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Frankreich: Politischer Sieger nach der Krise – wenn nicht die Gewerkschaften, dann die extreme Rechte?
„Die französische extreme Rechte vollzieht einen neuen Sprung auf insgesamt über 31 % der Stimmabsichten bei Parlamentswahlen (darunter 26 % für ihre parlamentarische Hauptpartei, das oder den Rassemblement national, RN). Und ihre gewichtigste Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen steht in einer Umfrage erstmals als Gewinnerin in einer, derzeit hypothetisch bleibenden, Stichwahl da. Doch welches inhaltliche Profil legt diese neofaschistische Rechte dabei an den Tag? Ein Rückblick auf ihre Positionen und auch das Abstimmungsverhalten ihrer Abgeordneten: zur Renten„reform“; zur Lohnpolitik (Stichwort „Macron-Prämien“); zum Vermieterschutz respektive zur Aushöhlung des Schutzes von Mieter/inne/n gegen Zwangsräumungen; Revanchismus & Antisemitismus…“ Artikel von Bernard Schmid vom 10.4.2023 – wir danken!
Frankreich: Die extreme Rechte als Hauptgewinnerin aus der derzeitigen politischen Situation
– falls die Gewerkschaften sich im aktuellen Konflikt um die Renten„reform“ nicht durchsetzen können?
Die französische extreme Rechte vollzieht einen neuen Sprung auf insgesamt über 31 % der Stimmabsichten bei Parlamentswahlen (darunter 26 % für ihre parlamentarische Hauptpartei, das oder den Rassemblement national, RN). Und ihre gewichtigste Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen steht in einer Umfrage erstmals als Gewinnerin in einer, derzeit hypothetisch bleibenden, Stichwahl da. Doch welches inhaltliche Profil legt diese neofaschistische Rechte dabei an den Tag? Ein Rückblick auf ihre Positionen und auch das Abstimmungsverhalten ihrer Abgeordneten: zur Renten„reform“; zur Lohnpolitik (Stichwort „Macron-Prämien“); zum Vermieterschutz respektive zur Aushöhlung des Schutzes von Mieter/inne/n gegen Zwangsräumungen; Revanchismus & Antisemitismus…
Hauptsache, die Etikette stimmt! Krawattenzwang für die Herren (https://www.la-croix.com/Cravates-deputes-RN-affichent-leur-serieux-Palais-Bourbon-2022-06-22-1301221351 ), Blazer für die Damen und Kritik am „verstrubbelten“ Auftreten (https://www.francetvinfo.fr/politique/port-de-la-cravate-a-l-assemblee-nationale-les-deputes-nupes-viennent-comme-ils-pourraient-aller-a-la-plage-denonce-une-deputee-rn_5271676.html ) konkurrierender Oppositionsfraktionen: Die französische extreme Rechte gibt sich heute als „seriöse“ parlamentarische Opposition. Und wettert permanent gegen die Ambitionen der Linksopposition in der Nationalversammlung, dieselbe angeblich „in eine Platzbesetzung verwandeln“ (de transformer en ZAD) und „chaotisieren“ zu wollen, gegen ihren angeblichen Respekt für parlamentarische Gepflogenheiten und die Institutionen schlechthin – Respekt, den man selbst intus trage. (Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=ldNSkekvcJg und https://www.bfmtv.com/replay-emissions/90-minutes-aurelie-casse/jordan-bardella-la-nupes-transforme-l-assemblee-nationale-en-zad-06-02_VN-202302060807.html und https://www.nicematin.com/politique/melenchon-peut-transformer-lassemblee-nationale-en-zad-selon-marine-le-pen-766261 oder aber auch: https://www.francebleu.fr/infos/politique/legislatives-en-bretagne-la-reaction-de-gilles-pennelle-du-rassemblement-national-1654857156 )
Und die Wähler/innen/schaft scheint es ihr zu danken. Erstmals verzeichnete eine Umfrage vor wenigen Tagen, die sich auf Stimmabsichten im Falle erneuter Parlamentswahlen bezog – im Zusammenhang mit der schwierigen Durchsetzung der umstrittenen Rentenreform liegt die Drohung einer Auflösung der Nationalversammlung durch Staatspräsident Macron in der Luft -, einen voraussichtlichen Stimmenanteil von 26 Prozent für das oder den Rassemblement national. (https://www.20minutes.fr/politique/4031039-20230404-reforme-retraites-grand-gagnant-rn-selon-etude und https://www.bfmtv.com/politique/apres-le-49-3-sur-les-retraites-le-rn-et-la-nupes-donnes-en-tete-en-cas-de-legislatives-anticipees_AV-202303260146.html ) Das wären über sieben Prozentpunkte mehr für die rechtsextreme Partei als im Juni 2022; damals erhielt diese noch 18,8 % der abgegebenen Stimmen.
