»
Sudan »
»
»
Sudan »
»

Bürgerkrieg im Sudan: ÄrztInnen und Pflegekräfte arbeiten im Ausnahmezustand, dabei helfen Apps und Solidarität

Sudan: Schwarz auf Weiß - zwei Hände zerbrechen ein Gewehr, darunter steht Stoppt den Krieg in Sudan! auf EnglischInsbesondere Ärzt*innen und Pflegekräfte aus dem Sudan standen neben Lehrer*innen in den Aufständen der letzten Jahre gegen die Diktatur und das Militärregime an erster Stelle. Als in Großbritannien Pflegekräfte in den Streik traten, solidarisierten sich Ärzt*innen aus dem Sudan. Kurz danach änderte sich für sie alles. Seitdem im April 2023 im Sudan ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist, stehen unter anderem die Hauptstadt Karthum, aber auch andere Orte unter Beschuss der rivalisierenden Gruppen. Insbesondere Wohngegenden und Krankenhäuser werden angegriffen und zerstört. Ende Mai 2023 wurde außerdem der politisch aktive Arzt Dr. Alaa al-Din Nagmeldin al-Nugoud vom Militär entführt… Wir dokumentieren den Solidaritätsaufruf sowie Hintergründe zu den Arbeitsbedingungen und den (alltäglichen) Kämpfen im Pflegebereich:

  • Nach zwei Monaten Bürgerkrieg sind rund zwei Drittel aller Krankenhäuser außer Betrieb
    „… Über zwei Monate sind vergangen, seitdem der Krieg in Sudan ausgebrochen ist. In dem tödlichen Konflikt kämpft das sudanesische Militär (SAF) unter der Führung von Abdelfattah al-Burhan gegen die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) unter der Leitung von Mohamed Hamdan Dagalo, kurz Hemetti. An die 2.000 Menschen wurden bisher getötet. 1,9 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Laut UN sind 24,7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Doch nur 1,8 Millionen von ihnen wurden von humanitären Hilfsorganisationen bisher erreicht. Alle bislang verhandelten Waffenstillstände wurden auf die ein oder andere Weise von beiden Seiten unterwandert. In den umkämpften Gebieten sind rund zwei Drittel der Krankenhäuser außer Betrieb – Überlastung und Mangel an medizinischem Material in den verbleibenden Krankenhäusern sind die Folgen. (…) Das Militär bombardiert weiterhin Wohngebiete und zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser, auch ohne, dass sich RSF-Soldaten in ihnen verschanzt hätten. Die Angriffe auf Mitglieder der Komitees sind ein Anzeichen dafür, dass der Konflikt nicht nur ein Krieg zwischen Militär und Milizen, sondern auch beider Parteien gegen die Zivilbevölkerung ist…“ Artikel von Saskia Jaschek in ak vom 20. Juni 2023 externer Link („In Sudan beginnt ein Bürger*innenkrieg, Triebmittel sind alte Vorurteile und der Angriff auf die revolutionäre Bewegung“)
  • Ärzt*innen berichten über das Chaos und wie sie auf das Internet angewiesen sind, um zu arbeiten
    „Im April dieses Jahres brach in Khartum ein Feuergefecht zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) in der Nähe der Residenz des SAF-Führers General Abdel Fattah al-Burhan aus. Seitdem haben die Kämpfe die sudanesische Hauptstadt überrollt, so dass Zivilisten in ihren Häusern eingeschlossen sind und keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Da immer mehr Zivilisten ins Kreuzfeuer geraten, haben die Ärzt*innen Mühe, die rasch steigende Zahl von Opfern zu behandeln. „Drei Tage nach Kriegsbeginn waren wir in einem Krankenwagen unterwegs und lieferten Medikamente aus, als wir zwischen die Bombardierung durch die Armee und die Schüsse der RSF gerieten“, berichtet Dr. Alnameir Gibril Ibrahim, ein 46-jähriger Herzchirurg, gegenüber New Lines. „Wir mussten anhalten, denn wenn wir weitergefahren wären, hätten die Flugzeuge uns für ein Ziel gehalten“, erzählt er weiter. „Wir waren mitten drin und standen 20 Minuten lang unter Beschuss, um uns herum nur Staub von den Kämpfen.“ Schließlich gelang es Ibrahim und seinem Team, die Medikamente abzuliefern. Doch als sie zum Al Shaab Teaching Hospital zurückkehrten, war es zweimal bombardiert worden. „Wir mussten unser gesamtes Personal und die Patienten evakuieren und in ein anderes Krankenhaus verlegen“, erklärt er.  (…)
