Am autoritären Kipppunkt: „Law and Order“-Politik hat Konjunktur

Dossier

#dontwaitasinglemoment – Schluss mit der Lethargie gegenüber der AfD und ihrer Stiftung!„… In der Klimaforschung ist ein Kipppunkt ein Moment, an dem – laut Weltklimarat – „eine kritische Grenze“ erreicht wird, „jenseits derer sich ein System umorganisiert“, neue Prozesse sich verfestigen und negative Dynamiken sich beschleunigen. Dies lässt sich auch auf gesellschaftliche Kipppunkte übertragen. Kipppunkte entstehen nicht zufällig, sie sind das Ergebnis länger zurückliegender destruktiver Prozesse. Doch im Gegensatz zum Klima sind gesellschaftliche Prozesse nie unumkehrbar. Allerdings sind etablierte Diskurse, Strukturen und Normen oft nicht rückgängig zu machen. Sind autoritäre Kipppunkte überschritten, wird der Boden brüchig, auf dem plurale und demokratische Gesellschaften stehen…“ Kommentar von Daniel Mullis, Maximilian Pichl und Vanessa E. Thompson vom 16. Juni 2023 in der taz online externer Link, siehe mehr daraus und da

  • Autoritarismus Studie 2024: Bei rechtsextremen Einstellungen, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus zeigt sich der Westen durchaus vom Osten lernfähig New
    • Autoritarismus Studie 2024: Rassismus: Westen nähert sich Osten
      Eine Studienreihe untersucht seit 2002, wie verbreitet rechtsextreme Einstellungen in der Gesellschaft sind. Vor allem im Westen wird eine atmosphärische Verschiebung deutlich: Bei rassistischen Einstellungen gibt es eine Annäherung an den Osten – insbesondere bei Muslimfeindlichkeit…“ Beitrag von Anne-Béatrice Clasmann vom 13.11.2024 im Migazin externer Link
    • Alle Infos zur Leipziger Autoritarismus-Studie 2024 externer Link
    • Autoritarismus-Studie: West und Ost wachsen zusammen
      Rund 35 Jahre nach der Wiedervereinigung gleichen sich West und Ost an: Rechtsextreme Einstellungen sowie Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus nehmen im Westen Deutschlands zu. Das geht aus der Leipziger Autoritarismus-Studie 2024 hervor, die heute vorgestellt wurde…“ Beitrag von Michael Klarmann vom 13. November 2024 bei endstation-rechts externer Link
    • Leipziger Autoritarismus-Studie: Rassismus auf Vormarsch
      Die Ausländerfeindlichkeit nimmt in Deutschland wieder zu; Grund dafür ist vor allem der Anstieg in Westdeutschland. Zu diesem Ergebnis kommt die 12. Leipziger Autoritarismus-Studie, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde. Seit 2002 erhebt sie im Zweijahrestakt die Einstellungen der Bevölkerung zu autoritären und demokratiefeindlichen Tendenzen.
      Rassismus nimmt zu
      Bei 31,5 Prozent der Befragten in Ostdeutschland beobachteten die Studienautor*innen eine »manifeste Ausländerfeindlichkeit« (2022: 33,1 Prozent). Dazu gehört etwa die Zustimmung zur Aussage, die Bundesrepublik sei »durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet«. In Westdeutschland stieg der Wert von 12,6 Prozent bei der letzten Befragung auf 19,3 Prozent. Angesichts dessen sprach Studienleiter Oliver Decker von einer deutlichen »atmosphärischen Verschiebung« im Westen. Ko-Leiter Elmar Brähler erklärte: »Die Ausländerfeindlichkeit hat sich damit zu einem bundesweit geteilten Ressentiment entwickelt.«
      U
      nzufrieden mit dem System
      Zudem vernahmen die Forschenden einen deutlichen Rückgang in der Zufriedenheit mit dem politischen System, vor allem im Osten: Nur noch 29,7 Prozent der Befragten in Ostdeutschland sprachen sich für die Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert, aus (2022: 53,5 Prozent). Aber auch im Westen sind laut der Studie nur noch 46 Prozent mit dem Funktionieren der Staatsform zufrieden (2022: 58,8 Prozent) – das ist der geringste Wert seit 2006. Die Interviewten gaben als Grund dafür vor allem ihre Unzufriedenheit mit Parteien und Politiker*innen sowie einen Mangel an Möglichkeiten zur Mitbestimmung an.
      Zurück zu alten Rollenbildern. (…)
      Auch wenn Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus der Studie zufolge auf dem Vormarsch sind – geschlossen rechtsextreme Weltbilder bleiben selten. Dafür ist eine hohe Zustimmung in sechs Dimensionen notwendig: Verharmlosung des Nationalsozialismus, Autoritarismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und Chauvinismus. Nur 4,5 Prozent der Befragten fallen in diese Kategorie. Bei der ersten Befragung im Jahr 2002 lag der Wert bei 9,6 Prozent. Doch auch hier hat der Studie zufolge eine Angleichung zwischen Ost und West stattgefunden, die offenbar auf die Abnahme rechtsextremer Weltbilder in Ostdeutschland zurückzuführen ist.“ Artikel von Anton Benz  vom 13.11.2024 in ND online externer Link
  • Migrationsfeindliches Grundrauschen: Thesen zur Eskalation der migrationspolitischen Debatte nach Solingen
    „… Vertreter:innen aller im Bundestag vertretenen Parteien – mit Ausnahme der LINKEN – sprachen nach Solingen von der Notwendigkeit einer migrationspolitischen Wende. Entsprechend standen nicht nur Maßnahmen im Bereich Sicherheit zur Debatte, etwa Messerverbote im Fernverkehr der Bahn, oder die Frage, wie der Radikalisierung junger Menschen vorgebeugt werden könne. Vielmehr wurde auch das von der AfD seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 kultivierte Narrativ übernommen, wonach Migration, Kriminalität und Extremismus eng verwoben seien. Einzig so erklärt sich, weshalb die Bundesregierung bereits sechs Tage nach dem Anschlag von Solingen ein Sicherheits- und Asylpaket präsentierte, das unter anderem vorsieht, Asylbewerber:innen sämtliche Geldleistungen zu streichen, für die rechtlich ein anderer europäischer Staat zuständig ist – Letzteres mit der Begründung, dass sich der Attentäter von Solingen einer Abschiebung nach Bulgarien gemäß Dublin-Regeln entzogen hätte.
    Doch eskaliert ist die Debatte erst nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen am 1. September. Als Einpeitscher fungierte unter anderem CDU-Chef Friedrich Merz. In einer viel beachteten Wahlkampfrede lobte er all jene Zugewanderten, die ihren Platz in Deutschland gefunden hätten, hetzte aber auch skrupellos: „Schaut euch die Schulen an, schaut euch die Wohnraumsituation an, schaut euch die Universitäten an, schaut euch die Krankenhäuser an, schaut euch die Arztpraxen an, schaut euch an, was das für Konsequenzen hat, wenn ein Land durch Migration überfordert ist.“
    Kurzum, es passte bestens, dass Christian Jakob und Maximilian Pichl in einem gemeinsamen Beitrag für die taz von einer neuerlichen „Eruption des migrationsfeindlichen Grundrauschens“ sprachen, von einer jener Konjunkturen des Rassismus, die die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bereits seit vielen Jahrzehnten prägen. Lässt man die etwas anders gelagerten Debatten um Vertriebene und Arbeitsmigrant:innen außen vor, begann es spätestens 1980, als die FAZ ausgerechnet am 8. Mai mit der Schlagzeile titelte „Dämme gegen die Asylanten-Springflut“. (…)
    Flucht und Migration sind zentrale Transmissionsriemen für die Rechtsverschiebung, nicht zuletzt deshalb, wie die Autoren Volker M. Heins und Frank Wolff schreiben, weil „die hochgerüsteten Grenzen der Gegenwart (…) Disziplinierungsmaschinen sind, die die ausschließende Gesellschaft selbst zur Akzeptanz von Gewalt und Ausschluss erziehen“. Das aber heißt, dass die Rechtsverschiebung nur gestoppt werden kann, wenn der Umgang mit Flucht und Migration auf neue Füße gestellt wird. (…) Fünftens müssten die aktuellen Diskurse entgiftet werden. Denn Fakt ist, dass Migration im Kern nichts mit teuren Mieten, fehlender ärztlicher Versorgung oder Unterrichtsausfall zu tun hat und daher getrennt davon zu behandeln ist
    .“ Artikel von Olaf Bernau in der graswurzelrevolution 493 vom November 2024 externer Link, lese dazu auch

  • Soziologin Nicole Mayer-Ahuja über Auswirkungen der Militarisierung: „Befehl und Gehorsam sind keine demokratischen Werte“
    „… Die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft ist keine gute Nachricht für abhängig Beschäftigte. Wer seine Arbeitskraft verkaufen muss, um den Lebensunterhalt zu sichern, ist ohnehin in hohem Maße zu Freiheitsverzicht gezwungen: Ein Betrieb ist kein Parlament, da zählt bei Entscheidungen nicht die große Zahl, sondern das Direktionsrecht. Bei Arbeit im Militär ist dies besonders ausgeprägt: Befehl und Gehorsam sind keine demokratischen Werte – und je mehr Menschen, etwa per Wehrpflicht, durch diese Schule gehen, desto schwieriger wird Demokratisierung in anderen Teilen der Arbeitswelt. Schon die Diskussion über „systemrelevante“ Berufe hatte problematische Züge: Die Aussetzung der Höchstarbeitszeit, vor allem aber Forderungen, das Kündigungs- und Streikrecht zu schleifen, erinnern stark an die „unfreie Arbeit“, zu der Menschen im Krieg gezwungen werden. (…) Mehr noch als „Standortkonkurrenz“ im Rahmen transnationaler Produktion untergraben Kriege die Solidarität zwischen Arbeitenden. Schuld an der existentiellen Gefahr scheinen zunächst nicht Regierungen oder Unternehmen zu haben, sondern die, die einem an der Front oder am anderen Standort gegenüberstehen: die oder wir, lautet dann oft die Losung. Dringend notwendig wäre, dass Arbeitende und ihre Gewerkschaften die Beteiligung an kriegerischen Zeitenwenden verweigern – weil sie es sind, die in den Schlachten fallen und für deren Bildung, Wohnung oder soziale Absicherung kein Geld da ist, wenn Rüstungsprofite subventioniert werden. Außerdem untergräbt die Legitimierung von immer barbarischeren Formen der Kriegführung, die gerade auch die Zivilbevölkerung trifft, die Solidarität unter Arbeitenden noch weiter. Die Forderung nach internationaler Solidarität ist schwer zu erfüllen, aber ohne Alternative – in Wirtschaftskriegen wie militärischen Konflikten. Im Interesse der Arbeitenden muss es heißen: Die Waffen nieder!Interview von Benjamin Roth vom 01. Oktober 2024 in Telepolis externer Link mit Nicole Mayer-Ahuja
  • Demokratie als Auslaufmodell? 
