BAG entscheidet im Kündigungsschutzprozess für Arbeitgeberinteressen an (illegaler) Videoüberwachung – zulasten des Verwertungsverbots in der Betriebsvereinbarung

BestandsdatenauskunftIn einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht. (…) Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte vor dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts bis auf einen Antrag betreffend ein Zwischenzeugnis Erfolg…“ Aus der BAG-Pressemitteilung zum Urteil vom 29. Juni 2023 – Armin Kammrad findet den laxen Umgang mit den Regeln der DSGVO sowie mit den Mitbestimmungsrechten des Betriebsrates in seinem Kommentar bedenklich, siehe beide im Beitrag:

  • Offene Videoüberwachung – Verwertungsverbot
    „In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht. Der Kläger war bei der Beklagten zuletzt als Teamsprecher in der Gießerei beschäftigt. Die Beklagte wirft ihm ua. vor, am 2. Juni 2018 eine sog. Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie gleichwohl vergütet zu bekommen. Nach seinem eigenen Vorbringen hat der Kläger zwar an diesem Tag zunächst das Werksgelände betreten. Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen einer durch ein Piktogramm ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera an einem Tor zum Werksgelände ergab nach dem Vortrag der Beklagten aber, dass der Kläger dieses noch vor Schichtbeginn wieder verlassen hat. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich, hilfsweise ordentlich. Mit seiner dagegen erhobenen Klage hat der Kläger ua. geltend gemacht, er habe am 2. Juni 2018 gearbeitet. Die Erkenntnisse aus der Videoüberwachung unterlägen einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot und dürften daher im Kündigungsschutzprozess nicht berücksichtigt werden. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte vor dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts bis auf einen Antrag betreffend ein Zwischenzeugnis Erfolg. (…) Dies folgt aus den einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts sowie des nationalen Verfahrens- und Verfassungsrechts. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes bzw. der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) entsprach. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, wäre eine Verarbeitung der betreffenden personenbezogenen Daten des Klägers durch die Gerichte für Arbeitssachen nach der DSGVO nicht ausgeschlossen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Datenerhebung wie hier offen erfolgt und vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers in Rede steht. In einem solchen Fall ist es grundsätzlich irrelevant, wie lange der Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial zugewartet und es bis dahin vorgehalten hat…“ Aus der BAG-Pressemitteilung vom 29. Juni 2023 zum Urteil vom 29. Juni 2023 – 2 AZR 296/22 externer Link, siehe auch:

    • BAG zur Videoüberwachung am Arbeitsplatz
      „Kann eine gegen Datenschutzregeln verstoßende Videoüberwachung des Arbeitsplatzes zur Dokumentation eines Fehlverhaltens im Kündigungsschutzprozess verwertet werden – oder gilt zugunsten des Arbeitnehmers ein Beweisverwertungsverbot? (…) Die Überwachung verstoße [nach Ansicht des Klägers] gegen Bundes- und EU-Datenschutzrecht. Auch seien die Aufnahmen zu lange gespeichert worden: Hinweisschilder hätten eine Speicherdauer von 96 Stunden ausgewiesen, die hier überschritten worden sei. Zudem hatte in einer Betriebsvereinbarung gestanden, dass die Videoaufzeichnungen nicht zur Auswertung personenbezogener Daten verwendet werden dürfen. Aus diesen Verstößen sowie der Betriebsvereinbarung folgerte der Arbeitnehmer, dass die Aufzeichnungen im Kündigungsschutzprozess einem Verwertungsverbot unterlägen. (…) Im Prozess um eine fristlose Kündigung wegen eines vorsätzlichen Fehlverhaltens wiegt das Interesse nach Auffassung des BAG des Arbeitgebers an der Aufklärung des Sachverhalts stärker als die Datenschutzinteressen des Arbeitnehmers. Dies sei nur dann nicht der Fall, „wenn die offene Überwachungsmaßnahme eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstellt. Das war vorliegend nicht der Fall“ (…) „Mit der Entscheidung setzt das BAG seine eher verwertungsfreundliche Linie fort“, sagte Rechtsanwalt Prof. Dr. Michael Fuhlrott (FHM) auf LTO-Anfrage. „Bereits in der Vergangenheit hatte das Bundesarbeitsgericht betont, dass Datenschutz kein Täterschutz ist und Beweisverwertungsverbote nur bei gravierenderen Verstößen gegen datenschutzrechtliche Vorgaben angenommen.“ (…) Bemerkenswert und neu ist das Urteil nach Einschätzung von Rechtsanwalt Tobias Neufeld (Arqis) aber trotzdem – und zwar deshalb, weil das BAG hier festhalte, dass auch eine Betriebsvereinbarung Beweisverwertungsverbote nicht eigenständig begründen könne. „Das bindet die Gerichte nicht“, so Neufeld auf LTO-Anfrage. Der Europäische Gerichtshof hat über die Frage, ob aus DSGVO-Verstößen ein gerichtliches Verwertungsverbot abzuleiten sein könnte, laut Fuhlrott noch nicht entschieden. In einem früheren Verfahren habe das BAG einen möglichen Konflikt mit Unionsrecht zwar angedeutet, auf eine Vorlage nach Luxemburg aber verzichtet. Auch im neuerlichen Fall sah das BAG dafür offenbar keinen Anlass.“ LTO-Beitrag vom 30. Juni 2023 externer Link

