[Buch] Vergesellschaftung, Sozialisierung, Gemeinwirtschaft – Transformationspfade in eine andere Gesellschaft

[Buch von Christopher Schmidt beim Verlag Westfälisches Dampfboot] Vergesellschaftung, Sozialisierung, Gemeinwirtschaft - Transformationspfade in eine andere GesellschaftWährend sich stetig zuspitzender sozialer und ökologischer Krisen sucht die gesellschaftliche Linke intensiv nach grundlegenden Lösungen. Sie strebt nach emanzipatorischen Institutionen, die jenseits von Profitmaximierung, Ausbeutung und Wachstumszwang ein gutes Leben für alle ermöglichen sollen. Ob „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“, Wellen der Re-Kommunalisierung, die Commons-Forschung oder Energiegenossenschaften – der Begriff der Vergesellschaftung und mit ihm die Eigentumsfrage erleben eine Renaissance. Christopher Schmidt folgt ihren historischen Spuren, um Schlussfolgerungen für eine gelingende Zukunft zu ziehen. Er erörtert den Begriff der Vergesellschaftung anhand seiner zentralen Spannungsfelder. Welche Formen kollektiven Eigentums gibt es? Was sind erprobte Wege, diese zu erreichen und welche politische Analyse liegt ihnen zugrunde?…“ Aus dem Umschlagtext des Buchs von Christopher Schmidt beim Verlag Westfälisches Dampfboot – siehe mehr Informationen zum Buch und daraus einen Auszug aus dem Fazit als Leseprobe – wir danken!

Auszug aus dem Fazit als Leseprobe im LabourNet Germany

Die Geschichte der Vergesellschaftung ist die Geschichte der Akteur:innen, die sie forderten und derer, die für sie kämpften. Sie ist eine Geschichte der sozialen und politischen Auseinandersetzung. Die Idee der Vergesellschaftung fand ihren Ursprung in der Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels und wurde von der Arbeiterbewegung des 19. Und 20. Jahrhunderts zur ihrer Kernforderung erhoben. Sie hatte Debattenhöhepunkte in den unmittelbaren Jahren nach den beiden Weltkriegen. Die etablierten Institutionen des privaten Eigentumsregimes und der kapitalistischen Marktwirtschaft waren zu diesen Zeiten geschwächt, die ökonomischen Notlagen sorgten für Suchbewegungen nach alternativen wirtschaftspolitischen Lösungen. So ergaben sich günstige Zeitfenster für Forderungen nach grundlegender Veränderung der Eigentumsordnung. Der Großteil der deutschen Sozialisierungsforderungen war von antimonopolistischen, sowie nach 1945 von antifaschistischen Motiven geprägt. Neben der systemoppositionellen Rätebewegung fokussierte sich ein großer Teil der diskutierten Konzepte vordergründig auf eine Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum. Durch diese erhoffte man sich, die gesellschaftliche Verfügungsmacht auf die Gesamtwirtschaft bei simultaner Absicherung der Privatwirtschaft zu erweitern (vgl. Brückner 2013, 218). Geprägt war diese Strategie zum einen von Rudolf Hilferdings Vorstellung der Herausbildung eines steuerungsfähigen Generalkartells, sowie von der Angst wirtschaftlichen Scheiterns und autoritärer Entfremdung bei Übernahme des Staates durch die Institutionen der Arbeiterklasse. Auf betrieblicher Ebene hatten Unternehmensformen des Gemeineigentums stets eine Vorbildfunktion inne. Genossenschaften drängten die Ausbeutung der Arbeiter:innen zurück, halfen dort, wo es der Markt nicht vermochte, versuchten die Ideale der Gleichheit und Solidarität der Sozialisierungsbewegung im Hier und Jetzt vorzuleben und gelten auch heute noch als fortschrittliche Organisationen, die ihren Fokus auf soziale, demokratische und ökologische Ziele neben dem des reinen Profits richten (vgl. Notz 2021, 177). Formen der Vergesellschaftung von unten entstanden jedoch oft in gesellschaftlichen Krisensituationen – weniger als utopische Projekte, sondern als solche des Überlebens. Die Kapitalseite betrachteten sie nicht als drohendes „Gespenst des Kommunismus“ und duldeten sie (vgl. Leibiger 2022, 255). Die letztendlichen Institutionalisierungen der Vergesellschaftung waren zu jedem Zeitpunkt weit von den Vorstellungen ihrer radikalen Befürworter:innen entfernt. In der Gründungsphase der Weimarer Republik war die Möglichkeit einer enteignenden bzw. wiederaneignenden Vergesellschaftung im großen Stil real und von der Kapitalseite gefürchtet. Sie wurde von den Gewerkschaften und der (M)SPD im politischen Diskurs als Drohkulisse genutzt, um lang geforderte und tiefgreifende, wenn auch niedrigschwelligere Maßnahmen durchzusetzen. Der Begriff der Vergesellschaftung war im Hinblick auf konkrete Praxen allzeit unklar definiert und stellte deshalb eine Projektionsfläche diverser institutioneller Konzepte dar. Sie vermochte es, den Besitzenden Konzessionen in Form von Institutionalisierungen der Erweiterung gesellschaftlicher Verfügungsmacht abzuverlangen, gelangte dabei aber nie selbst zur vollen Verwirklichung.