    Die westlichen liberalen Demokratien werden von Krisen geschüttelt: „Ist das noch Demokratie oder kann das weg?“ Diese provozierende Frage setzt die Philosophin Erica Brenner auf das Cover ihres neuen Buches. Der Philosoph und frühere Politiker Julian Nida-Rümelin empfiehlt den Zeitgenossen, sich nicht wie „Ähren im Wind“ dem wechselnden Zeitgeist anzupassen und warnt angesichts von Hassreden und Intoleranz vor geistigen Bürgerkriegen. „ttt“ greift die Debatte auf.“ Video des Beitrags in der Sendung  ttt – titel, thesen, temperamente am 22.09.2024 externer Link in Das Erste
  • Die Feinde der Ohnmacht: Gegenwärtige Forderungen nach »Migrationskontrolle« zeigen die Tendenz des Liberalismus, in Faschismus überzugehen
    „… Vor 80 Jahren hatte sich der Wirtschaftssoziologe Karl Polanyi in seiner Studie zur »Great Transformation« jener Selbstzerstörung der liberalen Gesellschaften angenommen, die ultimativ in den Zweiten Weltkrieg gemündet war. Polanyi schilderte recht pointiert den Widerspruch jener damaligen »Marktgesellschaften«. Diese aus dem Erbe der Aufklärung hervorgegangenen Nationalstaaten hielten das Ideal der menschlichen Freiheit hoch, deren Realität aber war die formale Freiheit des Marktes, die mit himmelschreienden Ungleichheiten und sozialem Elend einherging. In diesem immer offensichtlicheren Zwiespalt zwischen Idee und Wirklichkeit, erkannte Polanyi, bleibt in den liberalen Demokratien irgendwann »keine andere Alternative übrig, als entweder einer illusionären Vorstellung von Freiheit treu zu bleiben und damit die gesellschaftliche Realität zu leugnen, oder diese Realität anzuerkennen und die Idee der Freiheit abzulehnen. Das erstere ist die Schlußfolgerung der Liberalen, das letztere die der Faschisten.« (…) In dieser Beschreibung lässt sich viel des gegenwärtigen Dilemmas der »Migrationsdebatte« wiedererkennen: Das liberale Bekenntnis zu Menschen- und Asylrecht von Zivilgesellschaft bis »wertegeleiteter« Politik wird zunehmend als schlicht weltfremd betrachtet. Daher dränge sich – zumindest für ein Drittel der Wähler*innen in Sachsen und Thüringen – die Konsequenz auf, das liberale Establishment gleich ganz abzuwählen. (…) Die Anfälligkeit des Liberalismus für Selbstzerstörung liegt in seiner Abstraktionstendenz begründet. Bürgerliche Herrschaft ist Herrschaft der Abstraktion. (…) Dieses ideelle Bekenntnis ist der Grund, warum eine Linke dem Liberalismus immer ein Dorn im Auge bleibt und bürgerliche Parteien im Zweifel die Rechten vorziehen. Traditionell besteht die Linke darauf, dass Freiheit und Gleichheit eben noch nicht verwirklicht sind und es sogar einen Systemwechsel bräuchte, um die aufklärerischen Ideale umzusetzen. (…) Der Faschismus nimmt die reale Erfahrung von Unfreiheit und Ungleichheit zum Beweis, dass die Ideen von Freiheit und Gleichheit immer nur Lügen sein können. Deshalb richtet er sich gegen die Ideen selbst: lieber soll Unfreiheit und Ungleichheit herrschen, als in der liberalen Lüge zu leben. Und genau aus diesem Grund ist Antiliberalismus ein verbindendes Moment der Rechten. Aber warum ist dieser Hass auf den Liberalismus so attraktiv und findet (wieder) eine solche Massenbasis? (…) Im selben Jahr wie Polanyis »Great Transformation« erschien 1944 in den USA jenes berüchtigte »schwärzeste Buch« (Jürgen Habermas) der Kritischen Theorie. Darin widmeten sich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ebenfalls jenem Widerspruch bürgerlicher Gesellschaften, den sie schlicht »Dialektik der Aufklärung« nannten. (…) In dem Kapitel »Elemente des Antisemitismus« leiteten sie diesbezüglich eine schlagende und vor allem treffende Kritik am Liberalismus her, die den oben beschriebenen Zusammenhang auf den Punkt bringt: Der Liberalismus könne dem mörderischen antisemitischen Wahn, der die bürgerlichen Gesellschaften erfasste, nur die Idee gleicher Menschen entgegenhalten. »Indem aber die liberale These die Einheit der Menschen als prinzipiell bereits verwirklicht ansetzt, hilft sie zur Apologie des Bestehenden«. (…) Genau die skrupellose Instrumentalisierung für den eigenen Machtgewinn, die den Faschismus auszeichnet, ist jedoch ein liberales Element – und dieses Element erklärte für Max Horkheimer 1947 »die Tendenz des Liberalismus, in Faschismus umzuschlagen«. Denn, so die Analyse seiner »Kritik der instrumentellen Vernunft«, Vernunft habe sich zu etwas entwickelt, das nicht mehr den Bezug zur Wahrheit meint, sondern ein zweckrationales Kalkül der eigenen Vorteile. Ist Vernunft einmal auf dieses bloße Eigeninteresse reduziert, »verbleibt kein wirksames, rationales Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenhalts«. (…) Wer Freiheit und Gleichheit für gute Ideen hält, die in der Realität aber nie ganz verwirklicht werden können, ist liberal. Wer Freiheit und Gleichheit für schlechte Ideen hält, die es für die eigene Herrschaft zu überwinden gilt, ist Faschist. Die Positionen stehen sich unversöhnlich gegenüber und doch gehen sie ineinander über, wie wir momentan beobachten. Ihr Widerspruch ist ein Zusammenhang, und zwar als Produkte einer widersprüchlich eingerichteten Gesellschaft. Und jenes Dilemma, das uns die gesellschaftlichen Verhältnisse aufzwingen, zwingt uns in diese Verhältnisse. An einer freien und gleichen Gesellschaft festzuhalten, bedeutet, diesem Zwang nicht nachzugeben.“ Essay von Alex Struwe vom 9. September 2024 in Neues Deutschland online externer Link – in Gänze lesenswert!
