[Buch „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“] Der Ukrainekrieg und was sich daraus lernen ließe

Flugschrift „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ von Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo im VDA-VerlagEnde Mai 2023 ist im Hamburger VSA-Verlag die Flugschrift „Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch“ von Norbert Wohlfahrt und Johannes Schillo externer Link erschienen (unten mehr dazu), die Lektionen in Sachen patriotische Moral – passend zur Formierung der deutschen Öffentlichkeit mit ihrer antirussischen Leitlinie – bieten und eine Gegenrede zur aktuellen Kriegsbegeisterung liefern will. Im Zentrum der Flugschrift stehen Beispiele, wie in Politik und Publizistik versucht wird, den Ukraine-Krieg zu nutzen, um »patriotisches Denken« und eine vaterländische Kriegsmoral mehrheitsfähig zu machen. Zugleich wird die patriotische Moral, die sich früher einmal durch einen speziellen Friedensidealismus auszeichnete, auf den Prüfstand gestellt. Hier ein Auszug aus dem Schlussteil des Buchs, der die entscheidenden Lektionen zusammenfasst – wir danken den Autoren!

Der Ukrainekrieg und was sich daraus lernen ließe

Mit dem Ukrainekrieg und der von ihm – angeblich sachzwangmäßig – ausgelösten „Zeitenwende“ hat sich in Kürze eine Kriegsmoral durchgesetzt, die die neuen Zeiten beinahe euphorisch als Beendigung der westlichen Agonie des Zauderns und Zögerns begrüßt. Militarisierung, erfolgreiche Kriegsführung, innere Feindbekämpfung und eine unverbrüchliche Partnerschaft mit den Freiheitskämpfern der Ukraine geben den Ton an und abweichende Meinungen werden immer weniger toleriert. Die Kriegsmoralisten retten vergewaltigte Frauen und geschändete Kinder durch die Mittel moderner Kriegsführung, sie halten Forderungen nach Streu- und Phosphorbomben zumindest für erwägenswert, sie stellen Kritikern schon beinahe fassungslos die Frage, ob denn Russland zu einem Frieden bereit sei, und sie sind kein bisschen irritiert, wenn nach einer von den USA angekündigten Außerkraftsetzung einer russischen Pipeline der Verdacht ventiliert wird, der eingetretene Schadensfall ginge aufs Konto der Russen. Putin tötet und mordet lautet die Botschaft und seine Bösartigkeit wird manifest, wenn er von Sicherheitsinteressen phantasiert, die ihm der Westen angeblich verweigert.

Die Unerbittlichkeit, mit der sich das Gute, das der „freie Westen“ repräsentiert, die Schädigung und Vernichtung des Bösen zur Aufgabe macht, das im östlichen Aggressor mit seiner ganzen Brutalität zu Tage treten soll, ist beängstigend und doch Realität. Aus dieser Unerbittlichkeit lässt sich einiges lernen:

  • Im Krieg soll nicht die Sache zählen, um die es geht, also die geostrategischen Überlegungen und die auf Eingrenzung und Schädigung feindlicher Mächte ausgerichteten Verteidigungsstrategien, sondern die Frage, wer angefangen hat. Dass ein Kriegsbündnis wie die NATO eine internationale Vereinbarung nach der anderen storniert, bis vor die Haustür des erklärten Feindes seine Vorwärtsverteidigung vorantreibt und dessen Nachbarland zu einem feindlichem Gegenüber aufpäppelt, ist geschenkt. Dass Russland mit seinem Angriffskrieg das Völkerrecht bricht (was nach eigener Aussage der ehemalige Bundeskanzler Schröder mit dem Kosovokrieg ebenfalls tat), macht aus Sicht der Kriegsmoralisten diesen Staat zum Terrorstaat, dem unsere ganze Verachtung zu gelten hat. Jeder Hinweis darauf, dass dieser Krieg nicht vom Himmel gefallen ist, Gründe hat und Interessen im Spiel sind, die mit Moral recht wenig zu tun haben, gilt als potenzielles Feindverständnis.
  • Lernen ließe sich auch einiges über die Rolle einer Öffentlichkeit und eines Wissenschaftsbetriebes, für die das Wort Propaganda nur da Gültigkeit hat, wo Regime als totalitär oder autokratisch eingestuft werden. Stattdessen betreiben sie aus vollster Überzeugung Aufklärung im nationalen Interesse, achten dabei auf die Maßstäbe publizistischer Ausgewogenheit und wissenschaftlicher Methodik und sind Parteigänger des ukrainischen Volkes, das seine Freiheit mit seinen Toten verteidigt. Die westlichen Werte von freedom & democracy, die sonst stets mit Blick auf ihre Gültigkeit kritisch hinterfragt werden dürfen, sind die unumstößlichen Leitplanken des öffentlich zu Denkenden und Amerika ist – Trump hin oder her – der Leithammel des seine Werte verteidigenden Westens. Es ließe sich auch lernen, dass die Moral, die bei dieser Parteilichkeit im Spiel ist, manchmal hemmungslos macht und Journalistinnen in Panzer kriechen lässt, wobei anscheinend das Glücksgefühl funktionierender Haubitzen schon das Vergnügen vorwegnimmt, dass diese beim Umbringen des Feindes erzeugen.
  • Es ließe sich auch lernen, wie schnell ein Staat, der noch bis vor kurzem als korrupt galt und als failed state gerankt werden konnte, zum Bannerträger der Freiheit avanciert und mit seinem unbedingten Willen, Leib und Leben seiner Bevölkerung für seine territoriale Integrität zu opfern, zum Vorzeigesubjekt gelungener Selbstbehauptung stilisiert wird. Ein Ex-Clown, der die Klaviatur des Medialen beherrscht, gibt dem „freien Westen“ vor, was er für seine Verteidigung braucht, und er scheut dabei selbst vor dem Griff nach Streubomben und Langstreckenraketen nicht zurück. Das trägt ihm keineswegs den Ruf ein, durchgeknallt zu sein, sondern macht ihn zum gefeierten Star der vielen Staatszusammenkünfte, in denen weitere Schritte zur Erledigung des Feindes auf der Tagesordnung stehen. Dass die Ukraine Mittel eines Stellvertreterkrieges ist, kehrt sich aus Sicht dieses Staatsmanns um, wenn er denjenigen, an deren Tropf er hängt, die Leviten liest, ihre Zurückhaltung bei der Waffenbeschaffung geißelt und den Sieg über Russland verkündet, den die Zauderer und Zögerer womöglich hintertreiben.
  • Lernen ließe sich auch etwas über die Weltmacht USA und ihren deutschen Bündnispartner. Amerika und sein Präsident beanspruchen mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt den Führungsanspruch seines Staates für das Vorgehen gegen Russland und den Chef im Weißen Haus kümmern die Souveränitätsrechte seines Partners hierbei herzlich wenig. Der deutsche Bündnispartner, der lange Zeit versucht hat, seine Treue zur amerikanischen Nation mit einigen ökonomischen Sonderwegen bei der Förderung seines Exportkapitalismus zu kombinieren, erweist sich als williger Mitmacher beim Sanktionsregime, bürdet seiner Bevölkerung erhebliche wirtschaftliche Einschränkungen auf und begibt sich so schnell es geht an die Front der Putinbekämpfer. Der deutsche Imperialismus, der nie so eindringlich auf eine europäische Alternative gedrungen hat wie Frankreichs Macron, nutzt seine Abhängigkeit von der amerikanischen Weltmacht, um in der neuen Weltordnung weiter an vorderster Front mitzuspielen. Er kämpft um eine neue Führungsrolle, die Frankreich, das ja keine „Macht in der Mitte“ ist, schon traditionell nicht zusteht. Eine Kriegsmacht Europa ist, so die Vorstellung, nur unter deutscher Führung strategisch souverän. Die immer weiter um sich greifende Russenfeindschaft, die einigen herausragenden Kulturträgern dieses Staates den Job kostet, ist Beifang.
  • Lernen ließe sich auch einiges über das Verhältnis, das demokratische Staaten zu dem von ihnen gepflegten und geförderten Kapitalismus einnehmen. Mit der Souveränität ihrer Rechtsgewalt setzen sie erfolgreiche Geschäftsmodelle außer Kraft, schaden den Akkumulationsbedürfnissen ihrer Unternehmen und riskieren den Verlust bedeutender Teile ihres gesellschaftlichen Reichtums. Von wegen Neoliberalismus und Suprematie des Marktes: Der Staat erweist sich als die seine Gesellschaft regierende und dominierende Gewalt, die das gesamte gesellschaftliche Leben auf die Notwendigkeiten der Aufrüstung und Kriegsbereitschaft verpflichtet. Und wer jetzt noch nach einem gerechteren Sozialstaat ruft, dem ist wahrscheinlich nicht mehr zu helfen.
  • Lernen ließe sich auch noch etwas über das Verhältnis von Moral und Gewalt. Aus den Gutmenschen, die Rechte unterdrückter Minderheiten achten, aus identitätspolitisch Aufgeklärten, die die plurale und diverse Gesellschaft fordern, werden ohne viel Federlesen Verteidiger von Militarismus, Aufrüstung und Ankläger eines „Lumpenpazifisms“, denen gar nicht genug staatliche Gewaltmittel zur Durchsetzung des kriegsmoralisch Gebotenen bereit gestellt werden können. Die Gewalt ist die Schwester der Moral und Moralisten verachten all jene, die eine Kritik an Gewalt und den Subjekten haben, die sich diese zum Mittel machen. Man lernt daraus, wie wenig der Blick in die Geschichte hilft: Heute sind Militarismus und Kriegsfanatismus etwas ganz anderes als damals. Und das hat einen Grund: Sie dienen der guten Sache.
  • Der Ukrainekrieg, so lässt sich bilanzieren, bestätigt und verändert die vom Westen verantwortete Weltordnung. Die Russen wollten sich darin behaupten und ihren Kapitalismus nach ihren Maßstäben erfolgreich machen. Die Qualifizierung ihres Staates als „Regionalmacht“ erfordert aus ihrer Sicht eine Korrektur, die die globale Handlungsfähigkeit des russischen Staates (wieder) herstellt. Hierzu gehört auch die Verantwortung für die Russen und deren Anspruch auf eine völkische Heimat. Ob dieses Russland seinen Krieg gewinnen kann, ist deshalb gar nicht die Frage. Der Westen bestimmt die Konditionen, nach denen dieser Krieg entschieden wird, und der Preis, der dafür zu zahlen ist, stellt eine der Unwägbarkeiten dar, mit denen in Ost und West derzeit gerechnet wird.
  • Damit lässt sich schlussendlich auch etwas über den Frieden lernen. Denn außer einigen Friedensbewegten geht es keiner der beteiligten Parteien um ihn. Amerika und seine Bündnispartner sehen im Krieg die Chance, die Russen entscheidend zu schwächen, Präsident Biden erklärt mit aller Deutlichkeit, dass Amerika die Annexion der Krim niemals anerkennen werde, der NATO-Generalsekretär Stoltenberg verkündet die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine „zu einem späteren Zeitpunkt“ und der deutsche Bundeskanzler betont wiederholt, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen dürfe. Die Ukraine teilt der Öffentlichkeit mit, dass das Abkommen von Minsk Geschichte sei und niemals wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden könne, die Krim stattdessen zurückerobert werden müsse. Der russische Präsident pocht auf die Sicherheitsinteressen seines Landes und warnt vor einer Zerstückelung seiner Nation. Usw.