Nun könnte man dagegen einwenden, diese Zählweise übersehe, dass auch die im Winter 2021/22 durch den Ideologen und Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour frisch gegründete rechtsextreme Partei Reconquête! (abgekürzt R!, für „Rückeroberung“, in Anlehnung an die spanische Reconquista) bei der Parlamentswahl im Juni 2022 ihrerseits 4,25 % erhielt. Berücksichtige man diesen Faktor, dann verringere sich der Zuwachs für den RN zwischen Juni 2022 und April 2023, zwischen Parlamentswahl und derzeitiger Umfrage. Doch weit gefehlt! Denn bei demselben demoskopischen Institut, welches den RN derzeit bei 26 % anzeigt, steht auch die kleinere rechtsextreme Partei R! unter Eric Zemmour derzeit bei 5 % der Stimmabsichten. Also ebenfalls mehr als bei der vorjährigen Parlamentswahl. (Vgl. https://www.ifop.com/publication/lintention-de-vote-aux-prochaines-elections-legislatives-vague-2/ und https://www.ifop.com/wp-content/uploads/2023/03/119689-Rapport-SR-x-JDD.pdf ) Dies ergibt einen Gesamtanteil für rechtsextreme Kandidaturen, sofern sich das momentane Umfrageergebnis auf eine reale Wahl übertragen lässt, von 31 % der abgegebenen Stimmen.
Beim RN, Abkürzung für le Rassemblement national oder „(Die) Nationale Sammlung“, handelt es sich um die früher unter dem Namen Front National für „Nationale Front“ bekannte und seit dem 1. Juni 2018 umbenannte politische Partei. Ihre Wurzeln liegen erkennbar im historischen Post- und Neofaschismus. (https://www.bpb.de/themen/parteien/rechtspopulismus/184221/wie-marine-le-pen-den-front-national-modernisierte/ ) Doch derzeit wird ihr um staatsmännische oder -frauliche „Glaubwürdigkeit“ bemühtes Auftreten in breiten Kreisen honoriert.
Würde die Präsidentschaftswahlen vom April 2022, also von vor genau einem Jahr, heute wiederholt, dann wäre die damalige Nummer Zwei jetzt die Gewinnerin. Die rechtsextreme letztjährige Präsidentschaftskandidatin (und derzeitige Parlamentsfraktionsvorsitzende) des RN, Marine Le Pen, die damals in der Stichwahl um die Staatspräsidentschaft mit 41,5 Prozent abschnitt, würde stattdessen heute 55 Prozent gegenüber Amtsinhaber Emmanuel Macron mit 45 Prozent erzielen. (https://www.bfmtv.com/politique/elysee/le-pen-battrait-macron-avec-55-des-voix-si-le-second-tour-de-la-presidentielle-avait-lieu-aujourd-hui_AN-202304050540.html )
Genau in dieser Konfiguration wird die nächste Wahl, turnusmäßig müsste sie 2027 stattfinden, sich allerdings nicht abspielen: In ihrer seit 2008 geltenden Version lässt die französische Verfassung der Fünften Republik nur zwei aufeinander folgende Amtszeiten eines Staatsoberhaupts zu. Staatspräsident Macron kann also beim nächsten Mal nicht kandidieren.
Dieses fiktive Resultat bei einem demoskopischen Institut ist selbstverständlich auch Ausfluss der aktuellen Unzufriedenheit und Frustrationen rund um die Rentenreform, welche Emmanuel Macron letztlich unter Ausschaltung der Beratungs- und Abstimmungsrechte des Parlaments durchsetzte – die Sonderbestimmung von Artikel 49 Absatz 3 erlaubt die Annahme eines Gesetzes ohne Zustimmung des Parlaments, wenn die Regierung die Vertrauensfrage stellt. Am kommenden Freitag, den 14. April entscheidet sich nun, ob das französische Verfassungsgericht das auch sonst im Eilverfahren und unter falscher Deklarierung als „Haushaltsgesetz“ durchgepeitschte Gesetz passieren lässt oder aber kassiert.
RN zur regressiven Rentenreform
In den letzten Wochen war der RN zwar nicht auf der Straße präsent – die Rechtsextremen sind in den Gewerkschaftsdemonstrationen explizit nicht willkommen, CGT-Chef Philippe Martinez etwa erklärte den RN (https://www.bfmtv.com/economie/economie-social/reforme-des-retraites-philippe-martinez-ne-veut-pas-des-elus-rn-dans-le-cortege-du-19-janvier_AV-202301100790.html ) für „unvereinbar mit gewerkschaftlichen Werten und Zielsetzungen“. (https://www.bfmtv.com/politique/philippe-martinez-les-elus-du-rassemblement-national-ne-sont-pas-les-bienvenus-dans-nos-manifestations_VN-202301130193.html ) Er versucht jedoch, im Parlament als die vermeintlich entschlossenste Opposition aufzutreten, jedenfalls auf verbaler Ebene. Unter anderem dadurch, dass die Partei einigen Lärm um ihren Antrag auf „eine Volksabstimmung über die Reform“ veranstaltete, wenn dieser auch abgelehnt wurde. (https://www.bfmtv.com/politique/front-national/reforme-des-retraites-l-assemblee-nationale-rejette-une-demande-de-referendum-du-rn_AD-202302060697.html )
Was ihm in den Augen von Teilen der Öffentlichkeit auch gelungen ist. Nicht oder kaum in jenem Teil der Gesellschaft, welcher aktiv gegen die Rentenreform streikt; wohl aber beim Fernsehpublikum und in wachsenden Segmenten der Wahlbevölkerung. Und bei den Menschen, die an Demonstrationen teilnehmen, wird in Paris oder in westfranzösischen Städten wie Rennes, Nantes und Toulouse kaum ein nennenswerter Teil für den RN stimmen – doch in Landstrichen wie Pas-de-Calais in Nordostfrankreich, in der Picardie oder in Lothringen, wo der RN eine echte „Volkspartei“ mit starkem Unterklassen-Votum darstellt, dürfte dies erheblich anders aussehen. Dort darf er auch im Zusammenhang mit der Rentenreform wachsende Zustimmung ernten.
