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Im relativen Schatten der Rentenreform, und doch davon beeinflußt: Lohnkämpfe in Frankreich – nicht nur der erfolgreiche beim Textilunternehmen Vertbaudet

Frankreich: Boycott Vertbaudet (CGT)Lohnstreik bei Vertbaudet, dessen Begleitumstände frankreichweit Aufsehen erregten, geht mit einem (relativen doch realen) Erfolg für die Streikenden zu Ende. An diesem Dienstag, den 06.06.23 wird dort die Arbeit wieder aufgenommen – Zuvor hatte die Direktion u.a. illegal Streikende durch Leiharbeitskräfte zu ersetzen versucht; ein Gewerkschaftsdelegierter war unter ungeklärten Umständen zu Hause attackiert und einige Kilometer weit entführt worden – Das Ganze steht im Kontext in den letzten Wochen zunehmender, jedoch nicht koordinierter Lohnstreiks; im Falle von Vertbaudet schaltete sich die CGT-Spitze ein…“ Artikel von Bernard Schmid vom 5.6.2023 – wir danken!

Im relativen Schatten der Rentenreform, und doch davon beeinflußt:
Lohnkämpfe in Frankreich, nicht nur der erfolgreiche beim Textilunternehmens Vertbaudet

Lohnstreik bei Vertbaudet, dessen Begleitumstände frankreichweit Aufsehen erregten, geht mit einem (relativen doch realen) Erfolg für die Streikenden zu Ende. An diesem Dienstag, den 06.06.23 wird dort die Arbeit wieder aufgenommen – Zuvor hatte die Direktion u.a. illegal Streikende durch Leiharbeitskräfte zu ersetzen versucht; ein Gewerkschaftsdelegierter war unter ungeklärten Umständen zu Hause attackiert und einige Kilometer weit entführt worden – Das Ganze steht im Kontext in den letzten Wochen zunehmender, jedoch nicht koordinierter Lohnstreiks; im Falle von Vertbaudet schaltete sich die CGT-Spitze ein

Seit dem 20. März dieses Jahres (Anm.: ein Artikel auf der Webseite des öffentlich-rechtlichen Fernsehens schreibt versehentlich „20. Mai“ (vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/emploi/emploi-vertbaudet-un-accord-apres-deux-mois-de-greve_5867390.html externer Link), doch richtig ist 20.03.2023) waren sie im Streik: Lohnabhängige, überwiegend Frauen, des Textilunternehmens Vertbaudet. Dieses verkauft vorwiegend Baby- und Kinderkleidung und unterhält im nordfranzösischen Marquette-lez-Lille, zwischen den Städten Lille und Tourcoing gelegen, ein Logistikzentrum/Lager. Am heutigen Dienstag, den 06.06.2023 nehmen die bislang Streikenden dort die Arbeit wieder auf.

Am Ort fand im März dieses Jahres die jährliche Lohnverhandlungsrunde (négociation annuelle obligatoire, NAO) statt, deren Abhaltung und Durchführung – nicht ein Abschluss! – für alle Unternehmen ab fünfzig Beschäftigten gesetzlich verpflichtend ist; deswegen das obligatoire in der Bezeichnung. Nur bot die Unternehmensleitung im Rahmen dieser Pflichtverhandlung in diesem Jahr genau… null Prozent jährlicher Lohnerhöhung an. Dennoch fanden sich am 10. März dieses Jahres dann zwei Unterzeichnergewerkschaften ein, die Ableger der Dachverbände FO (politisch schillernd, Force ouvrière) und CFTC (christlicher Gewerkschaftsbund), denen zwar keine Lohnerhöhungen, doch Sonderzahlungen in Prämienform – die jedoch weder auf die Rente usw. Anrechnung finden, noch etwa bei der Wohnungssuche als Lohnbestandteil geltend gemacht werden können – zugestand. (https://www.droits-salaries.com/397555327-vertbaudet/39755532700048-siege/T59L23020031-nao-2023-portant-sur-les-remunuerations-le-temps-de-travail-ainsi-que-la-qualite-de-vie-et-des-conditions-de-travail-salaires-autres.shtml externer Link und https://www.gaucherevolutionnaire.fr/vertbaudet-les-travailleuses-en-lutte-contre-les-nao-a-zero/ externer Link)

Der Standort zählt 255 Lohnabhängige, unter ihnen die Hälfte prekär Beschäftigte, insbesondere Leiharbeiter/innen. Unter ihnen traten 72 in den mehrwöchigen Streik.

Rund um diesen gab es alsbald schon landesweite Aufmerksamkeit, die auch durch einen Besuch von CGT-Generalsekretärin Sophie Binet – und Äußerungen von ihr zum Thema anlässlich von landesweit ausgestrahlten Interviews und bei TV-Auftritten (vgl. https://www.bfmtv.com/societe/l-interview-en-integralite-de-sophie-binet-cgt_VN-202305170932.html externer Link) – unterstrichen wurde. Die CGT drohte i.Ü. damit, eine landesweite Boykottbewegung gegen die Marke zu initiieren.