    Bis zum 20. Mai waren 39 der 59 Krankenhäuser in Khartum durch Artilleriebeschuss und Luftangriffe geschlossen worden, während 60 von 110 Krankenhäusern in Khartum und den Nachbarstaaten ebenfalls zerstört wurden. In der Stadt El Geneina in der sudanesischen Region West-Darfur gibt es nach Angaben der Sudanesischen Ärztevereinigung keine funktionierenden medizinischen Einrichtungen mehr. In den 29 Krankenhäusern, die noch in Betrieb sind, sind Strom und Wasser knapp, die medizinischen Vorräte gehen gefährlich zur Neige, und Treibstoff ist astronomisch teuer und fast unmöglich zu finden. Die Krankenhäuser haben keine Lebensmittel und die Ärzte arbeiten rund um die Uhr, um die Patient*innen in einem Gesundheitssektor zu versorgen, der am Rande des Zusammenbruchs steht (…)
    Nogod und einige seiner Kolleg*innen haben außerdem WhatsApp-Gruppen mit Listen von Ärzt*innen verschiedenster Fachrichtungen und deren Kontaktdaten erstellt, um es den Patient*innen angesichts der Krankenhausschließungen leichter zu machen, sich bei Bedarf behandeln zu lassen. „Es gibt auch eine Liste von Apotheken, die den Menschen Medikamente nach Hause liefern können, wenn sie in der Nähe wohnen“, fährt er fort und beschreibt, wie er und seine Kolleg*innen sich an die schwierigen Umstände angepasst haben. „Wenn es kein Internet gibt, ist das eine Katastrophe“, sagt er. „Die Ärztegruppe, die den Bürgern in ihren Häusern hilft, kann nicht mehr arbeiten, wir wissen nicht, wie die Lage in den Krankenhäusern ist und was sie brauchen, wir wissen nicht, ob sie Leute brauchen, die dorthin geschickt werden. Nogod ist nicht der einzige seiner Kolleg*innen, der Drohungen erhalten hat. Viele werden auch beschuldigt, RSF-Kämpfer zu behandeln. „Aber Ärzt*innen sind neutral“, stellt er klar. „Wir behandeln jeden, der verletzt ist und durch unsere Türen kommt.“ Im Moment sind einige Krankenhäuser noch geöffnet, obwohl die Kämpfe buchstäblich vor der Haustür stattfinden. „Es ist ein absolutes Chaos“, sagt er. Die Ärzt*innen arbeiten rund um die Uhr und viele seiner Kolleg*innen sind seit mehr als einem Monat nicht mehr zu Hause gewesen. Es ist auch unglaublich gefährlich. Krankenwagen seines Krankenhauses wurden bereits sechs Mal beschossen und elf Kolleg*innen wurden seit Beginn der Kämpfe getötet. Selbst die Möglichkeit, die Leichen der Toten ordnungsgemäß zu bestatten, ist eine Herausforderung. „In den Krankenhäusern gibt es keine Leichenhalle mehr“, sagt Nogod und beschreibt, wie eine Gruppe von Studierenden der Universität Khartum einmal einen ihrer Kommilitonen unter dem Fußballfeld der Universität begraben musste, weil sie die Universität mehrere Tage lang nicht sicher verlassen konnten. (…) Nogod sagt, dass viele Ärztinnen und Ärzte das Gefühl haben, dass sie und die Krankenhäuser, in denen sie arbeiten, besonders ins Visier genommen werden, weil sie bei der Revolution 2018 eine wichtige Rolle gespielt haben. „Die Ärztinnen und Ärzte waren eine starke Kraft in der ersten Revolution 2018 und haben 271 Tage lang gegen Omar al-Bashir gestreikt, und ich habe das Gefühl, dass sich diese Leute jetzt an den Ärztinnen und Ärzten und der Widerstandsgemeinschaft rächen“, sagt er. „Ich glaube, das ist gezielt.