verstehen, schließlich habe ja doch in jenen Tagen ein „aufständisches Klima“ oder eine „aufständische Situation“ (situation insurrectionnelle) geherrscht, die man habe bändigen müssen, die Polizisten seien gestresst gewesen, angegriffen worden usw.

Dabei zieht zumindest ein Teil der Polizei„gewerkschaften“, die sich nun seit Tagen empört vor den Kameras äußern, weitet den Kreis der angeblich zu Unrecht leidenden und schmorenden Polizistenkollegen gleich auch noch auf einen zweiten aus, und dies – nämlich – ausgerechnet auf denjenigen, dessen Tat den Ausgangspunkt der jüngsten Unruhen darstellte. Also auf den Todesschützen, dessen Kugel am 27. Juni dieses Jahres in der Pariser Vorstadt Nanterre den siebzehnjährigen Nahel Merzouk in die Herzgegend getroffen hatte.

Viele Polizei„gewerkschafts“vetreter drückten dies nur indirekt aus durch den Hinweis, es gebe „zwei“ jüngere Fälle von Verhängung von Untersuchungshaft, die man wegen daraus resultierender „Rechtsunsicherheit“ für geplagte Polizisten kritisiere. Doch am gestrigen Abend sprach der Generalsekretär einer der beiden größten Polizeiorganisationen – Alliance -, Fabien VANHEMELRYCK, vor den Kameras und Mikrophonen auch explizit aus, dass es sich bei dem Zweiten um den wegen des Todes von Nahel (Merzouk) beschuldigten Beamten handele.

Zu dem Zeitpunkt, am Donnerstag Abend gegen 21 Uhr, schwebte der Mann nicht nur von seinem (flämischen) Familiennamen her im „Himmelreich“. Innenminister Gérarld Darmanin hatte zuvor, in den frühen Abendstunden, die größeren Polizeigewerkschaften an seinem Amtssitz empfangen. Zu den Ergebnissen vgl. weiter unten. So viel darf jedoch schon vorausgeschickt werden, um es auch wieder nicht allzu spannend zu machen und unsere ebenfalls vom Stress geplagten Leser/innen auf die Polizeifolter zu spannen: Die auf Themen der Innenpolitik spezialisierte Newsletter Chez Pol der (linksliberalen) Tageszeitung Libération übertitelt ihre heutige Ausgabe, übrigens die letzte vor ihrer circa dreiwöchigen Sommerpause, zum Thema. Und zwar wie folgt: „Die Regierung hört nicht auf die Gewerkschaften, außer auf jene der flics.“ Damit ist zwar beileibe noch nicht Alles gesagt, jedoch bereits etwas Wesentliches.

(Wobei jedenfalls Alliance nicht nur eine Berufstätigenvereinigung ist, sondern zugleich auch eine einflussreiche politische Lobby und ein Wirtschaftsimperium. Denn die Organisation handelt Rabatte für Zehntausende Polizeikunden direkt mit Handelsketten und Wirtschaftsunternehmen aus und erhält dafür Kommissionen – die dann etwa in Gestalt von Zahlungen für überteuerte Anzeigen in ihren, gelesenen oder auch nicht gelesenen, Publikationen fließen. Bislang wird freilich auch ein wenig nachgeholfen, wo auch kein Wille ist. Ein Freund des Verfassers, ein alter Linker, welcher als Jugendlicher am Mai 1968 teilnehmen konnte und (mittlerweile im Quasi-Ruhestand) einige Jahre lang selbst ein kleineres Unternehmen im Gesundheitssektor leitete, erhielt eines schönen Tages einen telephonischen Anruf. Dabei wurde zunächst mit barscher Stimme nachgefragt, ob er etwas gegen die Polizei habe, um ihm kurz darauf nahezulegen, er könne doch eine schöne Anzeige in einer schönen Publikation schalten, eine bezahlte natürlich.

Nun ja, andersartige Organisationen, die für ebenfalls sehr netten Dienstleistungen – schützender Art – freundlich ein Schutzgeld einnehmen, tätigen ihre Anrufe möglicherweise auf nicht gar so andere Art.

Bummelstreik und Regierungs-Reaktionen

Doch zurück zu den ersten Reaktionen aus dem Polizeidienst auf die Nachricht von der Verhängung von U-Haft über einen der mutmaßlich am Tatgeschehen (rund um Hedi) in Marseille beteiligten Polizisten.

