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Wie die Messerattacke eines Syrers auf Kinder in Annecy die Hassdiskurse der Konservativen und Rechtsextremen in Frankreich befeuert, wie bestellt…

Laboursolidarity: Gegen die extreme Rechte, überall!Das nennt man ein Verbrechen, das wie gerufen kam, jedenfalls für manche, und das sofort politisch instrumentalisiert wurde – wofür der Boden längst reif gemacht worden war. Am vorigen Donnerstag (den 08. Juni) gegen zehn Uhr Vormittags attackierte der 31-jährige syrische Staatsbürger Abdalmasih Hanoun – möglicherweise im Zusammenhang mit einer akuten psychischen Störung – in einem Kindergarten im ostfranzösischen Annecy mehrere Kleinkinder. Vier Opfer im Alter von 22 Monaten bis zu drei Jahren mit französischer, britischer und holländischer Nationalität wurden mit Messerstichen verletzt und in einem Krankenhaus in Grenoble notoperiert. Seit Sonntag schwebt keines der Kinder mehr in Lebensgefahr. Schnell wurden auf politischer Ebene Zusammenhänge hergestellt, besonders dort, wo nachweislich keine existieren…“ Artikel von Bernhard Schmid vom 16.06.2023 – wir danken!

Wie die Messerattacke eines Syrers auf Kinder in Annecy die Hassdiskurse der Konservativen und Rechtsextremen
in Frankreich befeuert, wie bestellt…

Das nennt man ein Verbrechen, das wie gerufen kam, jedenfalls für manche, und das sofort politisch instrumentalisiert wurde – wofür der Boden längst reif gemacht worden war.

Am vorigen Donnerstag (den 08. Juni) gegen zehn Uhr Vormittags attackierte der 31-jährige syrische Staatsbürger Abdalmasih Hanoun – möglicherweise im Zusammenhang mit einer akuten psychischen Störung – in einem Kindergarten im ostfranzösischen Annecy mehrere Kleinkinder. Vier Opfer im Alter von 22 Monaten bis zu drei Jahren mit französischer, britischer und holländischer Nationalität wurden mit Messerstichen verletzt und in einem Krankenhaus in Grenoble notoperiert. Seit Sonntag schwebt keines der Kinder mehr in Lebensgefahr.

Schnell wurden auf politischer Ebene Zusammenhänge hergestellt, besonders dort, wo nachweislich keine existieren. „Ungebrochener Flüchtlingszustrom“, Islam, Terrorismus: Die übliche Assoziationskette schien in mancher Augen unvermeidlich nahe zu legen. Nun passte die Verkettung zur Tat und zum Täter nicht. Denn Abdalmasih Hanoun – dessen Vorname bedeutet wörtlich: „Diener des Messias“ – ist nicht nur ein syrischer Christ, wie seine in den folgenden Stunden durch Journalisten aufgefundene Ex-Ehefrau in Schweden und seine in den USA lebende Mutter bestätigten. Er trug auch ein Jesus- und ein Marienbild bei sich, und laut Augenzeugen soll er sogar mit den Worten In the name of Jesus Christ zugestochen haben. Auch lebte er seit zehn Jahren in Europa, wo er im Sommer 2013 in Schweden angekommen war. Dort war seinem Asylantrag stattgegeben worden.

Doch was nicht passend ist, wird passend gemacht. So stellten etwa der rechtsextreme vorjährige Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour, Chef der im Winter 2021/22 gegründeten Partei Reconquête! („Rückeroberung!“), öffentlich in Abrede, dass Hanoun wirklich Christ gewesen sei. Zahlreiche Webseiten wie die faschistische, Putin-geneigte und fanatisch moslemfeindliche Netzpublikation Riposte Laïque sekundierten, Nichtregierungsorganisationen brächten Zuwandernden bei, sie sollten sich als falsche Christen oder falsche Homosexuelle ausgeben, um Chancen für das Durchbringen ihres Asylantrags zu haben.

Gegen die explizit verbreitete These, Hanoun sei in Wirklichkeit ein verkappter Moslem, spricht nicht nur sein Name, sondern auch sein sonstiges Verhalten. In der Woche vor der Tat wurde Hanoun wegen Nacktbadens im See von Annecy, in dessen Nähe er seit dem vergangenen Herbst als Obdachloser lebte, polizeilich verwarnt. Und er trug eine auffällige Tätowierung am Fußknöchel, die auch auf den Fernsehbildern sichtbar ist, da er während der Attacke Bermudashorts trug. Beides ist jedoch für Islamisten undenkbar, da orthodox denkende Muslime etwa das Tätowieren als Eingriff in die Integrität des menschlichen Körpers, über den jedoch Gott – dessen Leihgabe er sei.- zu verfügen habe, ablehnen.