  • Über politische Grenzen hinweg konsolidiert sich in Deutschland ein neuer Autoritarismus – dabei wird dringend eine starke Linke gebraucht
    • Autoritäre Wende: Über politische Grenzen hinweg konsolidiert sich in Deutschland ein neuer Autoritarismus
      „Genau 85 Jahre war es am 1. September 2024 her, dass mit dem Überfall Deutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg begann. Seit den 1950er-Jahren wird dieser Jahrestag bereits als Antikriegstag begangen, lange in beiden deutschen Staaten. Und eigentlich, so könnte man denken, hätte das Jahr 2024 Anlässe genug für eine Großdemonstration ungekannter Dimension geboten, die sich im Angesicht der weltpolitischen Konstellation dem alten Motto „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ unter neuen Vorzeichen hätte verschreiben können. Doch das Datum im Jahr 2024 wird nicht als dieser Tag in Erinnerung bleiben, die Antikriegsbewegung blieb aus. Erinnern wird man es stattdessen als jenen Sonntag, an dem im Deutschland der „Zeitenwende“, „Brandmauer“ und „Staatsräson“ eine faschistische Partei eine Landtagswahl gewann und in der zweiten den Sieg nur knapp verfehlte. Vorangegangen war der Anschlag in Solingen und ein auch im hiesigen Rechtsruck beispiel- und bodenloser rassistischer Überbietungswettbewerb, an dem sich nahezu alle politischen Akteure beteiligten. Vorangegangen waren dem ebenfalls Monate, in denen eine selbstgefällige deutsche Mehrheitsgesellschaft wahlweise Palästinenser:innen oder Araber:innen zu den Wiedergängern des deutschen Faschismus stilisierte, dessen Bekämpfung dann auch im Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörden liegen sollte. (…) In diesem neuen Deutschland hat man Antikriegstage scheinbar nicht mehr nötig. In Zeiten einer mit dem Ausspruch „Nie wieder ist jetzt!“ begründeten deutschen Staatsräson, die zur waffenexportierenden Unterstützung eines mittlerweile fast ein Jahr andauernden Massakers herangezogen wird, kann das nur oberflächlich überraschen. Die deutschen Lehren aus der Geschichte erweisen sich, je mehr sie bemüht werden, umso mehr als hohle Phrasen. (…) Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es am Wahlabend gerade Bernd Baumann, der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, war, der in der Berliner Runde des ZDF die politischen Entwicklungen trefflich auf den Punkt brachte, als er fragte, warum von Brandmauern gesprochen und der AfD eine Koalitionsregierung verweigert würde, während in den Wahlprogrammen doch bei der AfD abgeschrieben worden sei. (…) Im allgemeinen, schwindelerregenden Krisengeschehen hat die politische Mitte ihr Programm auf Sicherheit, Militarismus und einen Krisennationalismus umgestellt. In einem kürzlich erschienenen Interviewband zu seinem Lebenswerk hat der Philosoph Jürgen Habermas das mit eindrücklichen Worten als eine politische „Regression“ identifiziert, in der sich die „Kurzsichtigkeit eines konzeptionslosen Westens“ verberge. Habermas beklagt nicht nur in der hiesigen Ukraine-Debatte einen „anhaltenden rhetorischen Rückfall in eine bellizistische Mentalität“ und fährt fort: „Mich beunruhigt, dass sich inzwischen das Bewusstsein der politischen Eliten im Westen von der Logik des Krieges mehr und mehr vereinnahmen lässt. Im Schatten der Gefahr eines wiederkehrenden Trumps herrschte auf der Münchner Sicherheitskonferenz dieses Jahres eine hektische Stimmung, die fast schon Erinnerungen an die kriegsschwangere Traumtänzerei von 1914 aufkommen ließ.“ (…) Was aber kann das heißen? Ein kritisches Nachdenken in angemessener Distanz über einen von Kriegslogik, Verunsicherung und Rassismus neu formierten Nationalismus könnte ein Anfang sein…“ Leitartikel von Mario Neumann vom 4. September 2024 bei medico externer Link
    • Demokratie in Zeiten des Rechtsrucks: Wofür Deutschland jetzt dringend eine starke Linke braucht
      Der Aufstieg des BSW zeigt, dass viele Linkspartei-Wähler ihre politische Heimat rechts der Mitte suchen. Über antilinke Hegemonie, besorgte Bürger und ein neues soziales Fundament. (…)
      In einer breiten Diskurskoalition ist es gelungen, ausgerechnet die regierenden Grünen, die an staatstragendem Pragmatismus kaum zu überbieten sind und sogar mit ihren eigenen Vorschlägen hinter den Klimazielen zurückbleiben, als linke Klimaideologen an den politischen Rand zu drängen. Aus politischen Gegnern sind für immer mehr Menschen Feinde geworden, die Polizeischutz im Bierzelt und eine Eskorte beim Plakatieren brauchen. Wir leben aber nicht nur in Zeiten, in denen Rechte extremer werden und andere im Gewand der Mitte nach rechts abbiegen, sondern auch in Zeiten der populistischen antilinken Hegemonie. Weder die schwächelnde Linkspartei noch die regierungskritische Grüne Jugend, Gewerkschaften oder zivilgesellschaftliche Initiativen haben dem derzeit substanziell etwas entgegenzusetzen. (…) Zu beobachten ist eine doppelte, höchst widersprüchliche Diskreditierung linker Politik: Ihr wird entweder vorgehalten, sie sei elitär und würde sich nur um die identitätspolitischen Belange akademischer querer Großstädter kümmern; oder es heißt, sie sei ideologisch und weltfremd – ein Vorwurf, der immer dann zu hören ist, wenn Linke sozial-politische Maßnahmen vorschlagen, die tatsächlich einer großen Mehrheit weniger privilegierter Menschen zugutekäme.  Das Fatale an der antilinken Hegemonie ist, dass wir auf eine starke Linke angewiesen sind, um den Rechtsruck zu stoppen. (…) Linkssein bedeutet deshalb, von Konkurrenz auf Solidarität umzuschalten, um Freiheits- und Autonomiebarrieren zu beseitigen und gleiche Lebenschancen zu realisieren. Linkssein bedeutet zudem, die Verhältnisse als gestalt- und veränderbar zu begreifen: Wo Konservative Ordnung loben und viele politische Akteure im Chor Sachzwänge propagieren, sehen Linke die Herrschaft dahinter. Linkssein ist deshalb mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber allem verbunden, was als natürlich, normal und notwendig gilt. Linkssein bedeutet, über diese Gestaltungsspielräume zu streiten und die Definition des vermeintlich Alternativlosen als das Recht der Stärkeren zu erkennen
      …“ Gastbeitrag von Silke van Dyk am 07.09.2024 im Spiegel online externer Link
    • Der Rechtsstaat schützt nicht vor Faschismus
      Der italienische Autor Alberto Toscano im Gespräch über den Faschismus der Gegenwart und unscharfe Grenzen zur Normalität. Interview von Raul Zelik vom 06.09.2024 in ND online externer Link mit Alberto Toscano  – muss in Gänze gelesen werden
  • Anti-linke Konjunktur und inhaltliche Rechtsverschiebungen: Gegen die »links-grüne« Bedrohung 
    Für Rechte ist progressive Politik ein Feindbild. Aber auch Sozialdemokraten und Bürgerliche grenzen sich immer mehr nach links ab. Was bedeutet das?
    Im November 2023 versprach Donald Trump seinen Anhänger*innen: »Wir werden die Kommunisten, Sozialisten, Faschisten und linksradikalen Verbrecher ausrotten, die wie Ungeziefer in den Ritzen unseres Landes leben.« Die größte Gefahr für die USA sei keine externe Bedrohung, sondern komme aus dem Inneren: »Sie werden alles tun, ob legal oder illegal, um Amerika und den amerikanischen Traum zu zerstören.« Die Linke als Gruppe von Schädlingen und Faschisten, als subversiv-destruktive Bedrohung – das Zitat illustriert eine rhetorische Eskalation, die für einen größeren Zusammenhang steht. Wir durchleben aktuell nicht nur eine Rechtswende bis hin zu Faschisierungsprozessen, sondern in vielen Ländern auch eine dezidiert anti-linke Konjunktur. Gemeint ist damit eine gesellschaftspolitische Konstellation (eine »Conjuncture« im Sinne des britischen Kulturtheoretikers Stuart Hall), in der die Linke nicht nur geschwächt ist und es ihr auch nicht nur an strategischem Weitblick und Utopien mangelt. Sondern sie fungiert auch als so etwas wie ein kollektiver Gegner und Sündenbock, der als Feindbild ein gegnerisches Lager eint, das von der extremen Rechten bis in die bürgerliche »Mitte« reicht. (…) Was genau unter »links« verstanden wird, ist dabei, so denken wir, gar nicht entscheidend. (…) Für diesen Modus sei entscheidend, dass der gesellschaftlichen Mitte beziehungsweise den «normalen Leuten» ein Bedrohungsszenario vorgesetzt werde. Der links-grüne Gegner, so das skizzierte Szenario, schlage nicht nur falsche oder gefährliche Politik vor, sondern sei eine «Bedrohung der eigenen Identität», er verachte die «normalen», «hart arbeitenden» Menschen und wolle sie übervorteilen. Man müsse sich also zur Wehr setzen. (…) Auch in einer ganz anderen politischen Ecke finden strategische Weichenstellungen statt: Eine Reihe vormals dezidiert linker Politiker*innen lehnen die Selbstbeschreibung als Linke heute ab. Sie distanzieren sich von klassischen und neuen Symbolen der politischen Linken sowie nicht zuletzt von kulturellen Figuren, die das Linkssein vermeintlich verkörpern: «Klimakleber*innen», «Gutmenschen», «Lifestyle-Linke» und so weiter. Teils handelt es sich dabei um defensive rhetorische Neupositionierungen, also um eher taktische Maßnahmen, für die Gewinnung von Zustimmung. Vor allem aber liegen hier inhaltliche Rechtsverschiebungen vor, also hin zum Nationalismus, zur Schließung von Grenzen, zur Heteronormativität, zur Fortführung fossiler Energiegewinnung und so weiter. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) illustriert die inhaltliche Verschiebung von links nach rechts im zweiten Sinne besonders deutlich. (…) Aus unserer Sicht lässt sich in inhaltlicher wie methodischer Hinsicht vor allem an Analysen Stuart Halls anknüpfen, um die gegenwärtige anti-linke Konjunktur zu verstehen. Zunächst einmal ist die Ähnlichkeit der gegenwärtigen Vorgänge zur «Great Moving Right Show» Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre auffällig. (…) Hall unterstrich, dass die Rechte in dieser Zeit anti-linke Ressentiments mobilisieren konnte, weil die regierende Sozialdemokratie sich in der Krisensituation in tiefe Widersprüche verheddert hatte. (…) Die neue Rechte unter der Führung Thatchers griff staatskritische Stimmungen auf und behauptete auf der Seite der Bevölkerung zu stehen, indem sie an den kleinbürgerlichen Alltagsverstand andockte: für traditionelle Werte wie Recht und Ordnung, harte Arbeit, Familie und Patriotismus – und gegen den Staat und den «inneren Feind», also die gesellschaftliche Linke und ihr vermeintlich gesellschaftszersetzendes Umfeld. (…) Zugleich, und auch dies ist in der Gegenwart ähnlich, lud sie – mithilfe rechter Medien und der Polizei- und Justizapparate – die Frage von «Recht und Ordnung» rassistisch auf. Hall und seine Ko-Autoren argumentierten in ihrem Buch «Policing the Crisis»von 1978, dass die Neue Rechte Zustimmung organisierte, indem sie die staatlichen Organe als unfähig bis unwillig beschrieb, die Straßengewalt unter Kontrolle zu bringen, welche angeblich von messertragenden, migrantisch geprägten Gangs ausgehe. Dass auch heute eine sozialdemokratisch geführte Regierung an ihren Widersprüchen scheitert, zu Sparmaßnahmen greift und rechten Kräften darin zustimmt, dass Migration die «Mutter aller Probleme» (Seehofer) sei, macht die offenkundigsten Ähnlichkeiten der beiden anti-linken Konjunkturen aus. Von der sehr viel weiter gediehenen Neoliberalisierung von Ökonomie und Alltagskultur über die greifbar werdende Klimakrise bis zum medientechnischen Wandel mangelt es natürlich auch nicht an Unterschieden. Wichtig scheint uns dabei ein Punkt: Anders als damals geschieht die Bekämpfung der gesellschaftlichen Linken und ihrer emanzipatorischen Bestrebungen nun strömungsübergreifend und in weitgehender Einhelligkeit. Die politischen Interventionen der Rechten, der Mitte und der «Linkskonservativen» befeuern sich mittels einer Abgrenzung nach links gegenseitig.“ Artikel von Moritz Ege und Alexander Gallas vom 30. August 2024 in Neues Deutschland online externer Link („Anti-linke Konjunktur: Gegen die »links-grüne« Bedrohung“). Siehe auch:

  • Verlockend einfach: In Deutschland werden gängige Erzählungen zur Migration nicht gern infrage gestellt. Ursache dafür ist das wirkmächtige Meisternarrativ.