Diese Neuigkeit schmeckte zahlreichen Polizeimitgliedern nicht, die als bewaffnete Staatsvertreter zwar kein Streikrecht besitzen, jedoch ab dem Ende voriger Woche zunächst in Marseille, mittlerweile landesweit in den Bummelstreik traten. Code562 alias „Dienst nach Vorschrift“ war, oder ist, bei ihnen angesagt. (https://www.francebleu.fr/infos/faits-divers-justice/arrets-maladie-code-562-pourquoi-les-policiers-ont-lance-un-mouvement-de-fronde-7942749 externer Link) Von Nizza bis Paris verlangsamte (https://www.bfmtv.com/police-justice/frondes-des-policiers-a-nice-desormais-les-commissariats-tournent-au-ralenti_VN-202307250069.html externer Link) sich die Tätigkeit auf den Polizeiwachen, wo mitunter Opfer von Straftaten kaum oder gar nicht mehr in der Lage waren, noch Strafanzeige zu erstatten. Dies konnte etwa auch Frauen, die zu Opfern häuslicher Gewalt wurden, betreffen. (…denn, ja, es stimmt, es gibt auch Polizeifunktionen, jedenfalls manche, die durchaus im gesellschaftlichen Interesse nützlich, ja nötig sind! Was natürlich noch nichts über die konkrete Logik des aufgebauten Apparats aussagt, und dies ist im vorliegenden Falle nun mal eine überwiegend repressive.)

Vor einer Woche wurde aus Marseille zunächst der Bummelstreik von rund 200 Polizeibediensteten im mittleren Rang (officiers de police judiciaire, OPJ) vermeldet, zu Anfang dieser Woche waren es bereits 1.000, während die Bewegung auch die Hauptstadt erreichte. Mittlerweile wurden im Raum Paris bereits ein drastischer Rückgang der Aktivität der Justiz vermeldet: Innerhalb einer Woche sank die Anzahl der mutmaßlichen Straffälligen, die nach ihrer polizeilichen Vernehmung einer Staatsanwältin oder- in schwereren Fällen – einem Haftrichter vorgeführt werden, um ein Verfahren zu eröffnen, lt. Staatsanwaltschaft (parquet) um fünfzig Prozent.

Innenminister Gérald Darmanin schwieg dazu zunächst beharrlich (https://www.ladepeche.fr/2023/07/27/policiers-en-detention-a-marseille-pourquoi-gerald-darmanin-ministre-de-linterieur-reste-silencieux-11363817.php externer Link) und erklärte lediglich zu Anfang der polizeilichen Protestbewegung, er habe „großes Vertrauen“ in seinen Generaldirektor der Polizei. Also den Mann, der zu der Zeit nicht schlafen konnte. Vor ihn stellte sich der Minister faktisch. Der Pariser Polizeipräfekt Laurent Nuñez beeilte sich seinerseits, in einer Twitter-Nachricht den Mann zu unterstützen.

Auch dessen oberster Chef Emmanuel Macron nahm dazu Stellung, vom Westpazifik aus, wo er sich Anfang dieser Woche aufhielt. Neinnein, nicht auf der Flucht. Sondern auf Präsidentenbesuch in Neukaledonien, einem dort gelegenen französischen „Überseegebiet“ (vgl. https://jungle.world/artikel/2021/51/frankreich-bleibt-im-pazifik externer Link). Macron hielt von dort aus, in sicheren gut 16.700 Kilometern Entfernung von Paris, am Montag Abend eine TV-Ansprache an die französische Bevölkerung. Zum strittigen Thema blieb er jedoch eher kryptisch. Auf der einen Seite forderte er als Antwort auf die jüngsten Unruhen: „Ordnung, Ordnung, Ordnung“ (https://www.youtube.com/watch?v=T3LpNSD0qVs externer Link ), andererseits erklärte er, eher allgemein formulierend: „Niemand steht über dem Gesetz“ (… also, durfte man daraus nun schlussfolgern, auch nicht Polizisten). Ähnlich bei Gleichgewichtsübungen blieb seine Regierungschefin Elisabeth Borne etwa in ihrem TV-Interview am Mittwoch Abend, bei dem sie ein dickes Lob an die Polizei mit der Bemerkung, die Justiz müsse „ihre Arbeit tun“ können, verband.