Alkohol oder Drogen hatte er laut polizeilichen Untersuchungen vor der Tat nicht konsumiert, doch verhielt er sich während des Polizeigewahrsams und der Vernehmung psychisch auffällig. Er rollte sich auf dem Boden herum, rief den Vernehmern Kill me! zu und musste, da er das Gehen strikt verweigerte, im Rollstuhl beim Untersuchungsrichter vorgefahren werden.

Was seinen Tatentschluss auslöste, ist ungewiss. Doch scheint festzustehen, dass er Schweden verließ, nachdem sein Einbürgerungsantrag zwei mal abgelehnt worden war, während seine ebenfalls syrischstämmige Ehefrau – welche er auf dem Fluchtweg in der Türkei kennenlernte und mit der er eine dreijährige Tochter hatte – die schwedische Staatsbürgerschaft erhielt. Hanoun hatte einmal seinen Antrag zu früh gestellt, nach vier Jahren legalen Aufenthalts in Schweden, wo gesetzlich fünf Jahre erforderlich wären; beim zweiten Mal erhielt er eine Ablehnung, weil ihm Sozialleistungsbetrug vorgeworfen wurde. Hanoun hatte zuvor gleichzeitig Studienförderung, während er eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolvierte, und Arbeitslosengeld kassiert, was die Behörden als gesetzeswidrig einstuften. Daraufhin reiste er durch halb Europa und stellte nacheinander Asylanträge in Italien, in der Schweiz und in Frankreich, wo er im Oktober 2022 ankam.

Letzterer war vier Tage vor der Tat durch das französische Asyl- und Staatenlosen-Amt OFPRA als unzulässig abgelehnt worden, da bereits in einem EU-Staat mit vergleichbarem Schutzniveau eine Anerkennung vorliege. In der öffentlichen Diskussion kritisiert wird das OFPRA nun – etwa von Zemmours Parteifreundin Marion Maréchal bei einem Interview mit dem Sender BFM TV am Sonntag – dafür, dass es für diese Unzulässigkeitsfeststellung acht Monate statt vierzehn Tage benötigt habe. Allerdings muss das OFPRA bei bereits vorliegendem Schutz in einem anderen EU-Staat prüfen, ob etwaige Gründe für einen „Status-Transfer“ vorliegen, wie eine Unwirksamkeit des dortigen Schutzes, was in Ungarn in Betracht käme, in Schweden jedoch nicht, oder aber Familienzusammenführung. Letztere setzte allerdings einen zuvor gestellten Visumsantrag für Frankreich voraus.

Hanoun hätte infolge der Ablehnung durch das OPFRA noch den Weg einer Verwaltungsklage vor dem Nationalen Gerichtshof für Asylrecht (CNDA) beschreiten können, was ihm den Beibehalt eines Aufenthaltsrecht als Asylbewerber sowie einer geringfügigen Sozialleistung in Höhe von knapp 300 Euro monatlich bis zum Abschluss des Verfahrens verschafft hätte. Ansonsten genoss er als in Schweden Aufenthaltsberechtigter, wie alle „legal“ in einem EU-Land lebenden Drittstaatsangehörigen, eine Freizügigkeit. Diese nimmt die Gestalt einer Bewegungsfreiheit in allen EU-Ländern für die Dauer von 90 Tagen an, jedoch nicht die einer Niederlassungsfreiheit. Letztere setzt die Ausstellung eines einjährigen Visums und danach eines Aufenthaltstitel voraus. Dafür wären entweder eine im Gesetz vorgesehene Familiennachzugssituation oder eine behördlich genehmigte Arbeitsaufnahme, beispielsweise in einem „Mangelberuf“, erforderlich.

Eventuell war die bei ihm ausgelöste narzisstische Kränkung durch die Ablehnung der Staatsangehörigkeit in Schweden sowie, zuletzt, seines Asylantrags in Frankreich für die Auslösung seines irren Tatentschluss mit ursächlich. Denkbar ist aber auch Traumatisierung aufgrund früherer Erlebnisse in Syrien, wo Hanoun 2012 zum Dienst bei der Armee eingezogen worden war, bevor er in die Türkei desertierte. Nicht unvorstellbar ist auch eine Kombination solcher Faktoren.