    „Kürzlich war ich in einer Diskussionsrunde zum Thema Migration. Nach der Debatte erklärte mir einer meiner Mitdiskutanten, dass ich „anmaßend“ gewesen sei. Ich hätte ständig gesagt, dass die anderen Personen nicht komplex genug argumentierten. Tatsächlich hatte ich das nicht gesagt. Ich hatte gesagt, dass das Thema Migration viel zu komplex sei, um es anhand der gängigen Narrative zu besprechen. Ich merkte an dieser Reaktion allerdings: Es wird nicht gern gesehen, wenn man gängige Erzählungen infrage stellt. In der Geisteswissenschaft gibt es einen Begriff für diese herrschenden Erzählungen: das Meisternarrativ. (…) Wenn der bayerische Ministerpräsident Markus Söder als Ursache für die hohen AfD-Wahlergebnisse die Migrationspolitik der Ampel ausmacht. Wenn der Grünen-Politiker Anton Hofreiter erklärt, dass sich in der Migrationspolitik „ein ganzer Schwung“ ändern müsse. Wenn eine Journalistin im ZDF behauptet, dass die Grünen verloren hätten, weil ihnen nicht zugetraut werde, das „Migrationsthema zu lösen“. All diese Behauptungen ergeben sich aus dem Meisternarrativ. (…) Diese Meistererzählung, die in Deutschland seit vielen Jahrzehnten herrscht, lautet: „Ausländer“ sind verantwortlich für strukturelle Probleme in Deutschland. (…) Jene Probleme, die eigentlich gelöst werden müssten, bleiben ungelöst. Wie ein Teppich legt sich das Meisternarrativ auf all diese gesellschaftlichen und strukturellen Probleme. Ressourcen, politische und mediale, werden dafür aufgewendet, sich mit den Problemen des Meisternarrativs zu beschäftigen. Beispiel sexualisierte Gewalt: Die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle beschreibt, dass Femizide in Deutschland noch immer als „Beziehungstat“ gesehen werden und nicht als strukturelles Problem: „Oft wird das Problem […] vermeintlich traditionellen Kulturen zugeschoben. Statistisch bestätigt sich das bei Femiziden in Deutschland nicht. In vielen anderen Ländern Europas wird die Tötung der Partnerin klar als geschlechtsspezifische Tat gesehen – während man sie in Deutschland noch eher als Beziehungstat benennt und bei deutschstämmigen Tätern eher als individuelles Psychoproblem einstuft.“ (…) Schließlich scheint es weitaus einfacher, immer wieder zu erklären, wie man nun das „Migrationsproblem“ „lösen“ möchte, dabei von der europäischen Ebene zu sprechen und eine vage Zukunft in Aussicht zu stellen, in der alles „besser“ wird – wenn man es endlich schaffe, Migration „einzudämmen“. Tatsächlich ist es weitaus schwieriger, sich damit auseinanderzusetzen, warum es nicht gelingt, für alle Menschen bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, genügend Lehrer:innen auszubilden, Armut zu bekämpfen oder sich der Verbreitung islamistischen Gedankenguts entgegenzustellen. Und so bedient man sich, ob bewusst oder unbewusst, einer Verantwortungsverlagerung – und wundert sich, warum viele Menschen rassistischen und menschenfeindlichen Narrativen Glauben schenken. Es mag „anmaßend“ sein, solche Dinge zu sagen. Diese Perspektive mag genauso falsch oder richtig sein wie das Meisternarrativ. Sie ist einfach nur eine andere.“ Artikel von Gilda Sahebi vom 19. Juni 2024 in der taz online externer Link

  • Rechtsextremismus: Tagtägliche Einzelfälle, Rechtsextreme in höchsten Ämtern… Wir haben Euch gewarnt. 
    „Ein brennendes Haus in Solingen. Eine vierköpfige Familie stirbt in den Flammen. Brandstiftung. Die Schlagzeilen sind nicht von 1993, sondern von jetzt. Schon wieder. Ende März wurde in Solingen – offenbar vorsätzlich – ein Feuer in einem Mietshaus gelegt, in einem Altbau, der fast ausschließlich von Menschen mit Einwanderungsgeschichte bewohnt ist. Hier wohnen Leute aus der Türkei oder Bulgarien. Eine Familie mit kleinen Kindern stirbt. Weil das Treppenhaus in Flammen steht, springen andere Bewohner:innen aus den Fenstern und überleben schwer verletzt. Die Polizei findet Brandbeschleuniger und ist sich sicher, dass Brandstiftung vorliegt. Sie ermittelt nun wegen Mordes. Und dann sagt die Solinger Staatsanwaltschaft direkt nach dem Brandanschlag, noch am ersten Tag: „Es liegen keine Hinweise auf fremdenfeindliche Motive vor.“ Zu einem Zeitpunkt, an dem noch nichts bekannt ist, kein Anfangsverdacht vorliegt, keine Spur zu möglichen Täter:innen. Mich macht diese Aussage fassungslos: „Es liegen keine Hinweise auf fremdenfeindliche Motive vor.“ Das kann schon sein, wir sind ja noch am Tag Eins der Ermittlungen. Aber es liegt auch kein Hinweis auf das Gegenteil vor! Wie kann – nach allen Erfahrungen mit Rechtsextremismus, Brandanschlägen und Morden an migrantisch gelesenen Menschen – die Staatsanwaltschaft sofort solch eine Aussage tätigen? Die einzig vernünftige Aussage zu diesem Zeitpunkt wäre gewesen: „Wir ermitteln in alle Richtungen.“ Schon die Wortwahl ist fragwürdig. „Fremdenfeindlich“ übernimmt das Framing der Rechten, die migrantische Menschen als „fremd“, als „nicht zugehörig“ klassifizieren; korrekt wäre es, „rassistisch“ zu sagen. Aber abgesehen davon, ist die gesamte Aussage ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen aus Einwandererfamilien in Deutschland. Sie bedeutet nämlich, dass die Sicherheitsbehörden nach wie vor ignorieren, dass wir gefährdet sind. Unsere Sicherheit wird ernsthaft bedroht, seit Jahren und unablässig, und zwar von Rechtsradikalen. Wieso behauptet die Staatsanwaltschaft dann – bei einem mutmaßlich vorsätzlichen Brandanschlag auf ein Wohnhaus, in dem hauptsächlich migrantische Menschen wohnen – sofort reflexartig, dass keine rassistischen Motive vorlägen, bevor die Ermittlungen überhaupt begonnen haben? (…) Unsere Erfahrungen mit deutschen Sicherheitsbehörden sind nicht die besten. Sei es bei der NSU-Mordserie, sei es bei Brandanschlägen, sei es bei Attentaten wie in Hanau: Zu oft wurden die Spuren Richtung Neonazis ignoriert, zu oft wurde hauptsächlich unter den Angehörigen ermittelt, zu oft mussten die Überlebenden von rechten Attentaten eine „Gefährderansprache“ seitens der Polizei über sich ergehen lassen. Bei deutschen Behörden gelten migrantisch gelesene Menschen – insbesondere muslimische Männer – als Sicherheitsrisiko, als potenzielle Verbrecher. Nicht als die Opfer, die sie objektiv oft sind. (…) Jede Woche gibt es neue Fälle, die in den Medien als unzusammenhängende Einzelfälle auftauchen. Die zwei jüngsten Beispiele innerhalb einer Woche, von denen ich erfahren habe (es gibt wahrscheinlich mehr): Am 4. April wurde in Frankfurt ein Prozess gegen einen Rechtsextremisten eröffnet, der Anschläge auf Minderheiten plante und ein großes Waffenarsenal besaß; am 6. April wurde in Halle ein zündfähiger Sprengsatz in der Wohnung eines Mannes gefunden, der rassistische Parolen schrie. Von derartigen „Einzelfällen“ liest man beinahe tagtäglich, aber die Entrüstung darüber bleibt aus. Medien und Politik gehen direkt danach zur Tagesordnung über – die Polizei ermittelt, also geht ja alles seinen richtigen Gang. Oder etwa nicht? (…) Eine sehr unrühmliche Rolle bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus spielt der Verfassungsschutz. Insbesondere im Fall der NSU-Rechtsterrorist:innen ist bis heute unklar, wie viel der Verfassungsschutz wusste und wen er deckte – oder bis heute deckt. Recherchen von Journalist:innen wie Ronen Steinke und Heike Kleffner belegen, dass rechtsgerichtete Denkmuster im Verfassungsschutz tief verwurzelt sind. (…) Wir warnen euch jetzt: Es gibt weitverzweigte rechtsextreme Netzwerke in den Sicherheitsbehörden, in der Polizei und in der Bundeswehr – all die „Einzelfälle“, die Chatgruppen, die verschwundene Munition, der entwendete Sprengstoff, die fehlenden Waffen. Europaweite Netzwerke von Faschist:innen agieren ungehindert. Da braut sich etwas zusammen. Wenn wir jetzt nicht reagieren, ist es zu spät. (…) Faschist:innen gehen immer und überall nach dem gleichen Muster vor. Die Hetze gegen Geflüchtete ist erst der Anfang. Man kann das Ende schon frühzeitig kommen sehen. Wir haben Euch gewarnt.“ Artikel von Sheila Mysorekar aus Blätter vom Mai 2024 externer Link („Rechtsextremismus: Wir haben Euch gewarnt“)
  • Regression der Mitte: Wie die „Mitte“ Rechtsextremismus stark macht
    „Rechtsextremismus gilt, so heißt es wiederholt seitens der Bundesregierung und des Verfassungsschutzes, als »größte Gefahr« für die Bundesdeutsche Demokratie. Rassistisch motivierte Morde, die Formierung von terroristischen Netzwerken und die Bildung von Strukturen am rechten Rand stehen dafür. Seit mittlerweile mehr als zehn Jahren erstarkt der Rechtsextremismus in Deutschland, wobei die Erfolge der AfD zugleich Ausdruck eines wachsenden rechten Bewusstseins sowie Motor rechter Politisierung sind. Die Massenproteste in Stadt und Land, in Ost und West der letzten Monate für Demokratie und gegen Rechts sind hierbei ein wichtiges und nicht zu unterschätzendes Stopp-Zeichen. Allerdings belegen seit Jahren Umfragen wie etwa die Mitte- oder die Autoritarismus-Studie auch, dass rechtsextreme Einstellungen kein Randphänomen der Gesellschaft darstellen, sondern in der Mitte verankert sind. Dennoch bleibt in den Debatten über das Erstarken des Rechtsextremismus der Blick erstaunlich oft an den vermeintlichen Rändern hängen oder fokussiert zu einseitig auf Parteien. Viel zu selten wird zu verstehen versucht, was in der Mitte der Gesellschaft eigentlich passiert ist, dass die extreme Rechte so stark werden konnte, warum offensichtlich lange tradierte Einstellungen gerade jetzt politisch wirksam werden und warum die Brandmauer so kläglich versagt. Mit meinem neuen Buch »Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten«, das aus meiner Forschungsarbeit der letzten Jahre entstanden ist, habe ich versucht, einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke zu leisten. (…) Zusammen mit einem Kollegen habe ich in ausgewählten Stadtteilen von Frankfurt am Main und Leipzig an die 50 qualitative Interviews mit Bewohner:innen geführt. Allen Stadtteilen gemeinsam ist, dass sie als eher peripher gelten und die AfD dort in den letzten Jahren kontinuierlich gute Ergebnisse erzielen konnte. (…) Ziel der Interviews, die 2019 und 2022 geführt wurden, war es, auf die Menschen zuzugehen und zu verstehen, in welchem Gefüge es der extremen Rechten gelingt, Fuß zu fassen. (…) Was dabei zum Vorschein kam, beunruhigt mich zutiefst, zumal deutlich wurde, wie stark das rechte Rauschen mittlerweile die Gesellschaft durchzieht. (…) Autoritäre Verschiebungen und die Erosion der Demokratie werden zwar von Rechtsaußen vorangetrieben, können, sehr wohl aber auch von Parteien der Mitte und insbesondere von einem »radikalisierten Konservatismus« (Strobl) ausgehen, wenn diese beginnen, demokratische Normen, wie etwa das Recht auf politischen Protest oder Schutz vor Verfolgung, aufzuweichen und bisweilen ganz in Frage stellen. Dabei wird die Verteidigung der Demokratie aufs sträflichste mit der Verteidigung der eigenen Macht verwechselt, sehr zum Leidwesen der Demokratie selbst. Politisch scheint es an der Zeit, die Mitte der Gesellschaft neu zu definieren, sie als post-migrantisch zu verstehen und das beständige Schielen nach Rechts zu den Besorgten Bürgern zu beenden und stattdessen die weit ausgestreckte Hand der aktiven Zivilgesellschaft, die seit Mitte Januar zu Millionen auf der Straße ist, zu ergreifen.