“ Nogod glaubt, dass viele Sudanesen nach dem Putsch, der Bashir stürzte, optimistisch waren, in welche Richtung sich das Land entwickeln würde, aber diese Hoffnung ist inzwischen verloren gegangen. „Die Menschen hofften auf einen zivilen Premierminister und darauf, dass der Sudan nicht mehr auf der Liste der terroristischen Länder steht. Wir haben angefangen, eine gute Außenbeziehung aufzubauen, die Menschen arbeiten auf eine bessere Zukunft hin und wir haben viele große Infrastrukturprojekte, zu denen Delegierte aus Ländern der Ersten Welt kommen, um hier zu investieren. Es gab also große Hoffnung.“ Dann änderte sich alles innerhalb eines Tages. „Es ist schrecklich, an den Krieg in der Hauptstadt zu denken, aber die Ärzt*innen im Krankenhaus arbeiten immer noch und es gibt viel Licht am Ende des Tunnels und es ist dieses Licht, das uns weiter machen lässt.“ „Das medizinische Personal ist überarbeitet, gestresst und denkt zu viel nach, und wir können uns nicht mehr an Richtlinien und Protokolle halten, wir tun einfach, was wir für den Patienten*in für richtig halten.“ (…) „Wir sehen, wie Kugeln durch die Fenster unserer Krankenstationen kommen und Bomben durch das Dach reißen, aber jeden Tag gibt es Menschen, die sofortige Hilfe brauchen und deshalb bin ich hier, um zu tun, was ich kann, für alle, die in Not sind“, sagt er. „Das sind meine Leute und das ist unsere Stadt, die wir lieben.“
    Artikel von Lynzy Billing vom 15. Juni 2023 auf New Lines Mag externer Link („Mayhem Prevails in Khartoum’s Hospitals“)
  • Apps helfen Menschen in Karthum Lebensmittel, Medikamente und ggf. auch Flucht zu organisieren
    „… Der Bürgerkrieg im Sudan hat die lebenswichtige Infrastruktur des Landes schwer beschädigt und die Gesundheitsversorgung, die Telekommunikation und das Bankwesen beeinträchtigt. Mindestens sechs sudanesische Start-ups haben sich der Situation gestellt und helfen den Bürgerinnen und Bürgern, sich in dieser schwierigen Zeit zurechtzufinden. Als die sudanesischen Generäle Ende April einen 72-stündigen Waffenstillstand vereinbarten, konnte Enas Elewad nach mehr als einer Woche endlich ihr Haus verlassen, um die Lebensmittelvorräte für ihre Familie aufzufüllen. Doch das erwies sich als Herausforderung – das sudanesische E-Banking-System funktionierte seit Beginn des Krieges nicht mehr und Elewad konnte nicht auf ihr eigenes Geld auf ihrem Bankkonto zugreifen. „Wir hatten schon fast nichts mehr“, sagte die 34-jährige Zahnärztin aus der Hauptstadt Khartum gegenüber Rest of World. „Wir hatten kein Geld mehr, um Strom und Lebensmittel zu kaufen und sogar die lächerlichen Transportkosten zu bezahlen, wenn wir uns für eine Evakuierung entschieden hätten.“ (…) Der Machtkampf zwischen dem sudanesischen Militär und der gut finanzierten Milizgruppe Rapid Support Forces hat wichtige Infrastrukturen zerstört und das Gesundheitswesen, die Telekommunikation, die Logistik und das Bankwesen lahmgelegt. Die Online-Dienste der Bank of Khartoum, die den Großteil des digitalen Bankenmarktes im Land kontrolliert, funktionieren nicht richtig. (…) Nur drei Tage nach Beginn des Krieges startete das sudanesische Marktforschungsunternehmen DataQ eine Plattform namens Nidaa (was auf Arabisch „Hilferuf“ bedeutet). Auf dieser Plattform können Menschen in Not ihre Bedürfnisse posten – von Geld und Lebensmitteln bis hin zu medizinischer Versorgung und einer Mitfahrgelegenheit – damit Freiwillige sie erreichen können. Nidaa hat Noha Abdalla, einer 35-jährigen Software-Ingenieurin, geholfen, mit ihrer neunköpfigen Familie nach Ägypten und dann in die USA zu fliehen. „Ich wurde von einer gemeinnützigen Organisation, für die ich ehrenamtlich tätig war, auf Nidaa aufmerksam gemacht“, sagte sie gegenüber Rest of World aus Virginia, wo sie zurzeit lebt. „Ich habe mein Anliegen [bei Nidaa] angegeben und konnte alle Hilfe und Ressourcen erhalten, die wir in dieser schwierigen Zeit brauchten, einschließlich der medizinischen Versorgung meines kranken Elternteils.“ (…)