Unverdient zwar, denn in der Sache hat die neofaschistische Rechte gar nicht viel zur Rentenreform zu sagen. Insbesondere nichts zu Berufsbildern mit ihrer körperlichen Erschwernissen oder ihrer Arbeitsmonotonie und zu beruflichen Krankheiten, auf die die Gewerkschaften sich berufen, um gegen eine Anhebung des Rentenalters einzutreten. Inhaltlich besteht das Einzige, was die französischen Rechtsextremen zum Thema beisteuern – vor der umstrittenen Rentenreform unter Nicolas Sarkozys von 2010 trat der damalige Front National übrigens noch selbst (https://www.20minutes.fr/elections/3271003-20220416-presidentielle-2022-quand-front-national-defendait-retraite-65-ans-retour-grand-ecart-politique ) für eine erhebliche Verlängerung der Lebensarbeitszeit ein, und konkret für eine Anhebung des Mindestalters von damals noch 60 auf 65, ließ diese Programmpunkt jedoch aufgrund des damaligen Meinungsklimas dann fallen -, derzeit in der Aussage, wer in jungen Jahren vor dem Alter von zwanzig schon arbeitete, müsse auch relativ früh in Rente gehen können. Und dies verdientermaßen nach einem von harter Arbeit, welche prinzipiell positiv bewertet wird, erfüllten Leben.
Hinzu kommt in den Augen, in der Argumentation des RN ein weiteres Element, das in seinen Augen das Patentrezept schlechthin für die Lösung des Rentenproblems bildet: Es braucht eine höhere Geburtenrate, mehr französische Kinder! „Ausländische“ Geburten, solche in Einwandererfamilien sind durchaus eher nicht mitgemeint… Vgl. dazu:
- https://snjcgt.fr/2023/03/21/sur-les-retraites-aussi-le-rn-est-dans-limposture/
- https://visa-isa.org/article/la-natalite-pour-sauver-nos-retraites-encore-un-enfumage-de-lextreme-droite
- https://www.lemonde.fr/politique/article/2023/02/03/marine-le-pen-profite-du-debat-sur-les-retraites-pour-defendre-sa-politique-nataliste_6160392_823448.html
- https://www.huffingtonpost.fr/politique/article/sur-les-retraites-le-rn-retrouve-ses-fondamentaux-identitaires_214116.html
- https://www.liberation.fr/politique/reforme-des-retraites-la-natalite-cache-sexe-de-lobsession-xenophobe-du-rn-20230215_UEJHDEMK65BONPMIVDGWD5PDKM/
- https://www.20minutes.fr/politique/4028210-20230319-reforme-retraites-faire-plus-enfants-solution-miracle-eviter-travailler-plus-vieux
- https://www.lejdd.fr/politique/reforme-des-retraites-les-contradictions-du-rn-sur-sa-politique-nataliste-132782
- (…und schon 2019 zum selben Thema: https://www.lejdd.fr/Politique/pour-sauver-le-systeme-de-retraites-le-rn-veut-booster-la-fecondite-des-francaises-3937545 )
Ansonsten jedoch bleibt die rechte Agitation im Parlament gegen die Reform eher inhaltslos. RN-Parteichef Jordan Bardella (https://www.youtube.com/watch?v=5cZlgWeoQlY ) erklärte in einem seiner TV-Interviews (https://www.youtube.com/watch?v=hkSCLtvdQDk ), zu beruflichen Anforderungen und Arbeitsbedingungen brauche seine Partei nichts zu sagen, denn jene, die unter erschwerten Konditionen arbeiteten, seien ohnehin identisch mit denen, die schon vor zwanzig malochen mussten. Eine fadenscheinige Ausflucht, welche Inhaltslosigkeit bei gleichzeitiger Verbalradikalität markiert. (https://www.bfmtv.com/politique/jordan-bardella-sur-les-retraites-si-nous-arrivons-a-la-tete-de-l-etat-nous-reviendrons-sur-la-brutalite-de-cette-reforme_VN-202303150758.html )
Neofaschistische Gewalt