Als vorgebliche Reaktion auf die Tat und den Täter machte Marine Le Pen, die Fraktionsvorsitzende des rechtsextremen Rassemblement national (RN), sich für die Aufhebung der Bewegungsfreiheit für anerkannte Asylberechtigte im EU-Raum stark. Dies würde allerdings – jenseits inhaltlicher Bedenken – eine Abänderung der Regeln des Schengen-Abkommens voraussetzen, denn dieses garantiert allen gesetzmäßig in einem Mitgliedsland lebenden Drittstaatsangehörigen die neunzigtägige Freizügigkeit, die der Dauer eines Kurz- oder Besuchervisums für außerhalb Lebende entspricht. Eine solche Änderung würde wiederum eine Einstimmigkeit unter den Mitgliedsstaaten voraussetzen, welche nur selten vorkommt. Le Pens Parteifreund und -vorsitzender Jordan Bardella, der in der mittlerweile üblichen Rollenteilung mit der Chefin der Parlamentsfraktion des RN den raueren Part übernimmt, während Marine Le Pen sich vordergründig in verbaler Zurückhaltung üben darf, verbreitete unterdessen allgemeiner gefasste Vorschläge. Es brauche „eine Volksabstimmung über die Masseneinwanderung“, mit diesen Worten bot er erneut einen Dauerbrenner seiner Partei an. Noch schärfere Töne schlug der mit dem RN konkurrierende Eric Zemmour an. Er versuchte einmal mehr, seine Wortschöpfung vom „Francozid“ im öffentlichen Sprachgebrauch durchzusetzen. Diese soll suggerieren, es gebe, in Anlehnung an den seit den 1980er Jahren entstandenen Begriff vom Feminizid, also Mord aus Frauenhass oder -unterdrückung, eine besondere Kategorie von Tötungsdelikten; diese würden wegen der Zugehörigkeit zum „französischen Volk“ und durch Ausländer systematisch verübt.

Aber auch auf konservativer Seite wurde sofort Öl ins Feuer gegossen. So tönte der Fraktionsvorsitzende der bürgerlichen Rechtspartei Les Républicains (LR) in der Nationalversammlung, Olivier Marleix, in einer ersten Reaktion auf die Attacke von Annecy: „Die unkontrollierte Einwanderung tötet. Statt bei jedem neuen Verbrechen zu lamentiere, stoppen wir eher die Masseneinwanderung!“ Sein Parteivorsitzender Eric Ciotti – er verkündete 2021, in einer Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und Zemmour würde er für den Rechtsextremen stimmen – schrieb am Sonntag an Staatspräsident Macron, um zu verlangen, bei ihm vorgelassen zu werden, um über Vorschläge seiner Partei zum angebliche Einwanderungsproblem zu diskutieren.

Die Parteispitze von LR hatte zuvor, am 21. Mai, einen eigenen Vorschlag für ein neues Ausländergesetz vorgelegt. Dadurch versuchte sie, das Regierungslager vor sich her zu treiben. Hatte Innenminister Gérald Darmanin doch im vorigen Dezember selbst einen Entwurf für eine Gesetzesnovelle im Ausländerrecht vorgelegt – da bis dahin zwischen 1980 auch erst 28 neue Ausländergesetze verabschiedet worden waren, also alle anderthalb Jahre eines, bestand auch wirklich dringender Handlungsbedarf. Aufgrund unklarer Mehrheitsverhältnisse im Parlament, die bei der umstrittenen Rentenreform im Frühjahr klar zu Tage treten, wobei die Spaltung der LR-Parlamentsfraktion damals eine Mehrheitsbildung erschwert hatte, verschob das Regierungslager das Vorhaben jedoch; vorläufig und offiziell auf kommenden Herbst, doch mit unklarem Fortgang. Sowohl das Regierungslager, das seit 2022 nur noch über eine relative Sitzmehrheit verfügt, als auch LR waren allerdings gar zu froh, in der Öffentlichkeit über etwas Anderes als über soziale Fragen und insbesondere regressive Reformen wie bei den Renten debattieren zu dürfen.

