Mehr Zeit für Alle! Gute Gründe, die Lohnarbeit zu reduzieren, gibt es viele. Doch nur wenige können sich das gegenwärtig auch leisten

Effizienz macht hässlich„… Treten wir aktuell angesichts des viel diskutierten Fachkräftemangels sogar in ein goldenes Zeitalter der Lohnarbeit ein, weil Unternehmen auf der verzweifelten Suche nach qualifiziertem Personal bereit sind, sich nicht nur, aber gerade auch in Sachen Arbeitszeit die Bedingungen von potenziellen Beschäftigten diktieren zu lassen? Leider spricht einiges gegen eine solche Perspektive. Dies ist umso schmerzlicher, als Arbeitszeitverkürzung durchaus einen wichtigen Schritt in eine menschlichere (Arbeits-)Welt darstellen könnte. Immerhin ist Lohnarbeit bzw. »abhängige Beschäftigung« keine angenehme Sache. (…) Arbeitszeitverkürzung als Selbstverteidigung: Selbst bei denjenigen, die tatsächlich »freiwillig« ihre Arbeitszeit reduzieren, ist allerdings oft schwer zu entscheiden, ob es sich um die Nutzung eines Privilegs in Befreiungsabsicht handelt oder doch eher um einen Akt der Selbstverteidigung (…) Ankerpunkt für eine solche Bewegung könnte die Forderung nach kurzer Vollzeit sein: etwa nach 25 Wochenstunden für alle, verbunden mit Lohn- und Personalausgleich…“ Artikel von Nicole Mayer-Ahuja vom 20.07.2023 im OXI-Blog externer Link – insgesamt lesenswert! Siehe zum Thema:

  • Tarifliches Wahlrecht: Warum die Mehrheit der Beschäftigten lieber mehr Zeit hätte als mehr Geld New
    „Einige Tarifverträge sehen mittlerweile für bestimmte Beschäftigtengruppen eine Wahlmöglichkeit zwischen „mehr Zeit“ oder „mehr Geld“ vor. (…) Angesichts nach wie vor bestehender Engpässe in der außerhäuslichen Kinderbetreuung und einer steigenden Zahl an Pflegebedürftigen ist eine flexible Anpassung des Arbeitslebens an die familiäre Situation für viele Beschäftigte von zentraler Bedeutung. Dies spiegelt sich nicht nur in einem hohen Anteil an Frauen, insbesondere Müttern, in Teilzeitbeschäftigung wider, sondern auch in arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahre wie der 2019 erfolgten Einführung der Brückenteilzeit. Sie sieht unter bestimmten Voraussetzungen eine zeitlich befristete Teilzeitarbeit mit Rückkehrrecht zur vorherigen Arbeitszeit vor (…) Eine im Jahr 2019 im Auftrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di durchgeführte Arbeitszeitstudie zeigt zudem, dass sich viele Beschäftigte neben kollektiven Regelungen vor allem mehr individuelle Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer Arbeitszeiten wünschen. Auch die Gewerkschaften haben sich hier in den letzten Jahren zunehmend engagiert. (…) Konkret können sich Beschäftigte in den beteiligten Betrieben jährlich zwischen der Zeitoption (je nach Tarifvertrag in Form von zusätzlichen Urlaubstagen oder einer verkürzten Wochenarbeitszeit) und der Geldoption (in Form von Sonderzahlungen oder einer monatlichen Entgelterhöhung) entscheiden. Allerdings haben oft nicht alle Beschäftigte in einem Betrieb dieses Wahlrecht. In vielen Tarifverträgen ist dies beispielsweise Tarifbeschäftigten, Schichtarbeitenden oder Eltern von kleinen Kindern vorbehalten. Näheren Aufschluss gibt eine Befragung von über 3.000 Beschäftigten und über 150 Betrieben, deren Ergebnisse allerdings nicht repräsentativ sind. (…) Fast 60 Prozent der Befragten mit Wahloption haben sich nach eigenen Angaben für eine zeitliche Entlastung entschieden, 6 Prozent haben eine Kombination aus Zeit und Geld gewählt und 34 Prozent optierten für eine Sonderzahlung oder monatliche Entgelterhöhung (…).Viele Beschäftigte wünschen sich also eine wöchentliche Arbeitszeitverkürzung oder mehr Urlaubstage, um Beruf und Privatleben besser miteinander vereinbaren zu können, und verzichten dafür auf monetäre Zugewinne in Form von Sonderzahlungen oder monatlichen Entgelterhöhungen. Die klassische Idealvorstellung einer Vollzeittätigkeit scheint demnach bei vielen Beschäftigten dem Wunsch nach einer stärkeren Flexibilisierung des Arbeitsumfangs zu weichen. Auch unter Beschäftigtengruppen, die bislang nicht von der genannten Wahloption Gebrauch machen können, ist der Wunsch nach mehr Zeit sehr groß. Die Beschränkung der Wahlmöglichkeit auf bestimmte Gruppen könnte daher bei den nicht wahlberechtigten Beschäftigten zu einer gewissen Unzufriedenheit führen. Dies könnte zumal dann der Fall sein, wenn Aufgaben von Beschäftigten, die sich für weniger Arbeitszeit entschieden haben, auf andere Beschäftigte umverteilt werden müssen. Auch wenn die Daten darauf hindeuten, dass viele Beschäftigte ihre Entscheidung zugunsten von mehr Zeit durch eigene Vor- und Nacharbeit auffangen, ist es für die Betriebe unter Umständen eine Herausforderung, die infolge der Arbeitszeitverkürzung anfallende Mehrarbeit gerecht zu verteilen beziehungsweise allen Beschäftigten eine Wahloption einzuräumen. Angesichts des steigenden Fachkräftebedarfs könnte die Einführung oder Ausweitung der Wahloption für Betriebe ein Instrument sein, um Fachkräfte leichter zu rekrutieren und gut ausgebildete Beschäftigte stärker an sich zu binden. Das Wahlmodell kann somit Vorteile für Betriebe und Beschäftigte gleichermaßen bieten. Ein gleichberechtigter Zugang zum Wahlmodell ist bislang jedoch nicht flächendeckend erreicht, von nicht tarifgebundenen Betrieben ganz abgesehen. Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass Betriebe mit Wahloption die „verbleibende“ Arbeit in geeigneter Weise „umverteilen“ müssen, was manche Betriebe vor eine organisatorische Herausforderung stellen dürfte. Angesichts der bisherigen Umsetzung der Wahloption steht zu befürchten, dass sich bestehende Ungleichheiten zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen verfestigen oder sogar neu bilden könnten…“ Beitrag von Kevin Ruf, Ann-Christin Bächmann, Anja Abendroth-Sohl und Alexandra Mellies vm 22. Juli 2024 beim IAB-Forum externer Link

    • Anm.: Bei dieser Befragung sollte der Zwangscharakter der Regelung entweder mehr Geld oder mehr arbeitsfreie Zeit nicht übersehen werden. Einer wirklich freie Entscheidung ist so gar nicht oder nur sehr begrenzt möglich. Allerdings lässt sich aus dem Ergebnis der Umfrage auch eine Kritik an diesem Gewerkschaftskonstrukt herauslesen. Der hohe Anteil für freie Zeit statt Geld spricht auch dafür, dass die Gewerkschaften in Richtung Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverlust weitergehen könnten, ja, müssten, auch um der geplanten Verringerung der Freizeit durch Arbeitszeitverlängerung etwas entgegenzusetzen.

Siehe u.a. auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=213661
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