“ Gastbeitrag von Daniel Mullis beim Volksverpetzer am 3. April 2024 externer Link – leicht überarbeiteter Auszug aus dem Buch von Daniel Mullis „Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten – Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten“ erschien im März 2024 bei Reclam externer Link zum Preis von 22 Euro, 336 Seiten
  • Folgen der Kölner Silvesternacht: „Wir haben die Ertrinkenden zur Flut gemacht“
    Im Interview von Uli Kreikebaum vom 29. Februar 2024 beim Kölner Stadt-Anzeiger externer Link spricht der Kölner Sozialethiker Uwe Becker über die Folgen der Kölner Silvesternacht, und darüber in wiefern es zusammenpasst, dass nun Millionen Menschen in Deutschland gegen Rechtsextremismus auf die Straße gehen, andererseits gleichzeitig eine breite Mehrheit der Gesellschaft einem schärferen Asylrecht zustimmt. Uwe Becker: „Bei dem rechten Verschwörungstreffen in Potsdam ging es auch um den syrischen Arbeitskollegen, die türkische Nachbarin, den marokkanischen Kinderarzt oder die griechische Freundin meiner Tochter. Mehr als 23 Millionen Menschen in Deutschland haben Migrationshintergrund, fast 30 Prozent der Bevölkerung, in Köln ist der Anteil noch höher. Wenn AfD-Leute jetzt mit anderen Rechtsextremen darüber schwadronieren, dass deren Ansiedlung in Deutschland „rückabgewickelt“ werden soll, offenbart sich unverblümt deren brutale und menschenverachtende Strategie. Und das regt Protest und Solidarität, letztere gilt aber nicht unbedingt Geflüchteten. Während Millionen von Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben, für viele selbstverständlich zu unserer Gesellschaft gehören, wird diese Zugehörigkeit den meisten Geflüchteten nicht zugestanden. Es geht immer wieder um diese Trennlinie zwischen „uns“ und den „anderen“. (…) 2015, als viele Menschen aus Syrien und Afghanistan kamen, war die Rede vom „arabischen Mann“, jetzt ist es der „illegale Migrant“. Diese latente Kriminalisierung von Geflüchtetem schafft ein Bedrohungsklima. Wir machen aus den Ertrinkenden die Flut. Damit wird die massive Abschottung gegenüber Geflüchteten legitimiert: Es sind Tausende, die jährlich im Mittelmeer ertrinken. (…) Natürlich müssten wir deutlich mehr investieren in die Infrastruktur: Es fehlen Unterkünfte, es fehlt Personal in vielen Ausländerbehörden, es fehlen Schulplätze und vieles mehr. Aber für die ukrainischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger haben wir auch vieles möglich gemacht. Sie haben unmittelbar Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, erhalten Bürgergeld, Krankenkassenleistung, die Kinder können zur Schule gehen. Das ist eine Blaupause für eine gelingende Integrationspolitik. Warum sollte das perspektivisch nicht für viel mehr Menschen möglich sein, wenn der politische Wille da wäre, in diese Infrastruktur zu investieren? (…) Ich finde es erschreckend, wie in der Debatte zwischen guten und den schlechten Flüchtlingen unterschieden wird. (…) So war medial davon die Rede, dass es sich diesmal und anders als 2015 um „echte Flüchtlinge“ handeln würde. Oder, wie ein Gast in einer Talk-Show meinte, dass, anders als bei früheren Flüchtlingskrisen, aus der Ukraine nun Menschen kämen, die fleißig seien, wissbegierig und neugierig. So ist auch die Bundesinnenministerin, Nancy Faser zu verstehen, wenn sie meinte, wir müssen uns gegen den „illegalen Migranten“ zur Wehr setzen, damit wir „weiter den Menschen helfen können, die dringend unsere Unterstützung brauchen“. All das sind Mosaiksteine des Gesamtbildes einer zunehmend auf radikale Abschottung setzenden europäischen Flüchtlingspolitik. (…) Für nicht wenige war die Silvesternacht von Köln ein willkommener Anlass, um laut sagen zu können: Haben wir immer gesagt, das klappt nicht mit den Flüchtlingen. Die Botschaft „Wir schaffen das“ wurde schnell mit nein beantwortet und das war eine innenpolitische Spitze gegen Angela Merkel. Geflüchtete waren in diesem Diskurs meistens nicht die Subjekte der Erzählungen. Es ging stattdessen um die Befindlichkeit der Deutschen, um ihre Angst, um das, was „wir“ schaffen und nicht darum, ob es Geflüchtete schaffen, hier aufgenommen zu werden…“ Siehe für Hintergründe:

  • Deutschland kippt nach rechts – Sechs Strategien, um der rechten Mobilisierung entgegenzuwirken
    Die Bundesrepublik hat 2023 einen dramatischen Rechtsruck erlebt. Ein Ende ist bislang nicht in Sicht – wenn sich nicht endlich einiges ändert. Sechs Strategien, um der rechten Mobilisierung entgegenzuwirken. (…) Die äusserste politische Rechte in Deutschland arbeitet an der Unterminierung der Demokratie auf demokratischem Weg – und es gibt leider Anlass zur Befürchtung, dass sie dabei weitere Geländegewinne verzeichnen wird, wenn nicht die demokratischen Kräfte entschlossener dagegenhalten als bisher. (…) Ohnehin ist seit diesem Herbst bereits amtlich, wie weit sich die Verhältnisse auch in den alten Bundes­ländern nach rechts verschoben haben. (…)  Wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird die äusserste Rechte stärker denn je in den Bundestags­wahlkampf 2025 eintreten. Um die Demokratie zu schützen, rückt mittlerweile bereits ein AfD-Verbots-Verfahren in den Bereich des Möglichen. Denn die AfD ist nur das sichtbarste Zeichen für einen Rechtsruck in Deutschland. Getrieben von den Umfragewerten der Rechtsextremen, sind weite Teile der Politik insgesamt nach rechts gerückt. Was also genau hat sich 2023 verschoben? Was steht auf dem Spiel? Und wie liesse sich gegensteuern? Eine Bestandesaufnahme in sechs Schritten. Und sechs konkrete Gegenmassnahmen. (…)
    Strategien zum Umgang mit der AfD sollten Analyse und Argumentation schärfen. Der Rechtsextremismus wird nicht verschwinden, sondern an Zuspruch gewinnen, je erfolgloser demokratische Kräfte darin sind, Krisen zu bearbeiten, ungerechte Missstände zu kritisieren und Rechtsextremismus zu problematisieren. Phrasenhafte Forderungen nach Abgrenzung reichen nicht, sondern müssen inhaltlich stärker begründet werden. (…) All jene, denen an der Demokratie gelegen ist, sollten allerdings nicht darauf hoffen, dass sich die Rechte selbst durch Spaltung schwächt. Sondern wirksam den Faktoren ihrer Mobilisierung entgegenwirken. (…)
    AfD-Verbot prüfen. Begriffe wie «Brandmauer» oder «Dammbruch» sind angesichts der Normalisierung von unten teils längst sinnentleert. In der Alltagswelt vieler Menschen gibt es dazu keine Entsprechung, weil sie Unter­stützerinnen, Mitglieder und Politikerinnen der AfD häufig als ganz normale Nachbarn, Kolleginnen oder Familienangehörige erfahren. In vielen Kommunal­parlamenten ist die AfD weitgehend normalisiert. Ein (Teil-)Verbot der AfD oder zumindest der Stopp der staatlichen Finanzierung für die Rechtsextremen würde die Spannungen der Dissonanzgesellschaft zwar nicht auflösen, aber die Verstärkung der Demokratie- und Menschenfeindlichkeit durch die rechtsextremen Agitationen bremsen. Auch die akuten Gefahren für das Funktionieren der Institutionen könnten so gestoppt, die Einflüsse der faschistischen «Neuen Rechten» geschwächt werden. (…)
    Diese Liste, so viel ist klar, ist unvollständig. Doch es spricht vieles dafür, dass der Rechtsextremismus derzeit ein neues Mass an Normalisierung und dadurch neue Machtchancen erreicht. Dies erfordert eine neue Ernst­haftigkeit dabei, der Bedrohung zu begegnen und ihr frische politische Konzepte entgegenzustellen: für eine demokratische, gerechte und zuversichtliche Zukunft.“ Umfangreicher und lesenswerter Artikel von Matthias Quent vom 13.12.2023 in republik.ch externer Link

  • Soziologe Wilhelm Heitmeyer erklärt den autoritären Nationalradikalismus der AfD und den Begriff „Protestwähler“ zur Selbstberuhigungsformel 
    Wilhelm Heitmeyer hat sich jahrzehntelang mit autoritären Einstellungen und Rechtsextremismus beschäftigt. Wie erklärt er Deutschlands Rechtsruck? (…)
    Man muss beginnen bei der Charakterisierung der AfD. Landläufig ist immer noch verharmlosend von Rechtspopulismus die Rede, manchmal auch „in Teilen rechtsextremistisch“. Ich frage dann immer, aber was ist dann mit den anderen Teilen? Inzwischen schreckt auch die Einordnung als rechtsextremistisch die Sympathisanten und Wähler nicht mehr ab. Das war anders zu Zeiten der NPD und Republikaner. Und Rechtspopulismus ist ohnehin eine kriterienlose, leere Hülle, in die man alles reinschütten kann. Der Begriff zielt ja lediglich auf Erregungszustände ab, die AfD geht aber weit darüber hinaus. Sie ist viel gefährlicher, weil sie für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen attraktiv ist.