Zu dieser erheblichen Aufmerksamkeit trug bei (vgl. eine jüngst erschienene Chronologie der Ereignisse: https://www.lavoixdunord.fr/1335714/article/2023-06-03/verbaudet-les-questions-que-l-se-pose-apres-l-accord-trouve-entre-cgt-et externer Link), dass die Leitung des Unternehmens zwei mal, am 23. März sowie am 17./18. April d.J., Streikposten polizeilich abräumen ließ; dass ihr seitens der CGT, die dagegen am 25. April (erfolglos) gerichtlich vorging, vorgeworfen wurde, widerrechtlicher Weise Leiharbeitskräfte zum Austausch/zur Ersetzung von streikenden Beschäftigten einzusetzen.

Insbesondere jedoch erregte frankreichweites Aufsehen, dass am 17. Mai d.J. bekannt wurde, dass am Vorabend ein Vertrauensmann oder délégué der CGT durch Unbekannte zu Hause in Villeneuve-d’Ascq aufgegriffen, unter den Augen seines 16-jährigen Sohnes in ein Auto gezerrt, als sale gréviste (sinngemäß: „Streikenden-Sau“) beschimpft, verprügelt, mit Tränen- oder Reizgas besprüht und in der sieben bis acht Kilometer entfernten Kommune Ronchin wieder ausgesetzt wurde. Dabei fehlten ihm sein Geldbeutel und sein Telephon, die ihm entwendet worden waren. Die daran beteiligten (mindestens) drei Unbekannten hatten sich ihm als „Zivilpolizisten“ vorgestellt, welche sie vielleicht waren und vielleicht auch nicht. – Die Staatsanwaltschaft eröffnete dazu, nach Bekanntwerden der Affäre, ein Ermittlungsverfahren. Vgl.:

Am 22. Mai nahmen daraufhin rund 300 Personen, unter ihnen Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon von der linkspopulistischen Wahlplattform LFI („Das unbeugsame Frankreich“), an einer Solidaritätskundgebung für ihn und für die streikenden Lohnabhängigen statt.

Am zurückliegenden Freitag, den 02. Juni nun ging der Arbeitskampf zu Ende. Das Unternehmen gab gegenüber der Festgeldforderung nach: Es gibt, je nach Dauer der Unternehmenszugehörigkeit, zwischen 90 und 140 Euro mehr Geld. Dazu hatte die Direktion formal „eine vorgezogene obligatorische Jahres-Lohnverhandlung für das Jahr 2024“ eröffnet und zwischen dem 26. Mai und dem 1. Juni dieses Jahres durchgeführt… um nicht das Gesicht zu verlieren und ihr Abkommen vom 10. März d.J. nachträglich aufzudröseln und verbessern zu müssen.

Konkret wird es für Beschäftigte ab zwölfjähriger Unternehmenszugehörigkeit – das betrifft rund 80 % der Belegschaft – + 7 % Prozent mehr Lohn, also 1.860 euro (brutto) monatlich über dreizehn Monate, und für Lohnabhängige mit weniger langer Beschäftigungsdauer künftig 1.810 euro brutto pro Monat oder + 4 % mehr Lohn geben.

Ferner werden dreißig bisher als Leiharbeitskräfte Angestellte in ein Festeinstellungsverhältnis im Unternehmen übernommen.

„Aus prinzipiellen Gründen“ nicht nachgegeben hat die Direktion beim Thema Bezahlung der zurückliegenden Streiktage. Doch behalten die zweieinhalb Monate hindurch streikenden Beschäftigten ihr Anrecht auf ein volles dreizehntes Monatsgehalt. Theoretisch hätte die Leitung dieses anteilsmäßig nach Anwesenheit im Unternehmen im Jahresmaßstab (plus Jahresurlaub), also auf der Grundlage von 9,5 Monaten statt zwölf Monaten im laufenden Jahren, berechnen können. Vgl. dazu bspw.:

Nich nur Vertbaudet…

Das Ganze steht im Kontext von Lohnstreiks, deren Anzahl in den vergangenen Wochen zunimmt – wohl auch begünstigt durch die mehrmonatigen Auseinandersetzungen um die Renten„reform“ in Frankreich und die gewerkschaftliche (und darüber hinaus gehende) Mobilisierung darum -, die jedoch nicht koordiniert ablaufen, wenn auch der Arbeitskampf bei Vertbaudet landesweite Bedeutung und Aufmerksamkeit bekommen hatte.