Die Realisierung politischer Vorstellungen hängt allzeit mit den Machtressourcen derer zusammen, die sie formulieren. Die Forderung nach Vergesellschaftung wurde stets am vehementesten im außerparlamentarischen Rahmen vorgetragen, fand sich aber auch bis Godesberg in Programmen sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien wieder. Gab es in der Zeit der Novemberrevolution 1918 mit der Arbeiterbewegung eine breite, mehrarmige Akteurin[1] mit materieller Durchsetzungskraft, deren radikaler Teil die Umwälzung der gesamten Eigentumsordnung und eine Neuordnung des gesellschaftlichen Systems forderte, so existierten nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Zerschlagung der Arbeiterbewegung im Nationalsozialismus faktisch lediglich noch die SPD und der DGB als Träger:innen der Forderung nach Vergesellschaftung. Der Sozialisierungskatalog der kleiner gewordenen Bewegung beschränkte sich nur noch auf die Schlüsselindustrien. Die akute, das System mit einem Schlag verändernde Kulisse des radikalen Arms fehlte, die amerikanische Besatzungsmacht stellte den Kurs auf eine Westorientierung im sich zuspitzenden Kalten Krieg, und so konnten der Gegenseite weniger tiefgreifende Konzessionen abgerungen werden. Ab den 1980er-Jahren gelang es den Antagonist:innen der Vergesellschaftung dann, den aufgeklärten Neoliberalismus der Sozialen Marktwirtschaft mit seinen Versprechen der Teilhabe, Freiheit und Gleichheit an die Stellte des Narratives der solidarischen Kollektivwirtschaft zu setzen. Die tradierten Formen sozialisierter Gegeninstitutionen stießen im Kontext sich verbreiternder Marktlogiken, eines gesellschaftlichen Wertewandels, sowie der eigenen zentralistischen Ausrichtung an ihre Grenzen. Die genossenschaftliche Idee entkernte sich, die SPD wurde zur breit ausgerichteten Volkspartei und die Gewerkschaften gerieten in Defensivposition, aus der sie sich bis heute nicht zu erheben vermochten. Der neue soziale Bewegungscharakter nahm ihren Platz in der Sphäre der Ökonomie nicht ein und führte seine politischen Kämpfe in ideologischen Großbewegungen und nicht als Auseinandersetzung um die Eigentumsverhältnisse.

Heute gestaltet sich die Ausgangslage für Vergesellschaftungsmaßnahmen komplex. Die Globalisierung hat eine neue Stufe vergesellschafteter Arbeit, die Verlagerung rechtlicher Kompetenzen auf transnationale Institutionen, sowie komplexe, international agierender Formen von Eigentum und Monopolen hervorgebracht, die global abwandern, wenn sie sich bedroht fühlen. Konzepte der Vergesellschaftung wären in vielen Sektoren nur noch unter massivem Zwang und nationaler Abschottung durchsetzbar. Um Lösungen für dieses Dilemma zu finden, bleiben heutigen Akteur:innen zwei Optionen: Sie müssen international agieren, um Forderungen in der Produktionssphäre entlang internationaler Lieferketten aufstellen zu können. Dabei sehen sie sich allerdings mit einem globalen Institutionengeflecht konfrontiert, welches eine deutliche Systementscheidung für die Marktwirtschaft getroffen hat. Der benötigte gesellschaftliche Druck müsste immens sein, um grundlegende Erfolge erringen zu können. Gleichzeitig zwingt die ökologische Krise unsere Gesellschaften dazu, global zu denken und gemeinsame Lösungen zu finden. National zeigen jedoch Initiativen wie „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, dass es weiterhin Spielräume und Ansatzpunkte gibt, wenn es gelingt, das vermeintlich abstrakte Konzept der Vergesellschaftung als Lösung konkreter regionaler Probleme anzubieten. (…)

Die Eigentumsfrage kann als verbindendes Element politischer Kämpfe um verschiedene Herrschaftsverhältnisse und Problemlagen hervorgehoben und neu gestellt werden (vgl. Möller 2012, 269f). Die Wirksamkeit der Vergesellschaftung als politisches Druckmittel hängt davon ab, ob sie im 21. Jahrhundert ein Gewand finden kann, mit dem es ihr gelingt, zur mobilisierungsfähigen Hoffnungsträgerin starker sozialer Bewegungen zu werden, die konkrete Lösungen für die demokratietheoretischen Defizite der Digitalisierung, sich verstärkende sozialen Ungleichheitsverhältnisse, sowie die nahende Klimakatastrophe finden wollen. Es wäre zu wünschen, dass derartige Bewegungen nicht erst in tiefgreifenden gesellschaftlichen Krisen, wie sie in den Nachkriegszeiten gegeben waren, wirkmächtig werden. Die Eigentumsfrage kann in wirtschaftlichen Teilbereichen die notwendige Bedingung einer grundlegenden Veränderung darstellen. „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ hat uns daran erinnert, dass „Eigentumsverhältnisse […] nach wie vor als eine politisch konstruierte Entscheidung zu begreifen sind“ (Engartner 2007, 92). Es gilt, ihre Veränderbarkeit anhand akuter Auseinandersetzungen wieder vorstellbar zu machen und gesellschaftliche Organisationsprozesse anzustoßen, die den notwendigen Stärkeaufbau für ihre Durchsetzung ermöglichen.

Anmerkung

1) Es ist hier noch einmal anzumerken, dass die damalige Arbeiterbewegung stets verschiedene, teils vordergründig gar widersprüchliche politische Strategien der und Konzepte von Vergesellschaftung zeitlich in sich trug und formulierte.

Siehe u.a. zum Thema im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=213200
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