Doch zur extremen Rechten zählen im Übrigen auch stiefelfaschistische Gruppen, die sich nicht unbedingt in den an Parlamentswahlen teilnehmenden Parteien dieses Spektrums – welche, wie der RN, durch ihre Wahlorientierung notwendig Rücksichten auf gesellschaftliche Akzeptanzfähigkeit nehmen – wiedererkennen. Auch wenn es bisweilen fließende Übergänge oder ein Kontinuum zwischen beiden gibt, berücksichtigt man etwa, dass führende Köpfe in der Umgebung von Marine Le Pen historisch aus der früher vor allem an der Pariser Universität Assas (vgl. unten) verankerten gewalttätigen studentischen Gruppierungen GUD oder Groupe Union-Défense kommen. (https://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2022/01/28/la-gud-connexion-toujours-presente-dans-les-coulisses-de-la-campagne-de-marine-le-pen_6111320_4355770.html und https://www.publicsenat.fr/article/politique/l-entourage-sulfureux-de-marine-le-pen-dans-la-lumiere-malgre-lui-57354 )
In der Anfangs- und Entwicklungsphase der aktuellen sozialen Protestbewegung in Frankreich hielt diese (außerparlamentarische) extreme Rechte sich zunächst weitgehend zurück. Denn einerseits möchte sie sicherlich nicht als Verteidigerin des Regierungslagers und der „Reform“ auftreten. Andererseits aber auch nicht als Weggefährtin der Linken, die in dieser Bewegung – neben oder in den Gewerkschaften – aktiv waren und sind. Doch seitdem die Studierendenschaft und die lernende Jugend sich verstärkt an Aktionen und Demonstrationen beteiligen, verstärkt insbesondere seit dem Rückgriff der Regierung auf den Artikel 49 Absatz 3 der Verfassung, und den darüber erlebten demokratischen Bruch, hat sich dies zum Teil gewandelt. Jedenfalls im Studierendenmilieu kommt es zu einer wachsenden Zahl von Angriffen.
So fügten rechtsextreme Angreifer am zur Universität Paris-1 zählenden juristischen Zentrum René-Cassin im 13. Pariser Bezirk einem Studenten einen Nasen- und Kieferbruch zu. Angehörige der traditionell rechtsextreme Aktivitäten beherbergenden Jurafakultät der Universität Paris-II in der rue d’Assas griffen, unter der Selbstzeichnung (https://academia.hypotheses.org/46761 ) „Waffen-Assas“ – lt. Bekennerkommuniqué – vorgehend, am 23. März einen Demonstrationszug von Studierenden im Zentrum von Paris in der Nähe der Hauptgebäude der Sorbonne an. Die Angegriffenen zählten zur Elitehochschule Ecole normale supérieure (ENS), welche in der Nähe liegt. Auch in den ostfranzösischen Städten Reims und Besançon kam es zu rechtsextremen Attacken auf studentische Besetzungen. (https://www.liberation.fr/politique/universite-montee-des-violences-dextreme-droite-contre-les-opposants-a-la-reforme-des-retraites-20230317_DHAJKBUL3JAGLNAR2Y2CNKKRHU/ )
88 im Parlament
Seit nunmehr zehn Monaten sitzt die neofaschistische Rechte, zum ersten Mal seit einem kurzen Intermezzo in den Jahren 1986 bis 88, in Fraktionsstärke in der französischen Nationalversammlung. (Seinerzeitigen, ab 1986, zeichnete der inzwischen pensionierte berühmte Karikaturist Plantu in der liksliberalen Pariser Abendzeitung Le Monde die damaligen 35 Abgeordneten des Front National jener Jahre immer wieder und wieder im Braunhemd und mit einer Armbinde, die die Aufschrift „FN“ trug. (https://www.lejdd.fr/Politique/guy-birenbaum-raconte-lhistoire-du-premier-groupe-fn-a-lassemblee-en-1986-ils-etaient-ostracises-4119155 ) Eine vergleichbare Stigmatisierung mittels historischer Einordnung findet derzeit nicht statt, die Medien berichten eher über die Krawatten denn über, zugegeben imaginäre weil metaphorische, Braun- und Schwarzhemden… (Was aus Plantu kein Genie macht, denn der Mann, mit bürgerlichen Namen Jean Plantureux, zeichnete mitunter gerne auch andere politische Protagonisten zwar nicht im Braunhemd, wohl aber mit vergleichbarer Armbinde und erhobenem rechtem Arm; unter ihnen den früheren serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic, aber 2011 auch den französischen Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. (https://www.leparisien.fr/politique/melenchon-furieux-contre-le-dessinateur-plantu-20-01-2011-1235728.php ) Und da wird es richtig dumm.