So hatten im April d.J. streikende Beschäftigte bei Amazon eine Lohnerhöhung um durchschnittlich +7,8 % herausholen zu können (die jährliche Inflationsrate liegt derzeit zwischen 5 und 6 %). Vier von fünf Gewerkschaften mit Ausnahme der CGT, unter jedoch auch die linke Basisgewerkschaft SUD, unterzeichneten das dazugehörige Abkommen vom 11. April 23. Allerdings setzt sich die vereinbarte Erhöhung aus einem Anheben des Lohns um durchschnittlich + 4,3 % im Jahr 2023 einerseits, und andererseits einer 2023 und 2024 ausgeschütteten Sonderzahlung in Gestalt der für „Arbeitgeber“ steuer- und abgabenfreien so genannten „Macron-Prämie“ (in ihren Grundzügen im Dezember 2018 als Antwort auf die „Gelbwesten“proteste eingeführt, 2022 im Zuge des Wahlkampfs erhöht) zusammen. Letztere ist an die Anwesenheit im Unternehmen respektive ausbleibende Fehlzeiten gekoppelt. Aus diesen Gründen blieb die CGT bei ihrer Ablehnung, die das Abkommen jedoch nicht kippen lässt, da die Unterzeichner/innen/gewerkschaft rund 80 % der Stimmen im Unternehmen auf die Waage bringen. Vgl.:

Sonstige Lohnstreiks anderswo in Frankreich

Diverse Lohnstreiks fanden oder finden derzeit statt, u.a. seit dem Montag, den 05. Juni beim Glasfaserkabelhersteller Idea Optical im bretonischen Lannion (für Löhne und gegen sich verschlechternde Arbeitsbedingungen (vgl. https://actu.fr/bretagne/lannion_22113/lannion-les-salaries-didea-optical-en-greve-pour-leurs-salaires_59687897.html externer Link);
an bisher vier Aktionstagen, zuletzt am Dienstag und Samstag voriger Woche, 30. Mai und 03. Juni, in Disneyland in der Nähe von Paris für eine Erhöhung um 200 e monatlich (vgl. https://linsoumission.fr/2023/06/05/5-disney-greve-salaires/ externer Link und. https://france3-regions.francetvinfo.fr/paris-ile-de-france/seine-et-marne/disneyland-paris-nouvelle-greve-pour-les-salaires-2783594.html externer Link oder https://www.ouest-france.fr/economie/greve/cest-historique-une-nouvelle-journee-de-forte-mobilisation-des-salaries-de-disneyland-paris-66f3581e-021f-11ee-9060-9a31678f4c0d externer Link sowie https://www.bfmtv.com/paris/une-manifestation-en-cours-a-disneyland-paris-les-salaries-en-greve-pour-reclamer-une-revalorisation-salariale_AV-202306030250.html externer Link);
am vorigen Mittwoch, den 21.05.23 bei MAN energy solutions im Atlantikhafen von Saint-Nazaire, mit Unterstützung durch die CGT (vgl.: https://www.ouest-france.fr/pays-de-la-loire/saint-nazaire-44600/une-greve-pour-les-salaires-chez-man-a-saint-nazaire-fff85422-ffba-11ed-a786-1c739936b602 externer Link)
und ferner bei Kommunalbediensteten im Schuldienst im westfranzösischen Niort (vgl.: https://www.lanouvellerepublique.fr/niort/niort-le-personnel-des-ecoles-en-greve-pour-les-salaires-et-contre-la-precarite externer Link) sowie, mehrwöchig, in den Nahverkehrsmitteln im südwestfranzösischen Toulouse (vgl. dazu: https://www.ladepeche.fr/2023/06/05/greve-chez-tisseo-a-toulouse-une-nouvelle-semaine-galere-pour-les-usagers-11240608.php externer Link und: https://actu.fr/occitanie/toulouse_31555/toulouse-greve-chez-tisseo-de-nombreuses-lignes-de-bus-perturbees-ou-a-l-arret-voici-lesquelles_59686416.html externer Link oder: https://www.ladepeche.fr/2023/06/05/greve-chez-tisseo-a-toulouse-la-circulation-des-bus-fortement-perturbee-ce-lundi-11241623.php externer Link sowie: https://www.francebleu.fr/infos/transports/fortes-perturbations-sur-le-reseau-de-bus-a-toulouse-operation-filtrage-sur-trois-depots-9585865 externer Link).

So gut wie nichts mitbekommen – mit Ausnahme der südfranzösischen Region Occitanie – hat man jedoch von den angekündigten Lohnstreiks am vorigen Mittwoch, den 31. Mai 23 bei der französischen Eisenbahngesellschaft SNCF (vgl. https://demarchesadministratives.fr/actualites/greve-sncf-du-31-mai-quels-trains-en-circulation externer Link und https://www.leparisien.fr/economie/sncf-la-cgt-cheminots-appelle-a-la-greve-le-mercredi-31-mai-23-05-2023-DKUL6GBRZFHZVN2XEPATKVP374.php externer Link sowie für Südwestfrankreich: https://www.lejournaltoulousain.fr/occitanie/actualites-occitanie/greve-sncf-trafic-trains-perturbe-mercredi-31-mai-occitanie-210213/ externer Link). Dazu rief mit der CGT-Cheminots nur eine von vier als représentatif oder „tariffähig“ anerkannten Gewerkschaftsverbänden bei der SNCF auf, die übrigen drei (SUD Rail, CFDT, UNSA) an dem Tag lediglich zu Kundgebungen ohne Arbeitskämpfe.

Artikel von Bernard Schmid vom 5.6.2023 – wir danken!

Siehe zu Hintergründen im LabourNet:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=212243
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