Die als rechtslastig bekannte Polizeigewerkschaft Alliance – eine der beiden stärksten Berufsorganisationen französischer Polizistinnen und Polizisten – forderte einen besonderen „Rechtsstatus für Polizeibedienstete“, der etwa dafür sorgen soll, dass im Prinzip keine Untersuchungshaft (beim Verdacht auf schwerwiegende Straftaten) verhängt werden darf, sondern nur Auflagen wie eine Meldepflicht. Polizisten, die sich zu Aussagen verabreden? Nicht doch, sind ja doch keine ordinären Straftäter!

Am gestrigen Abend nun empfing Innenminister Darmanin die Polizeigewerkschaften im Ministerium. Diese zeigten sich am Ausgang „triumphal“. (Vgl. https://www.liberation.fr/societe/police-justice/les-syndicats-de-police-ressortent-triomphants-de-leur-rencontre-avec-darmanin-20230728_5IR44RRPUBCWRE2ZRISE4YGYVI/ externer Link

Konkrete Maßnahmen wurden zunächst keine vereinbart, wie in einem ersten Moment seitens der beteiligten Akteure verlautbarte, denn der Innenminister entscheide ja nicht allein etwa über Gesetzesvorhaben. Allerdings wurde Innenminister Darmanin am heutigen Vormittag am Amtssitz der Premierministerin – im Hôtel Matignon – empfangen, worüber quasi live im TV berichtet wurde, woraufhin bereits von eventuellen Gesetzesvorhaben im September d.J. die Rede war.

Von der eventuellen Schaffung eines besonderen Rechtsstatus für Polizisten, wie im Kern etwa durch Alliance gefordert, war dabei die Rede. Dieser könnte einen schützende Sperriegel gegen die Verhängung von Untersuchungshaft bilden. Minister Darmanin erklärte dazu übrigens schon einmal (…mit demagogischem Unterton), Polizisten dürften nicht «die Einzigen (sein) für die die Unschuldsvermutung nicht gilt», was allerdings auch niemand behauptet noch gefordert hatte, und auch keine «Schuldvermutung statt Unschuldsvermutung». (https://www.lindependant.fr/2023/07/27/violences-policieres-les-policiers-ne-doivent-pas-etre-les-seules-personnes-en-france-pour-qui-la-presomption-dinnocence-nexiste-pas-previent-gerald-darmanin-11365731.php externer Link und https://www.liberation.fr/societe/police-justice/gerald-darmanin-denonce-une-presomption-de-culpabilite-envers-les-policiers-20230727_ENV372VSJVGP5PDR2G4XUR6QVE/ externer Link)

Aber laut einem Kommuniqué der Polizeigewerkschaft Unité police vom heutigen Vormittag (liegt dem Verf. vor) auch von anderen Modalitäten die Rede. Demnach spreche sich das Ministerium etwa in dem Sinne aus, künftig werde es für beschuldigte Polizisten, die etwa vorübergehend vom Dienst suspendiert werden müssen, eine Gehaltsfortzahlung geben – diese wurde übrigens auch dem Todesschützen von Nanterre im Falle Nahel Merzouk gewährt, wozu das Ministerium gesetzlich nicht verpflichtet war (vgl. https://www.liberation.fr/societe/police-justice/mort-de-nahel-comment-gerald-darmanin-soutient-financierement-le-policier-mis-en-examen-20230710_64VC37SOEBHILH6XX4LLUCUFLI/ externer Link) -, wozu Unité police präzisierte, es werde nicht nur um die Grundgehälter gehen, sondern auch Gehaltsprämien mit umfassen. Überdies soll in solchen Fällen die protection fonctionnelle greifen, d.h. die Übernahme der Anwalts- und Verfahrenskosten durch den Staat. (Diese gilt von Gesetz wegen nur dann, wenn ein/e Beamter/in auf Anordnung von oben hin handelte, im konkreten staatlichen Auftrag, und dafür dann belangt werden soll.)