Unpässlicherweise verfügen die Rechtsextreme dort nun über 88 Abgeordnete – eine Zahl, die aus anderen Gründen bei anderen Rechtsextremen als Chiffre geschätzt wird -, jedenfalls derzeit. Ursprünglich waren sogar 89 gewählte Abgeordnete des Rassemblement national in die Nationalversammlung gewählt worden. Allerdings verlor einer von ihnen bei einer Wiederholungswahl im Januar dieses Jahres seinen Sitz, während in derselben Serie von drei Wiederholungswahlen in einzelnen Wahlkreisen zugleich die Linkspartei LFI („Das unbeugsame Frankreich“), für ihre Opposition gegen die Rentenreform wahlpolitisch belohnt wurde; dieses Blatt droht sich allerdings seither zu drehen. (https://www.leparisien.fr/politique/elections-legislatives-partielles-la-nupes-gagne-un-siege-le-rn-en-perd-un-statut-quo-pour-la-majorite-29-01-2023-TXCLV6TKXJGNHJOI6RA4Q7O4WQ.php )
(Anm.: Als 90., im Juni 2022 gewählten rechtsextremen Abgeordneten könnte man ferner noch Nicolas Dupont-Aignan werten, den fraktionslos in der Nationalversammlung sitzenden Bürgermeister des Städtchens Yerres im südlichen Pariser Umland. Dupont-Aignan führt den Vorsitz der nationalkonservativen Kleinpartei Debout la France oder DLF, ihr Name bedeutet ungefähr so viel wie: „Frankreich, steh‘ auf“, und buhlte in den Jahren 2021/22 um die Corona-Impfungsgegner/innen, mit einigem Aufmerksamkeitserfolg jedenfalls bei ihrem rechtsgepolten Teil. Ihn hatte Marine Le Pen im Frühjahr 2017 bei ihrem damaligen Einzug in die Stichwahl der Präsidentschaftswahl gegen Emmanuel Macron dadurch für seine Unterstützung – im zweiten Wahlgang – belohnt, dass sie ihm den Posten des Premierministers versprach, falls sie zur Staatspräsidentin gewählt werde. Doch kurze Zeit später, noch vor den Parlamentswahlen vom Juni 2017, zerbrach das Bündnis zwischen Le Pen und Dupont-Aignan. Letzterer erhielt als Präsidentschaftskandidat im Frühjahr 2017 exakt 4,7 % der abgegebenen Stimmen, im April 2022 dann gerundete 2,1 %. Die Parlamentskandidaturen seiner Kleinpartei DLF und ihre unmittelbaren Verbündeten erzielten im Juni 2022 im nationalen Durchschnitt 1,08 % der Stimmen. Auch derzeit stehen sie in wahlbezogenen Umfragen bei rund 1 %. Da DLF tendenziell zwischen Konservativen und Rechtsextremen angesiedelt ist, könnte man dieses eine Prozent noch zusätzlich zum Stimmenpotenzial rechtsaußen hinzurechnen. Dies ergäbe dann einen Gesamtwert von rund 32 %.)
Zurück zur Wahl 2022 und zum RN: Seitdem verfügt dieser über 88 Abgeordnete; jedenfalls formal bleiben diese um Anstand bemüht. Auch wenn einige eigene Mitglieder der Rechtsfraktion sich über den finsteren Einfluss von Opus Dei-Fundamentalisten, vor allem in den Reihen der parlamentarischen Mitarbeiter, beschweren (https://www.lefigaro.fr/politique/rn-a-l-assemblee-la-guerre-des-clans-est-declaree-20221017 ), und selbst wenn ein Abgeordneter im November 2022 wegen rassistischer Aussprüche für zwei Sitzungswoche ausgeschlossen wurde. (https://jungle.world/artikel/2022/45/der-junge-aus-der-banlieue )
Inhaltlich stehen sie dagegen nicht wirklich für eine Alternative, betrachtet man sich ihr Stimmverhalten genauer.
Mindestlöhne, Vergütungspolitik und „Macronprämien“
So stimmten die Rechtsextremen im Hochsommer 2022, in der ersten Sitzungsperiode nach ihrer Wahl in die Nationalversammlung, an mehreren Punkten gemeinsam sowohl mit den Liberalen im Anhang Emmanuel Macrons als auch mit den Konservativen (denen der bürgerlichen Oppositionspartei LR, Les Républicains) ab, um linke Anträge abzuschmettern und wirtschaftsliberale Optionen zu unterstützen.