    [Wie charakterisieren Sie denn die AfD?]
    Es ist autoritärer Nationalradikalismus. Daraus erklärt sich der derzeitige Höhenflug. Die AfD propagiert ein autoritäres Gesellschaftsmodell mit traditionellen Lebensweisen – gegen pluralistische Kultur und für ethnische Homogenität. Das Nationalistische ist die Überlegenheitsvorstellung von deutscher Kultur. Wirtschaftspolitisch wird „Deutschland zuerst“ gefordert. Dann gibt es noch die ethnisch nationale Identitätspolitik mit Deutschsein als Identitätsanker und die Neudeutung deutscher Vergangenheit. (…) Beachten muss man vor allem das, was ich rohe Bürgerlichkeit nenne. Das Milieu leidet kaum unter sozialer Not, macht sich aber Statussorgen und hat Irritationen. Es hat eine glatte Fassade, aber dahinter existiert ein Jargon der Verachtung, gerade gegenüber den von der AfD negativ markierten sozialen Gruppen. Das spielt der AfD in die Karten. Was mir Sorgen macht: Dieses Milieu ist in beträchtlichem Maße in Westdeutschland vorhanden und für die AfD noch immer nicht ausgereizt. (…) Der Begriff Protestwähler oder Protestpartei ist eine Selbstberuhigungsformel. Darin steckt: Wenn wir uns nur Mühe geben und vielleicht die Renten erhöhen, kommen die alle zurück. Das ist eine Fehleinschätzung. Die autoritären Einstellungsmuster, von denen die AfD profitiert, hat es schon lange vor ihrer Parteigründung gegeben. Diese Personengruppen waren häufig wahlpolitisch vagabundierend, wählten mal SPD, CDU oder wanderten ab in die wutgetränkte Apathie der Nichtwählerschaft. Erst 2015, als eine größere Anzahl von Geflüchteten nach Deutschland kam und die AfD dagegen mobilisierte, hatte diese Wählergruppe eine fixe Anschlussstelle. Seitdem hat die AfD eine stabile Wählerschaft. (…)
    Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass die politischen Routinen der Problembekämpfung nicht mehr funktionieren – schon gar nicht kostenlos und schnell. Vor allem können die eingelebten Zustände vor der Krise nicht wiederhergestellt werden. Daraus entstehen wahrgenommene oder erfahrene Kontrollverluste über die Zukunft. Teile der Bevölkerung haben das Gefühl, dass man die eigene Zukunft und den eigenen Status nicht beeinflussen kann. Viele fürchten Wohlstandsverluste und die Selbstwirksamkeit nimmt ab. Hier setzt die AfD an mit ihrer Parole der Wiederherstellung von Kontrolle. (…)
    Soziale Bewegungen scheinen wie gelähmt. Ich habe den Eindruck, dass dies daran liegt, dass es derzeit nicht gelingt, eine zuversichtliche Vision zu formulieren, die mobilisierend wirkt. Die AfD hingegen hat eine motivierende autoritäre Vision gegen die offene Gesellschaft und liberale Demokratie, von der sich relevante Teile der Bevölkerung angesprochen fühlen. (…) Was zu einem bestimmten Zeitpunkt als normal gilt, kann man nicht mehr problematisieren. Das Schwierige ist: In Bezugsgruppen ist man in der Regel allein und muss unter Umständen harte soziale Kosten tragen und wird möglicherweise aus Bezugsgruppen ausgeschlossen, je nachdem, wie weit die Normalisierung fortgeschritten ist. Das ist mein Plädoyer: Sich über die eigene Konfliktfähigkeit Gedanken zu machen. In den nahen sozialen Bezugsgruppen zeigt sich erst, ob wir in der Lage sind, für eine humane Gesellschaft einzutreten.
    [Wo stehen Sie in der Verbotsdiskussion?]
    Das ist der völlig falsche Weg: Ein Verbotsantrag würde Jahre bis zur Befassung dauern und in der Zwischenzeit zu großen und erheblichen Solidarisierungseffekten führen.“ Interview von Gareth Joswig vom 26.11.2023 in der taz online externer Link („Soziologe über Radikalismus der AfD: „Es hat sich etwas verschoben““) 

  • Mikropolitik des Rechtsrucks 
    „„Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“. Diese Aussage, wirkmächtig platziert auf dem Spiegel–Cover vom 21. Oktober 2023, stammt nicht von einem oder einer derjenigen Politiker:innen, von denen es unmittelbar zu erwarten gewesen wäre. Obwohl Forderungen nach Abschiebungen im „großen Stil“ eigentlich eine klare politische Heimat am rechten Rand haben, stammt sie von einem Sozialdemokraten, Olaf Scholz. Für viele Beobachter:innen aus den Rechts- und Sozialwissenschaften kommt dieses Spiegel-Cover dennoch nicht überraschend, sondern fügt sich nahtlos ein in die Chronologie des Rechtsrucks der deutschen Politik und Gesellschaft. Studien aus der politischen Anthropologie und Ethnografie zeigen, dass sich der sogenannte Rechtsruck keineswegs ruckhaft oder plötzlich ereignet, sondern das Resultat kontinuierlicher und beharrlicher Bemühungen identifizierbarer politischer Akteure ist – kurz: sie gewähren hilfreiche Einsichten in die Mikrodynamiken des Rechtsrucks. (…)
    Die Unterstützung für rechtspopulistische Parteien ist hoch, nicht nur in Deutschland. Und bei genauerer Betrachtung der Dynamiken dieser zunehmenden Unterstützung wird deutlich, dass rechtspopulistische Parteien nicht trotz, sondern wegen dieser Inhalte und Rhetorik gewählt werden. Die augenscheinlichen Widersprüche haben eigene, kuriose Dynamiken, die in ethnografischer ‚close-up‘-Perspektive deutlich werden. (…)
    Jede:r, der an einem AfD-Bürgerabend teilnimmt, kann sich so rassistisch äußern wie er möchte – alles ist sagbar in diesen rechten Komfortzonen, die die AfD einrichtet. Keine Aussage wird sozial sanktioniert oder kritisch reflektiert, nein, alles ist erlaubt. Selbst die Aussage, dass Deutschland noch heute „von den Alliierten besetzt sei“ und keine legitime, souveräne Verfassung habe, wurde bei einer von mir beobachteten Veranstaltungen von den AfD-Vertretern wohlwollend abgenickt und kritiklos zur Kenntnis genommen. Die AfD schafft mit diesen abendlichen Veranstaltungen Räume, in denen es normal ist, sich rassistisch und menschenverachtend zu äußern. Sie arbeitet aktiv daran, den Ausdruck rassistischer Einstellungen zu destigmatisieren und so komfortabel wie möglich zu machen, und zwar mit Beharrlichkeit, mit Durchhaltevermögen, seit Jahren. Sie schaffen rassistische Wohlfühl-Räume: Räume des gemeinsamen Wohlbefindens, des Vergnügens, des Ausgelassen-Seins. (…) Sie normalisieren Rassismus. Und rechte Komfortzonen schafft die AfD nicht nur mit abendlichen Veranstaltungen in ländlichen Räumen Ostdeutschlands, sondern auch auf der Straße, mit Protesten, in digitalen Räumen und in den Parlamenten. (…)
    Es ist unbehaglich, anzuerkennen, dass rassistische Einstellungen und Stereotypisierungen weit verbreitet sind – viel weiter als lediglich die 22 Prozent, die bei der nächsten Bundestagswahl die AfD wählen würden. Es gibt zahlreiche Formen und Gestalten von Rassismen, die unterschwellig wirken, versteckt sind, subtil rationalisiert werden und oft auch unterbewusst auftreten. Rassismus ist eine deutsche Realität, unter der Millionen Menschen leiden. Rassismus hat in Deutschland eine Geschichte, hat Genealogien und Kontinuitäten, und ist gesellschaftlich fest verankert. Rechtsruck bedeutet, aus mikropolitischer Perspektive, eine kontinuierliche Popularisierung und Normalisierung dieser rassistischen Realitäten. (…)
    Wenn also rechte Politiker:innen aktiv, überzeugt und kontinuierlich daran arbeiten, dass es zunehmend normaler wird, sich in öffentlichen Räumen rassistisch zu äußern, dann braucht es ebenso aktive, überzeugte und kontinuierliche Arbeit dafür, dass dieses Denken denormalisiert wird. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Diskussion über Rassismus in Deutschland, gut zugängliche politische Bildungsangebote für alle Bürger:innen und wir brauchen starke Gegenstimmen zu den sich zunehmend verschärfenden Anti-Migrations-Diskursen…“ Artikel von Julia Leser vom 16 November 2023 im Verfassungsblog externer Link – Julia Leser ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Koordinatorin des Forschungsprojektes “Challenging Populist Truth-Making in Europe”.