Distanziert hat sich inzwischen die CGT der Bediensteten des Innenministeriums (die allerdings nur durch circa ein Prozent der dort Beschäftigten unterstützt wird und eine Minderheitsgewerkschaft darstellt). Diese ruft nun ihrerseits für den Monat August dieses Jahres zum Streiken auf, doch nicht für eine autoritärere Politik – eine solche kritisiert sie in ihrem Aufruf sogar explizit – sondern für höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen. (http://www.cgt-unilever-hpc-france.com/2023/07/greve-des-personnels-du-ministere-de-l-interieur.html externer Link) Dagegen spricht nichts, doch waren es diese Anliegen, die die größeren Polizei„gewerkschafen“ jüngst verfolgten.

Artikel von Bernard Schmid vom 27.7.2023 – wir danken!

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Eine erstaunlich erstaunte Debatte über Rassismus in den Reihen der französischen Polizei, aber Verbote von Demos gegen Polizeigewalt

Kein Bock auf Öffentlichkeit für so’n Thema: Wie die französische Presse im Laufe der letzten Tagen infolge eines ersten Berichst in den Spalten der KP-nahen Tageszeitung L’Humanité vom 13. Juli dieses Jahres (vgl. https://www.humanite.fr/societe/racisme/exclusif-l-integralite-de-la-note-officielle-sur-le-racisme-dans-la-police-que-le-gouvernement-enterree-802985 externer Link) feststellen durfte, hatte die Regierungsspitze ihr seit nunmehr zwei Jahren ein Dokument zu einem mehr oder minder brisanten Thema vorenthalten. (Vgl. https://www.lemonde.fr/societe/article/2023/07/18/police-et-racisme-un-rapport-enterre-a-la-delegation-interministerielle-a-la-lutte-contre-le-racisme-l-antisemitisme-et-la-haine-anti-lgbt_6182396_3224.html externer Link)

Es ging um Rassismus in den Reihen der französischen Polizei, als im Juli 2021 ein sieben Seiten zuzüglich Anlagen unter dem einschlägigen Titel „Police et racisme“ an die „ministerübergreifende Aufgabenstelle für die Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Homophobie“ (DILCRAH) überreicht wurde. Die DILCRAH ist direkt dem Amt des Premierministers, das war damals Jean Castex– oder, seit Mai 2022, nunmehr dem Amt der Premierministerin – untergeordnet.

Bei dem Untersuchungsbericht handelt es sich nicht wirklich um eine Brandschrift. Die sieben Forscher/innen, die ihn verfassten, hatten für dessen Erarbeitung insgesamt siebzehn Personen aus Polizeidienst, Richter(innen)amt und aus der Hochschulforschung und -Lehre angehört. Sie stellen fest, dass es Rassismus bei manchen Polizeiangehörigen gebe und dass dies ein Problem bei Einsätzen „bei bestimmten Bevölkerungsgruppen“ darstelle; lehnen es jedoch ab, von „systemischem Rassismus“ (als historisch bedingter Grundkonstante in einem Apparat) zu sprechen. Sie sehen Probleme unter anderem in Mängel der Aus- und Fortbildung begründet, aber auch darin, dass viele Polizeibedienstete selbst aus kleineren Städten mit geringer Bevölkerungsdurchmischung stammten, aber als erste Dienstorte oft etwa in Pariser Trabantenstädten eingesetzt würden – weil erfahrenere Polizist/inn/en, die sich aufgrund erworbener Dienstjahre versetzen lassen können, sich von dort möglichst entfernen -, ohne Erfahrung mit oder Hineinsatzungsvermögen gegenüber dort lebenden Menschengruppen. Die Verfasser/innen reden vor allem besseren Ausbildungsprogrammen das Wort, woran nichts Falsches, auch nichts Revolutionäres ist. Aber sie wünschen auch eine Ersetzung der bisher für Untersuchungen gegen Polizeibedienstete – etwa beim Verdacht auf nicht durch dienstliche Erfordernisse gedeckte Gewaltanwendung oder Gesetzesverstöße – zuständigen Dienstinspektion IGPN, welche dem Innenministerium untersteht und damit derselben Hierarchie wie die obersten Polizeiebenen, durch eine andere Struktur. Diese sei beim Justizministerium anzusiedeln. Ähnliches wurde schon wiederholt vorgeschlagen, doch durch die Regierungspolitik nie ein-/durchgeführt. Vielleicht deswegen blieb der Untersuchungsbericht zum Thema einfach mal zwei Jahre hindurch unter Verschluss.