Alle beteiligten Parteien betreiben also mit immer weiter gesteckten Zielsetzungen ihren Krieg. Der Westen munitioniert die Ukraine „mit allem, was sie braucht“, wie die gängige Formulierung von Biden, Scholz und Co. heißt – und ob die Russen einen Atomkrieg anzetteln, schreckt immer weniger. Frieden? Der wird sicher irgendwann kommen. Auf Basis des erreichten Kräfteverhältnisses werden sich dann neue Kriegsziele entwickeln und die Friedensordnung vor immer neue Herausforderungen stellen. Auf diese wird sich in der Konkurrenz der beteiligten Staaten schon kräftig vorbereitet und darauf geachtet, gestärkt auch aus diesem Krieg hervorzugehen. Deshalb kann man aus diesem Krieg auch lernen, dass es mit dem Wunsch nach Frieden nicht getan ist.

Das Buch

  • Norbert Wohlfahrt / Johannes Schillo: Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch. Lektionen in patriotischem Denken über »westliche Werte«. Eine Flugschrift
    136 Seiten | 2023 | EUR 10.00
    ISBN 978-3-96488-188-5
    Siehe beim VSA-Verlag mehr Infos und Bestellung externer Link sowie als Leseprobe externer Link Inhaltsverzeichnis und Vorwort: „Es ist zu erwarten, dass die vorliegende Flugschrift mit dem Urteil, den russischen Angriffskrieg zu relativieren, konfrontiert werden wird. Dieser Befund würde dem Anliegen der Flugschrift nicht gerecht. Im Gegenteil. Er wäre eine Bestätigung unserer Kritik, dass das Desinteresse an der Erklärung der Kriegsgründe einem moralischen Bewusstsein folgt, dass mit seiner Parteilichkeit für den Angegriffenen alle möglichen Gründe dafür in Anschlag bringt, dass dieser Krieg geführt werden muss. Dieser Kriegsmoral wollen wir entgegentreten. Es macht schier fassungslos, in welcher Geschwindigkeit sich ein Denken breit macht, das den Feind besiegen, das Militär als Mittel der Feindvernichtung aufrüsten und das nationale Interesse an der Feindbekämpfung stärken will. Was gestern noch als undenkbar galt – deutsche Premium-Panzer für einen Krieg gegen Russland – ist heute schon ein bedenkliches Zaudern, weil nicht gleich Kampfflugzeuge mitgeliefert werden, und reibt sich möglicherweise morgen schon an den nächsten »roten Linien«. Jedes Mittel, den russischen Angreifer zunichtezumachen, gilt als legitim und Kritik daran als – mindestens – verwerflich. Der Vorwurf des Vaterlandsverrats liegt in der Luft…“

Zum Thema im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=212512
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