  • Rechtsruck im Schafspelz. Über den deutschen Umgang mit Krieg, Rassismus und Antisemitismus 
    Einer der vielleicht besten Sätze, die im Sommer der Migration 2015 über das damalige Geschehen gesagt wurden, stammt erstaunlicherweise von einem Politiker, der spätestens in jenen Jahren wegen seiner Hardliner-Politik gegenüber Griechenland weltberühmt wurde: Wolfgang Schäuble. Er konstatierte, dass die Migration ein „Rendezvous unserer Gesellschaft mit der Globalisierung“ sei. Mit den Rendezvous in der Politik ist es in schnelllebigen Zeiten nicht anders als mit jenen in der Liebe: Sie kommen selten allein. Und seit Schäubles Rendezvous gab es zahlreiche Begegnungen der traditionell weltabgewandten und sicherheitsorientierten deutschen Lebensrealität mit den großen globalen Krisengeschehen. Die Klimakrise beschäftigte das Land, dann die Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine und nun, mal wieder, die schreckliche jüngste Eskalation in Israel und Palästina. All diese Ereignisse, die zugleich auch Medienspektakel sind, könnten in ihrem Effekt oberflächlich besehen als eine enorme Repolitisierung des gesellschaftlichen Alltags betrachtet werden. Wer sich davon allerdings Lernprozesse, eine neue Chance für politische Alternativen oder zumindest den Griff nach der Notbremse erhofft, wird bitter enttäuscht. Auf das Rendezvous reagiert ein Großteil der Gesellschaft mit dem Ruf nach Aufrüstung der staatlichen Sicherheitspolitik, die solche Begegnungen zukünftig möglichst vermeiden soll.
    Was sich in Deutschlands politischer Mitte, die auch Ausdruck einer neuen Republik in Zeiten heraufziehender Krisen ist, seitdem breitmacht, ist eine neue Begeisterung für die Lösung politischer Probleme durch Polizei, Militär und Machtvollkommenheit. Ein neuer Autoritarismus der Mitte, der bis nach links ausstrahlt. (…)
    Im Windschatten der Debatte hagelt es nicht nur Verbote. Eingriffe in Grund- und Asylrecht werden regelrecht durchgewunken. Die verkündete Staatsräson steht auf einmal über grundlegenden demokratischen Normen. Ein Großteil der veröffentlichten Meinung wittert hinter jeder Empathie mit palästinensischen Opfern Antisemitismus. Und mancher Politiker fordert gar, dass nur ein klares Bekenntnis zu Israel den Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft öffnen und diese im Zweifel sogar wieder entzogen werden solle, wie Markus Söder vorschlug. Wolfgang Kubicki fordert derweil Migrationsobergrenzen in Stadtteilen. Es werden Bundestagsbeschlüsse gefasst, die den Kampf gegen Antisemitismus mit fragwürdigen Maßnahmen und militärischer wie politischer Unterstützung Israels verrühren, während zeitgleich der wachsende Rassismus in Gesetzesform gegossen wird.
    Das Ergebnis ist ein weißer, auf den Anti-Antisemitismus reduzierter Antifaschismus des Bürgertums, der einen Generalverdacht gegen arabische und muslimische Menschen ausruft. (…)
    Da ist sie also, die „Zeitenwende“. Doch statt einer Antikriegs-Bewegung und einer breiten Mobilisierung gegen den Rechtsruck gibt es die Eingliederung der Antisemitismus-Bekämpfung in den westlichen Militarismus unter rechter Hegemonie. Um dem in Zukunft zu entgehen, sollte die unter progressiven Akteur:innen herrschende Begriffsverwirrung dringend entwirrt werden. Denn auch der jetzt nötige Antifaschismus ist #unteilbar. Erst recht, wenn er sein „Rendezvous mit der Globalisierung“ bestehen will. Tut er dies nicht, gewinnt weiter die politische Rechte.“ Artikel von Mario Neumann vom 13. November 2023 bei medico international externer Link
  • [Eine Positionsbestimmung, die wir teilen] Solidarität ist keine Sonntagsrede: Die offene Gesellschaft verteidigen  Dem Rechtsruck entgegentreten
    Wir stehen vor einem Scherbenhaufen, an einem autoritären Kipppunkt. Es ist Zeit sich zu entscheiden: Für eine Verteidigung der offenen Gesellschaft oder für ein Abgleiten in den Autoritarismus. Was in jahrzehntelangen antirassistischen und antifaschistischen Kämpfen erreicht wurde, ist in den letzten Monaten beispiellosen Angriffen ausgesetzt, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Die gesellschaftliche Linke und bislang engagierten Kräfte sind sprachlos und schaffen es nicht, sich diesen rasanten Entwicklungen entgegenzustellen. Und die migrantische Zivilgesellschaft steht auf einmal fast alleine da, so ausgegrenzt und abgeschnitten, wie wir es noch vor wenigen Monaten für unmöglich hielten. Das ist ein Skandal und muss sich ändern. Solidarität ist gefragt, die mehr denn je auch Risikobereitschaft und Klarheit erfordert. Die offene Gesellschaft ist jetzt keine Sonntagsrede mehr.
    Von Rechtsaußen braut sich eine immer größere Bedrohung zusammen. (…) Doch das ist nur die eine Hälfte des Problems. Es geht einher mit der Radikalisierung und dem Rechtsruck der Mitte der Gesellschaft. Durch die Parteienlandschaft hinweg erleben wir eine massive Diskursverschiebung nach rechts, eine kaum für möglich gehaltene Enthemmung der Sprache und Entrechtung – und dies nicht erst seit dem jüngsten Höhenflug der AfD. Das zugrundeliegende Problem ist eine Politik, die keine Antwort auf die entscheidenden Krisen der Welt – Krieg, Klimawandel und globale Ausbeutung – findet. Eine Politik, die stattdessen seit Jahr und Tag, wenn es opportun ist, die Geschichte der Migration in diesem Land zurückdrehen will. Sie nährt Steuerungs- und Kontrollphantasien und nutzt Geflüchtete als Sündenböcke, um vom eigenen politischen Versagen abzulenken. (…)
    Die Mär der Abschottung
    Diese Debatten sind nicht nur abstoßend, sondern auch realitätsfern. Dies macht sie noch gefährlicher. Migration ist die Mutter aller Gesellschaften. Für die vielbeschworene „Überforderung“ der Kommunen ist nicht Migration, sondern eine seit Jahren vernachlässigte Sozial- und Bildungspolitik verantwortlich. Es ist ebenso eine Fiktion, dass Migration ohne die Preisgabe grundlegender demokratischer Prinzipien aufzuhalten wäre. (…) Fluchtgründe wie Armut, Ausbeutung und Kriege verschwinden nicht, wenn Menschen in Deutschland möglichst unwürdig behandelt werden. Die Rufe nach einer immer stärkerer Ordnungspolitik klammern sich an die verzweifelte Hoffnung, dass sich die Folgen der sich überlagernden Polykrisen wie Klimakrise und die damit verbundene Zunahme unbewohnbarer Orte, Imperialismus und Kriegspolitik durch eine weitere Militarisierung und Abschottung vor den Toren halten lassen. (…) Die Angriffe auf Rechte und Leben von Menschen auf der Flucht sind auch ein Angriff auf ein Europa, welches aus den Trümmern des letzten rassistischen und antisemitischen Wahns gelernt zu haben vorgibt. (…)
    Raus aus der Sprachlosigkeit – unsere Solidarität ist unteilbar
    Die Sprachlosigkeit der gesellschaftlichen Linken ist auch ein Ausdruck eigener mangelnder Antworten und zunehmender Verunsicherung im Laufe der Covid-19-Gesundheitskrise und der nach Europa heranrückenden Kriege. Auch das Beben des Nahost-Konflikts reicht weit in linke Bewegungen in Deutschland hinein. Spaltungen und Entsolidarisierung mit den von Rassismus und von Antisemitismus betroffenen Menschen vertiefen sich derzeit. Dies verhindert eine entschlossene Anteilnahme mit allen Opfern, deren Leid nicht gegeneinander ausgespielt werden darf. (…)
    Nun heißt es gemeinsam zu mobilisieren. Mit einem langen Atem. Die im Juni anstehenden Europa- und Kommunalwahlen könnten die politischen Verhältnisse weiter verschärfen. Wir stellen uns – überall, wo wir können – gegen die autoritäre Verschiebung. Wir lassen uns nicht spalten. Wir setzen uns gleichermaßen gegen Rassismus und Antisemitismus ein und kämpfen gemeinsam für unsere Rechte. Wir lassen uns die offene Gesellschaft und die in ihr erkämpften Rechte nicht nehmen. Unsere Solidarität ist und bleibt unteilbar.“ Ein gemeinsames Statement vom 8.11.2023 bei boderline-europe e.V. externer Link oder auch bei medico international externer Link von vielen weiteren Organisationen

  • Studie der Universität Hohenheim: Jeder Dritte Deutsche hat ein rechtspopulistisches Weltbild 
    Von geheimen Allianzen wird gesprochen, von finsteren Verschwörungen, von gesteuerten Medien und der Politik als Betrugsmaschinerie ist die Rede. Ein rechtspopulistisches Weltbild, das auf Außenstehende absurd wirken mag. Aber die Zahl seiner Anhänger ist groß, wie eine Studie zeigt.