Etwas entschlossener gegen bestimmte Polizeibedienstete vor ging unterdessen die Justiz in Marseille. Am gestrigen Donnerstag nahm sie ein Strafverfahren vier Angehörige einer BAC (Brigade anti-criminalité), eines der Sondereinsatzkommandos der französischen Polizei, auf; mindestens einer von ihnen muss in Untersuchungshaft. Die Betreffenden stehen unter dem dringenden Verdacht, in der Nacht vom 1. zum 02. Juli dieses Jahres – in zeitlichem und örtlichem Zusammenhang mit den jüngsten Unruhen, jedoch gegenüber einem an ihnen Unbeteiligten – auf einen jungen Mann mit einem Gummigeschossgewehr LBD-40 geschossen, auf den am Boden liegenden eingetreten und -geprügelt sowie ihn ausgeraubt zu haben.

Bemerkenswert war jedoch auch, dass am Ausgang aus dem Polizeigewahrsam – in den die vier oben zitierten Polizeibeamten zu Wochenanfang zwecks Einvernehmung genommen worden waren – Dutzende von anderen Polizeibeamten Spalier standen und ihnen applaudierten. Mehrere Polizeigewerkschaften drohen unterdessen offen mit Gehorsamsverweigerung, sollten ihre Kollegen gar ungebührlich sanktioniert werden; die TV-Talkshow-Runden sind in den letzten beiden Tagen voll mit polizeilichen „Gewerkschafts“vertretern, handele es sich um Alliance (konservativ, teilweise weit rechts positioniert) oder SGP (früher als „sozialdemokratisch“ eingestuft und dem Dachverband Force Ouvrière angegliedert). (Vgl. u.a.: https://www.lemonde.fr/societe/article/2023/07/21/a-marseille-quatre-policiers-mis-en-examen-pour-violences-en-reunion_6182862_3224.html externer Link, https://www.huffingtonpost.fr/france/article/a-marseille-cette-haie-d-honneur-pour-les-policiers-soupconnes-de-violence-enerve-la-gauche_220898.html externer Link und https://www.francetvinfo.fr/faits-divers/police/violences-policieres/violences-policieres-a-marseille-un-syndicat-appelle-tous-les-policiers-de-france-a-se-mettre-en-service-minimum_5963411.html externer Link)

Verboten worden war am vorigen Samstag, den 15. Juli 23 erneut eine Demonstration zum Thema Polizeigewalt, wie bereits am Sonnabend zuvor, den 08. Juli d.J. (wir berichteten ausführlich).

Auch dieses Mal bestätigte das Verwaltungsgericht Paris in einem Eilverfahren, am Vormittag desselben Tages, das Verbot unter Hinweis auf die allgemeine Gefahrenlage im Zusammenhang mit den – zu dem Zeitpunkt allerdings seit anderthalb Wochen beendeten – Unruhen. (Am Vortag, also am Nationalfeiertag und Freitag, den 14. Juli, konnte hingegen eine Demonstration gegen Rassismus und für die Rechte der Sans papiers oder illegalisierten Einwanderer mit rund 1.000 Personen ungehindert stattfinden, wenn auch mit einer durch die Behörden einseitig abgeänderten Route.)

Stattdessen hielten die Veranstalter/innen des geplanten Protestzugs zum Thema Polizeigewalt dann ab 14 Uhr eine „Pressekonferenz“ unter freiem Himmel etwas seitlich abseits in der Nähe der place de la République ab. Und ab 15 Uhr konnte dann eine Saalkundgebung zum Thema in einer, kurzfristig durch das sozialdemokratisch-grün geführte Bezirksrathaus des 20. Pariser Bezirks zur Verfügung gestellten Turnhalle mit rund 300 Personen stattfinden. Diese verlief unbehindert, fing jedoch mit nicht unerheblicher zeitlicher Verzögerung an, da sämtliche Ein- und Ausgänge der Métro-Station République geschlossen worden waren, in deren Nähe sich die Teilnehmer/innen an der Pressekonferenz und damit auch Hauptredner/innen der Kundgebung wie Omar Slaouti und Amal Bentounsi befanden.

Artikel von Bernard Schmid vom 21.7.2023 – wir danken!

Siehe zu Polizeigewalt in Frankreich (in der jüngsten Zeit):

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=213702
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