    Sudan Safe Passages, eine Freiwilligengruppe von Einheimischen und Diaspora-Sudanesen, hat eine App namens Amen entwickelt, sagte Hiba Sharief, ein Silicon Valley-Veteran und leitender Technologieexperte bei Amazon Web Services. Amen nutzt Crowdsourcing-Daten, um Echtzeit-Updates über sichere Transportwege und die Verfügbarkeit von Krankenhäusern zu senden…“
    Artikel von Damilare Dosunmu vom 15. Juni 2023 auf Rest of World externer Link („As war rages in Sudan, small startups are helping people find food, money, and flee”)
  • Führender sudanesischer Arzt vom Militär entführt
    „Dr. Alaa al-Din Nagmeldin al-Nugoud wurde am Samstag, den 27. Mai, von bewaffneten Männern aus seinem Haus an einen unbekannten Ort gebracht. Nach Angaben von Dr. al-Nugouds Familie gaben sie sich als Angehörige des Geheimdienstes und der Streitkräfte zu erkennen. Dr. Al-Nugoud ist Mitglied des Zentralrats der Kräfte der Freiheit und des Wandels und Sprecher der sudanesischen Berufsvereinigung. Ärztegewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen haben wiederholt auf die Angriffe des Militärs und der Milizen auf Mediziner und Krankenhäuser aufmerksam gemacht. Nach Angaben der Sudanesischen Ärztevereinigung wurden bis zum 16. Mai 20 Krankenhäuser zwangsevakuiert und von beiden Seiten als Militärstützpunkte genutzt. Krankenhäuser werden als Zufluchtsort für Soldaten und zur Durchführung von Angriffen genutzt und 17 Krankenhäuser wurden bombardiert, so die Gewerkschaft. Viele Krankenhäuser wurden geplündert und schwer beschädigt, während andere nur noch Notfälle und begrenzte Erste Hilfe leisten konnten. Brücken werden von den beiden militärischen Fraktionen blockiert, so dass keine Arbeitenden durchkommen. Mindestens 6 Krankenwagen wurden beschossen und daran gehindert, ihr Ziel zu erreichen. Sudanesische Aktivist*innen haben der Nahost-Solidarität mitgeteilt, dass die Befürchtung wächst, dass die Verhaftung von Dr. Al-Nagoud Teil eines systematischen Versuchs der sudanesischen Streitkräfte und ihrer Gegner in der Miliz der Rapid Support Forces ist, um kritische Stimmen zum laufenden Krieg einzuschüchtern und möglicherweise auszuschalten. Dr. Al-Nugoud hat auf einer von MENA Solidarity organisierten und von britischen Gewerkschaften unterstützten Solidaritätskonferenz gegen den Militärputsch vom Oktober 2021 gesprochen und ist eine führende Persönlichkeit in einer großen Koalition von politischen Parteien. Auch Aktivist*innen der Widerstandskomitees sind Ziel von Verhaftungen und Verschwindenlassen geworden. Was du tun kannst: Fordere die sudanesische Botschaft in deinem Land öffentlich auf, die sudanesischen Streitkräfte aufzufordern, Dr. Alaa al-Nugoud unverzüglich freizulassen, die Angriffe auf und Verhaftungen von Arbeitenden im Gesundheitswesen sowie die Angriffe auf medizinische Einrichtungen einzustellen.“ Erklärung von MENA Solidarity vom 28. Mai 2023 externer Link („Urgent action: Leading Sudanese Doctor seized by military“)

Siehe zu weiteren (Arbeits-)Kämpfen und Hintergründen im Sudan im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=212833
nach oben