    Populismus und der Glaube an Verschwörung sind laut einer Stuttgarter Studie in Deutschland weit verbreitet. Jeder Vierte ist demnach überzeugt, die Politik werde von „geheimen Mächten“ gesteuert. Ein Fünftel der Deutschen glaube zudem, Massenmedien würden die Bevölkerung „systematisch belügen“, heißt es in der Studie der Universität Hohenheim, die am Dienstag veröffentlicht wurde.
    „Insgesamt gut ein Drittel der Bundesbürger haben ein im erweiterten Sinn rechtspopulistisches Weltbild“, fasste der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider die Ergebnisse zusammen. Etwa jeder Sechste (16 Prozent) stimme auch der Aussage zu, das Land gleiche inzwischen „mehr einer Diktatur als einer Demokratie“. Der Aussage, „die deutsche Gesellschaft wird durch den Islam unterwandert“, stimmte runde jeder Dritte zu. Noch deutlicher zum Vorschein kommt der Rechtspopulismus bei der Aussage, „in Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist zu gelten.“ Hier stimmte mehr als jeder zweite Befragte zu (52 Prozent).
    Das Meinungsforschungsinstitut forsa hatte im Auftrag der Uni Hohenheim im Juli 2023 insgesamt 4.024 Menschen mit einem deutschen Pass befragt…“ Beitrag vom 29.08.2023 im Migazin externer Link
  • Ein Plädoyer für mehr Kritik an der rasanten Verbreitung staatlicher Autorität in der linken Szene und für die Gründung einer antiautoritären Bewegung
    „Dass es Staaten darum geht ihre Herrschaft zu behaupten und weiter auszubauen ist nichts Neues für Anarchist*innen und Linksradikale. Die Geschichte hat gezeigt, dass Staaten danach streben, immer mehr Macht an sich zu reissen. Das müssen sie tun, um die ungerechte Verteilung an Macht, Ressourcen und Kapitalien aufrecht zu erhalten. Somit sollte der Staat für antiautoritäre Gruppierungen nicht der Akteur sein, welcher die multiplen Krisen für uns lösen kann. Meist verursacht oder verschlimmert er diese sogar. Der Staat basiert auf einem auf Profit und Kapitalien aufbauenden System und seine Handlungen dienen dazu, eben dieses System zu erhalten. Gleichzeitig muss seine Herrschaft mit „symbolischer Gewalt“ einhergehen, was bedeutet, dass die Beherrschten ihre eigene Beherrschung als legitim ansehen. Würden die Beherrschten staatliche Autorität nicht mehr als legitim ansehen, würden sich diese nicht mehr beherrschen lassen und der Staat bräche zusammen. Durch die herrschende neoliberale Agenda, einhergehend mit dem rasanten Fortschreiten der Digitalisierung, sehen wir uns aktuell mit einer immer stärkeren Autoritarisierung der staatlichen Herrschaft konfrontiert. (…) Zum Punkt der Legitimität der Herrschaft ist auffallend, wie sehr staatliche Autorität Zuspruch bekommt. Gerade anlässlich der vielen Krisen schreien die Menschen förmlich nach einem starken Staat. Die krisenbedingten Unsicherheiten mit gegenseitiger Unterstützung zu beseitigen, klingt für viele offenbar zu befremdlich. (…) Klimagruppen, welche sich telbst teilweise dem linken bis linksradikalen Spektrum zuordnen oder diesem nahestehen und die wir für ihre autonomen Aktionen durchaus schätzen, seien es „Ende Gelände“ oder die „Letzte Generation“, appellieren sehr oft oder fast ausschliesslich an den Staat, von dem sie Verbote, repressive Politik und sogar Notstände einfordern. (…) Machen wir uns nichts vor: An den Staat zu appellieren bringt uns nicht weiter im Klimakampf, denn am Ende gewinnen wir dadurch nichts. Verbote ändern keine Meinungen, sondern sorgen am Ende nur dafür, dass die Menschen, deren Verhalten jetzt sanktioniert wird, uns hassen, weil wir diese Verbote fordern. (…) Gegen klimaschädliches Verhalten hilft am Ende nur der Diskurs und eigenes Verhalten. Es geht darum, toleranter zu werden, Communities zu gründen und möglichst viel Gegenstruktur aufzubauen, die unabhängig von staatlicher Herrschaft funktioniert und in der Profit nicht das Ziel ist. In dieser könnten wir klima- und umweltfreundlich(er) leben. (…) Antifaschismus, welcher sich mehr staatliche Autorität wünscht, um den Staat ausschliesslich gegen Faschos zu verteidigen, die ihn übernehmen und den Staat dann selbst autoritärer machen zu wollen, ist für uns kein nachhaltiger Antifaschismus sondern ein widersprüchlicher. Der totalitäre Staat ist doch gerade ein Hauptmerkmal des Faschismus. Antifagruppen, welche gegen jene Faschos und ihre Unterstützer*innen kämpfen (die zu bekämpfen natürlich auch wichtig und richtig bleibt) die erst durch verschiedene bestehende Probleme erstarken können, führen einen unvollständigen Kampf, wenn sie sich nicht auch gegen die Ursachen und Verursacher*innen (z.B. im Bundestag) richten. (…) Hinterfragen wir die Notwendigkeit von Servern, Funkmästen, Datenzentren und der gesamten digitalkapitalistischen Infrastruktur. Leisten wir Widerstand gegen Versammlungsverbote, Gefangennahmen, Grenzregime! Dies sind alles sinnvolle Ziele. Helfen wir denen, die Opfer von alltäglicher Überwachung, Herrschaft, Gewalt, Repression werden. Gegen Polizei und Überwachungsstaat! Stoppen wir die Autoritarisierung! Gründen wir die Antiautoritäre Bewegung! „ Plädoyer der Gruppe Autonomie und Solidarität vom 8. Juli 2023 beim untergrundblättle externer Link – es erinnert mit vielen ziemlich relevanten Fehlannahmen stark an Johannes Agnoli (und bei der Kritik der/die Anderen auch nicht frei von schlichten Unterstellungen), aber evtl. ein notwendiger Diskussionsbeitrag…
  • Weiter im Kommentar von Daniel Mullis, Maximilian Pichl und Vanessa E. Thompson vom 16. Juni 2023 in der taz online externer Link: „(…) Die autoritären Ereignisse überschlagen sich in einer derart rasanten Geschwindigkeit, dass es kaum möglich ist, Schritt zu halten. Antidemokratische Tendenzen sind auf dem Vormarsch. Die AfD erreicht in Umfragen Spitzenwerte. Die Europäische Union treibt, trotz scharfer wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Kritik, die Abschottung an den Grenzen voran. Zuletzt hat die Ampelregierung auf europäischer Ebene den gravierendsten Asylrechtsverschärfungen der letzten 30 Jahre zugestimmt. Dabei ist bekannt, dass Menschen an den EU-Grenzen seit Jahren systematisch entrechtet und brutal zurückgewiesen werden. Wenn die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention offen in Frage gestellt werden, haben sich autoritäre Mechanismen gefährlich normalisiert. Rassismus hat in Deutschland Tradition und tödliche Folgen. Jahrelang konnte der NSU ungehindert morden. Der Rechtsterror von Hanau mit neun Toten steht in dieser Kontinuität. Anders als zuvor wurde Rassismus 2020 klar geächtet, auch aus den Reihen der Bundesregierung. Dies war von kurzer Dauer und allenfalls symbolisch. Untersuchungen zeigen, dass Opfer von Polizeigewalt kaum eine Chance haben, die Täter*innen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Schwarze Menschen, Migrant*innen und People of Colour, besonders arme und geflüchtete Personen, sind einer mitunter tödlichen Polizeipraxis, wie zuletzt Mouhamed Dramé in Dortmund, ausgesetzt, die nur unzureichend aufgearbeitet wird. Der liberale Anti-Rassismus ‚von oben‘ befördert in Deutschland höchstens die Diversifizierung des Bestehenden. (…) Im Umgang mit Protesten ist zu beobachten, dass die politischen Räume enger werden. So geschehen in Lützerath, bei der Räumung des Klimaprotestes. Verschärft tritt der autoritäre Umgang im Zuge des Vorgehens gegen die „Letzte Generation“ zutage. Obwohl die Bewegung vor allem mit zivilem Ungehorsam agiert, wird sie als terroristisch diffamiert und einer erheblichen Kriminalisierung ausgesetzt. Auch die Reaktion des Staates in Leipzig Anfang Juni nach dem Urteil im sogenannten Antifa-Ost-Komplex hat eine neue Dimension erreicht: Der große Polizeikessel und die Versammlungsverbote sind ein Angriff auf die Demokratie. „Law and Order“- Politik hat Hochkonjunktur. Dabei verliert der Staat das rechtsstaatliche Maß. Die in diesen Auseinandersetzungen zu beobachtende Polizeigewalt normalisiert sich. Ein Beispiel sind die selbstverständlicher angewandten Schmerzgriffe durch die Polizei, die in der Rechtswissenschaft zum Teil als Verstoß gegen das Folterverbot diskutiert werden…“

Es sind zu viele aktuelle Dossiers im LabourNet, die hierzu genannt werden müssten…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=212610
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