Der Vorstoß von LR, mit dem die Partei in die Offensive zu kommen versuchte, hatte es inhaltlich in sich. So sieht es neben Quotenregelungen – also Obergrenzen – und einer Einschränkung des Rechts auf Familiennachzug einen grundsätzlichen Vorrang nationalen Rechts über supranationales Recht im Bereich der Ausländergesetzgebung vor. Dabei geht es insbesondere darum, die  Wirkung er Rechtsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarats, welche ein Recht auf Zusammenleben mit Angehörigen der Kernfamilie nach Artikel 8 EMRK garantiert, auszuhebeln. Allerdings wirft die Idee vom Vorrang nationalen Gesetzes auf diesem Gebiet auch Probleme mit der Zugehörigkeit zur EU aufwerfen, es sei denn, regierende Rechtsparteien wie derzeit in Italien, Schweden und Ungarn gestalten die Unionerfolgreich  in ihrem Sinne um.

Seit Wochen also herrschte bereits ein Überbietungswettbewerb auf der Rechten, noch bevor sich die Mordversuche von Annecy ereigneten. In ihn traten auch außerparlamentarische militante rechtsextreme Gruppe ein.

In den letzten beiden Jahren machten diese – in einer Arbeitsteilung mit den Parteien RN und R!, die an denselben Orten und jeweils zum selben Thema legale Demonstrationen veranstalteten – vielerorts dort, wo in Kleinstädten und im ländlichen Raum Aufnahmezenten für Asylsuchende (CADA) eingerichtet wurden, die betreffenden Kommunen zu Brennpunkten wie etwa im bretonischen Callac. Dabei sorgte die in Atlantiknähe gelegene Gemeinde Saint-Brévin-Les-Pins in den letzten Monaten frankreichweit für Schlagzeilen.

Ihr Bürgermeister Yannick Morez, ein gemäßigter Bürgerlicher, der die Einrichtung eines CADA in seiner 15.000 Einwohner zählenden Kleinstadt unterstützt hatte, reichte am 10. Mai seinen Rücktritt ein und kündigte seinen Umzug außerhalb der Gemeinde ein. Zuvor waren im März sein Wohnhaus und sein Auto bei einem Anschlag in Flammen aufgegangen. Morez beklagte sich in seiner Rücktrittserklärung über mangelnde staatliche Unterstützung: Die Regierung und die Justiz hätten ihn quasi sich selbst überlassen, während quasi im Wochenrhythmus gegen ihn gerichtete Demonstrationen auch mit überregionaler Beteiligung stattfanden und personenbezogene Informationen über ihn in Umlauf gebracht wurden. Kurz nach dem Bekanntwerden seines Aufgebens erhoben sich im Parlament zahlreiche Abgeordnete zu einer Ehrenbekundung für ihn, doch die RN-Fraktion blieb sitzen.

Am vorigen Freitag Abend wurde seine Nachfolgerin, Dorothée Pacaud, in ihr Amt eingeführt. Aus diesem Anlass kam es erneut zu Störaktionen. Während Gegner der Errichtung eines CADA sie am Ein- und Ausgang des Gemeinderats zur Rede stellten, demonstrierte ein Dutzend militanter Rechtsextremer zu Beginn ihrer Vereidigung mit Bengalo-Leuchtfackeln vor den Fenstern des Rathauses. Sowohl die Friedlichen wie auch die militant Auftretenden behaupteten, „heute“ sei „Annecy an der Reihe, und morgen dann Saint-Brévin“.

Auch das grüne Stadtoberhaupt von Annecy wurde inzwischen bedroht, weil der Mann sich öffentlich gegen ein „Amalgam“, also eine unzulässige Vermischung von Sachverhalten verwahrt hatte. Bei einer Kundgebung für Solidarität mit den Opfern und für ein friedliches Zusammenleben am Sonntag Vormittag sprach Bürgermeister François Astorg sich ferner „gegen Hassdiskurse“ aus. Rechtsextreme, von denen einige sich bereits am Freitag unter die betroffene Menge am Seeufer und rund um den Tatort zu mischen versuchten, brachten über die sozialen Medien Angaben zu seinem Wohnsitz und zu seinen Fortbewegungsgewohnheiten in Umlauf. Astorg erstattete am Samstag Strafanzeige. Gestern Saint-Brévin, und morgen Annecy?

Artikel von Bernhard Schmid vom 16.06.2023 – wir danken!

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