BAG entscheidet im Sinne von Arbeitgeberinteressen für Videoüberwachung am Arbeitsplatz

Bedenklich ist bei dieser Entscheidung nicht nur, die – ohne EuGH-Bestätigung und von den Vorinstanzen nicht geteilte – feste Überzeugung des BAG, rechtlich alles richtig zu machen, sondern auch der laxe Umgang mit den Regeln der DSGVO sowie mit den Mitbestimmungsrechten des Betriebsrates. Was besitzt der Betriebsrat für rechtliche Möglichkeiten bei einem arbeitgeberseitigen Verstoß gegen vereinbarte Verhaltensweisen?

Es sollte sich auch niemand dadurch täuschen lassen, dass in diesem Fall tatsächlich ein Arbeitszeitenverstoß vorliegen kann. Gesetze und Vereinbarungen machen nur Sinn, wenn sie im Zweifelsfall auch eingehalten werden, besonders dann, wenn sie – wie hier – als wesentliches Beweismittel angeführt werden. Es ist vielleicht hilfreich, sich den umgekehrten Fall vorzustellen: Eine Überwachung von arbeitgeberseitigen rechtlich angreifbaren Aktivitäten. Würde dann gerichtlich ähnlich entschieden? Oder käme die Arbeitgeberseite mit dem Hinweis auf ein datenrechtliches Verwertungsverbot auch dann davon, wenn eindeutige Rechtsverstöße durch ein Video beweisbar wären? Was da derzeit an Wistlleblower-Schutz geplant ist, macht ebenfalls wenig Hoffnung.

Bei der BAG-Entscheidung gibt es noch eine wichtige Besonderheit. Denn es ist ja nicht so, dass zufällig ein Arbeitszeitverstoß durch Video aufgezeichnet wurde. Dass BAG sieht „grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen“ (wobei durch die Betriebsvereinbarung die Videoüberwachung in diesem Fall eigentlich beschränkt und nicht offen war). Ganz offensichtlich versucht das BAG eine Videoüberwachung am Arbeitsplatz grundsätzlich zu legalisieren, trotz DSGVO und möglicherweise einschränkender Betriebsvereinbarung. Letztere macht das BAG faktisch wertlos. So kann und soll vertragswidriges Verhalten durch Videoüberwachung überhaupt erst entdeckt werden, d.h. dass auch unabhängig von diesem konkreten Fall das BAG der Arbeitgeberseite Verstöße gegen den Datenschutz und gegen Betriebsvereinbarungen mit einem Schluck aus der hochrichterlichen Pulle genehmigt, oder wie das BAG selbst erklärt, nur bei „schwerwiegende(r) Grundrechtsverletzung“, gäbe es einen rechtlichen relevanten Vorstoß. Somit versucht das BAG nicht nur Videoüberwachung am Arbeitsplatz zu legalisieren, sondern erlaubt der Arbeitgeberseite sogar Rechtsverstöße und die Ignoranz von Betriebsvereinbarungen, sofern die damit verbundene Grundrechtsverletzung nicht schwerwiegend ist. Schwerwiegend erscheint mir eher eine Justiz, die Recht und Gesetz an einseitige Klasseninteressen anpasst. Abgesehen vom Sachverhalt, sollten Betriebsräte deshalb dieses fragwürdige Verhalten des BAG nicht einfach abhaken. Das BAG ist zweifellos ein unabhängiges Gericht, aber deshalb noch lange nicht neutral bei der Beurteilung von Rechtsfragen im Verhältnisses von Kapital und Arbeit. Fehlverhalten oder vorsätzliche Tat? Wie oben zitierte anwaltliche Aussagen vermuten lassen, ist der Kläger eindeutig Täter und die Beklagte dessen Opfer selbst dann, wenn sie gesetzwidrig grenzenlose Überwachung betreibt und außerdem die genauen persönlichen Gründe für das behauptete Verhalten des „Täters“ im Dunkel bleiben.

Kommentar von Armin Kammrad vom 1. Juli 2023 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=213047
nach oben