Beispielsweise lehnten Liberale, Konservative und Rechtsextreme Ende Juli 2022 gemeinsam einen Antrag der Linksfraktionen auf Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC von derzeit monatlich rund 1.350 euro netto auf 1.500 euro ab. (https://www.bfmtv.com/politique/pouvoir-d-achat-lrem-lr-et-le-rn-votent-contre-l-augmentation-du-smic-proposee-par-la-nupes_AN-202207210048.html ) Stattdessen stimmten alle drei dafür, die von Steuern und Sozialabgaben befreite – und darüber nicht hauptsächlich vom Arbeitgeber, sondern durch Steuer- und Abgabenzahlende finanzierte – Lohnersatzprämie, welche im Winter 2018/19 unter der allgemein üblichen Bezeichnung „Macron-Prämie“ eingeführt worden war, zu erhöhen. Diese Sonderzahlung, die keinen Entlohnungscharakter hat und nicht an der Verteilung zwischen Löhnen und Kapitalerträgen rührt, stellte bei ihrer Einführung eine Antwort auf die „Gelbwesten“proteste dar. (Vgl. https://www.labournet.de/internationales/frankreich/soziale_konflikte-frankreich/frankreich-nach-der-praesidialen-one-man-muppet-show-im-tv-ist-vor-weiterem-protest/ sowie https://www.labournet.de/internationales/frankreich/soziale_konflikte-frankreich/frankreich-protestmobilisierung-ist-erstmals-vorerst-ruecklaeufig-die-debatte-um-politische-angebote-die-gelbwesten-bewegung-beginnt/) Ihr Höchstbeitrag von ursprünglich 2.000 euro jährlich wird durch den Parlamentsbeschluss vom Juli 2022 nun verdreifacht. Dem stimmte der RN zu. (https://www2.assemblee-nationale.fr/scrutins/detail/(legislature)/16/(num)/81 )
Das ist inhaltlich nur konsequent, denn schon seit längerem begeistert sich (auch) die extreme Rechte für diese vermeintlich klassenneutrale, den Widerspruch zwischen lohnabhängiger Arbeit und Kapital auslassende „Lösung“, und propagierte auch diese im Wahlkampf von vor einem Jahr. (Vgl. https://www.labournet.de/internationales/frankreich/politik-frankreich/frankreich-apathisches-wahlvolk-ueberschaetzter-macron-und-siegeschancen-fuer-madame-le-pen-und-was-einige-der-bestplatzierten-kandidatinnen-zur-wirtschafts-und-sozialpolitik-aeussern/ und https://www.labournet.de/wp-content/uploads/2022/04/schmid270422.pdf )
Votum für Eigentümer- und gegen Mieter/innen/schutz
Zuletzt votierte die RN-Parlamentsfraktion Anfang April dieses Jahres auch, wie ein Mann oder wie eine Frau (https://www2.assemblee-nationale.fr/scrutins/detail/(legislature)/16/(num)/1361 ) abstimmend, auch (in zweiter Lesung) für den Regierungsenturf zu einem Gesetz zum Vermieterschutz; es handelt sich um die Loi Kasbarian.
Dieses geplante Gesetz richtet sich vordergründig gegen Hausbesetzer/innen, erlaubt aber auch eine drastisch erleichterte Kündigung von säumigen Mieter/inne/n, etwa auch solchen, die schlicht in finanziellen Schwierigkeiten stecken und deswegen mit Mietzahlungen im Rückstand blieben. (https://www.liberation.fr/societe/logement/expulsions-de-locataires-la-loi-kasbarian-est-insensible-a-la-misere-sociale-20230404_47IZGMAACFFBRFN7GTYI4KZRBQ/ )
Die Vorbereitung dieses Gesetzeswerks war seit einem Jahr publizistisch begleitet worden durch eine nicht abreißende Serie von Berichten bei manchen einflussreichen Medien – wie Reportagen bei den Privatfernsehsendern, die Rund-um-die-Uhr-Nachrichten anbieten – über Situationen wie die des kleinen Hauseigentümers oder der kleinen Hausbesitzerin, der oder die als Sohn oder Tochter ein kleines Eigenheim erbte, dieses jedoch nicht beziehen konnte, weil es im Handumdrehen durch squatteurs besetzt und heruntergewohnt worden war. Oder die des älteren Menschen, welcher sein Häuschen nicht mehr verkaufen kann, um seinen Einzug ins Altersheim zu bezahlen. Das Ganze begleitet durch zahlreiche Interviews mit Anwältinnen und Anwälten der Eigentümerlobby usw… (Vgl. bspw. https://www.bfmtv.com/marseille/replay-emissions/bonsoir-marseille/squatteurs-les-proprietaires-sont-ils-impuissants-face-au-phenomene_VN-202212010687.html und https://www.bfmtv.com/immobilier/a-grenoble-un-proprietaire-ne-peut-plus-vendre-sa-maison-squattee-pour-payer-sa-maison-de-retraite_AV-202302060339.html oder https://www.bfmtv.com/var/ils-ont-change-les-serrures-a-sanary-sur-mer-le-logement-d-un-couple-squatte-depuis-un-mois_AV-202212260137.html oder/und https://www.bfmtv.com/societe/squat-le-combat-d-une-proprietaire-dont-la-maison-est-occupee-par-un-locataire-qui-ne-paye-plus_VN-202211030046.html und und und…) Was dieses wahre ideologische Trommelfeuer zu verbergen schien, ist, dass der Gesetzentwurf es konkret unter anderem erlaubt, bei Wohnungsmieter/inne/n schon ab zwei ausstehenden Monatsmieten umgehend eine Zwangsräumung zu erwirken.
Experten oder Expertinnen der Vereinten Nationen erklärten sich über dieses Gesetzesvorhaben besorgt. (https://www.lemonde.fr/societe/article/2023/04/04/proposition-de-loi-antisquat-les-experts-de-l-onu-ecrivent-a-la-france-leurs-inquietudes_6168193_3224.html ) Das Stimmbündnis von bürgerlichen Rechten, Wirtschaftsliberalen und neofaschistischen Rechten war hierbei intakt.
Abstimmung mehrheitlich mit den Eliteparteien; doch in Einzelfällen auch mit der übrigen parlamentarischen (inklusive Links-)Opposition
Zwar stimmte auch an die Linksopposition an einzelnen Punkten mit der rechten Konkurrenz ab, etwa (sowohl mit Konservativen als auch mit Rechtsextremen auf den Oppositionsbänken) gegen (https://www.huffingtonpost.fr/politique/article/pass-sanitaire-lfi-lr-et-le-rn-amputent-le-projet-de-loi-d-un-article-cle_198408.html ) bestimmte Corona-Schutzbestimmungen im Juli 2022. (https://www.liberation.fr/politique/pass-sanitaire-premier-texte-de-lere-borne-a-lassemblee-premier-gros-camouflet-pour-la-majorite-20220713_OT42N33PGFHW3GA2W65S3ZJ3RY/ ) Dies erschien inhaltlich durchaus frag- und kritikwürdig, wobei die Linksfraktion LFI wenigstens später, im Dezember 2022, einen Gesetzentwurf für die Wiedereinstellung von Corona-Impfungen verweigernden Beschäftigten im Gesundheitswesen zurückzog, (https://la1ere.francetvinfo.fr/soignants-non-vaccines-lfi-retire-sa-proposition-de-loi-reprise-par-le-rn-1347168.html ) nachdem der RN ihn buchstäblich kopiert und als eigenen Entwurf eingebracht hatte. (https://www.tf1info.fr/politique/soignants-non-vaccines-covid-19-lfi-retire-sa-proposition-de-loi-et-fustige-le-rn-2241076.html )
Auch stimmte der RN zusammen mit allen anderen Oppositionsbänken doch gegen das Votum des Regierungslagers, für eine Besteuerung von im Zusammenhang mit der Energiekrise erzielten, als illegitim bezeichneten Sonderprofiten (welche ja sogar die britischen Konservativen im vorigen Jahr mit einer Extrasteuer belegten). Ein entsprechender Antrag scheiterte zunächst im Juli 2022 knapp – befürwortet durch die Linksopposition wie auch den RN (vgl. https://www.liberation.fr/economie/social/lassemblee-nationale-soppose-a-une-taxe-sur-les-superprofits-20220723_RIW54CGG7JHWDLKPDY2HGWDWHQ/ ) -, wurde dann jedoch im Oktober 2022 durch ein Aufsummieren der Stimmen aus allen Oppositionsfraktionen angenommen. Selbst die christdemokratisch-rechtsliberale Kleinpartei MoDem (Mouvement démocrate) unter François Bayrou, die einen festen Bestandteil des Regierungslagers neben Emmanuel Macrons Hauptpartei Renaissance – früher LREM – bildet, stimmte zu und brachte den Antrag dazu sogar ein. Auch wenn die Regierung als (https://www.francetvinfo.fr/politique/taxe-des-super-profits-lassemblee-nationale-vote-pour-lamendement-contre-lavis-dugouvernement_5415772.html )
Vorstoß gegen vom RN unkontrollierte, rechte Gewaltgruppen
Ansonsten demonstrierte die RN-Parlamentsfraktion bei der Frage des Verbots von (außerparlamentarischer) rechtsextremer Kampfgruppen ihre Bereitschaft, sich dem Konsens unter den meisten übrigen Abgeordneten anzuschließen, um ein Verbot im Falle illegaler Aktivitäten zu fordern.Ja, Marine Le Pen befürwortete sogar in einem Brief an die Regierungschefin im Dezember 2022 von sich heraus eine Auflösung solcher illegal agierender Gruppierungen,„egal, auf welcher politischen Seite sie auch stehen mögen“. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/vox/politique/jean-yves-camus-le-rn-n-a-rien-a-perdre-politiquement-en-demandant-la-dissolution-des-groupuscules-d-extreme-droite-20221222 oder https://www.lemonde.fr/politique/article/2022/12/20/marine-le-pen-tente-de-se-dissocier-des-groupuscules-d-extreme-droite_6155218_823448.html )
Doch hinderte diese – in jüngster Zeit aus strategischen Gründen verstärkte – grundsätzliche Positionierung die rechtsextreme Partei nicht daran, 2019 und 2021 infolge der gerichtlichen Verurteilung von Aktivisten der außerparlamentarischen „identitären Bewegung“ sowie zwei Jahre später aus Anlass eines Organisationsverbots für die „Identitären“ sich mit ihnen zu solidarisieren; auch wenn er politisch vorsichtige Distanz zu ihnen wahrte. (Die Verurteilung 2019 erfolgte infolge einer Aktion zum Abfangen von Migrant/inn/en im französisch-italienischen Grenzgebiet, vulgo „Anmaßung von staatspolizeilichen Befugnissen“ lt. Urteil. Und die Auflösung der „identitären“ Jugendorganisation Génération identitaire zwei Jahre später, im März 21, folgte auf die illegale Besetzung eines Sozialamts in der Pariser Vorstadt Bobigny, welche sich lt. Identitären gegen die Zuwanderungspolitik richtete.) (Vgl. https://www.20minutes.fr/politique/2592883-20190830-rn-apporte-soutien-cadres-generation-identitaire-condamnes und https://www.rtl.fr/actu/politique/le-rassemblement-national-soutient-generation-identitaire-mais-de-loin-7900002619 )
Derzeit befindet sich die außerparlamentarische extreme Rechte, mitsamt Gewaltaktionen, eher im Aufschwung. (Vgl. bspw. https://www.politis.fr/articles/2023/03/depuis-janvier-lextreme-droite-decomplexee/ und https://france3-regions.francetvinfo.fr/nouvelle-aquitaine/gironde/bordeaux/violences-racistes-a-bordeaux-les-groupuscules-d-extreme-droite-entre-buzz-et-politique-pour-se-faire-une-place-2749650.html ) Unterstützt dies wird dies z.T. auch durch die im Vergleich zum RN kleinere rechtsextreme Wahlpartei, Reconquête! (R!). Letztere nimmt im letzten halben Jahr insbesondere verstärkt an Mobilisierungen, quer über das französische Staatsgebiet verstreut, gegen die Ansiedlung von Asylsuchenden(heimen) in ländlichen Kommunen teil. Seitens der RN wird dies sicherlich zwiespältig betrachtet, zwischen partieller oder völliger inhaltlicher Übereinstimmung einerseits und der Furcht vor Hindernissen bei seiner Suche nach „Respektabilität“ und Institutionalisierung andererseits. Dies stellt jedoch eine Frage taktischer Natur dar.
Vorläufiges Fazit
Insgesamt betrachtet, kommt es gleichzeitig zu einem Wettlauf zwischen Links- und Rechtsopposition um eine Profilierung als – tatsächlich oder vermeintlich, und mindestens im Auftreten – schärfste Oppositionskraft, als auch zu Bündnissen zwischen den Eliteparteien wie denen des Macron-Lagers und den neofaschistischen Rechten.
Zugang zur Geheimdienstkontrollkommission
Letztere wurden durch ihr relatives Wohlverhalten etwa bei den wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetzentwürfen im Sommer 2022 – das war, bevor der RN sich mit verbalradikaler Ablehnung gegen die Rentenreform zu profilieren trachtete – auch dadurch belohnt, dass die etablierten Parteien ihnen zur selben Zeit den Weg in die parlamentarischen Kontrollkommissionen für die Armee sowie die Nachrichtendienste freimachten. (https://www.lemonde.fr/politique/article/2022/07/29/le-rn-integre-la-commission-de-la-defense-de-l-assemblee-nationale-et-la-delegation-parlementaire-au-renseignement_6136601_823448.html?fr=operanews ) Durch ihre Präsenz in der parlamentarischen Geheimdienstkommission verfügt die extreme Rechte nun erstmals zu einem Zugang zu besonders vertraulichen Informationen.
Zugleich durfte der RN, dem seinem Anteil an den Parlamentssitzen gemäß Vorsitz- und Vizevorsitzposten in den parlamentarischen Freundschaftsgesellschaften mit diversen Ländern dieses Planenten zustehen, wobei die konkrete Besetzung der Zustimmung anderer Fraktionen bedarf, einige für die internationalen parlamentarischen Beziehungen relevante Posten besetzen. Dass Abgeordnete des RN sich nun qua Amt um Beziehungen zum Inselstaat Vanuata, zum Sultanat Oman und zu Paraguay kümmern, ist – ohne es an Respekt für jedes dieser Länder mangeln zu lassen – vielleicht von untergeordneter Bedeutung. Doch das gilt nicht für alle dieser Pöstchen und Posten.
Den Vorsitz nimmt der RN nun in den parlamentarischen Beziehungskommissionen respektive Freundschaftsgesellschaften für folgende Länder ein (in alphabetischer Reihenfolge ihrer französischen Staatsnamen): Österreich; Zentralafrikanische Republik; Dänemark; Vereinigte Arabische Emirate; Eritrea; Gambia; Ghana; Griechenland; Indien; Irak; Jordanien; Madagaskar; Oman, wie erwähnt; Paraguay (dito); Polen; Serbien; Slowakei; Schweden; Ost-Timor; Togo; Vanuatu; Venezuela. Hinzu kommen Vizepräsidentschaftsposten in zahlreichen Kommissionen, unter ihnen politisch gewichtigen oder aber heiklen wie zu Algerien, Israel und Russland. (Anm.: Der Verfasser hat für diese Auflistung die Namenslisten der je einzelnen Kommissionen durchforstet. Deren jeweilige Zusammensetzung kann, für jede einzelne von ihnen, auf der Webseite der französischen Nationalversammlung eingesehen werden. (Vgl. für ihre Gesamtzusammenfassung, von wo aus man auf die Seiten der einzelnen Kommissionen gelangen kann, unter: https://www.assemblee-nationale.fr/13/tribun/xml/gagevi_alpha.asp )
Besonders geschichtspolitisch heikel ist dabei unzweifelhaft der Vizevorsitz in der Freundschaftskommission zwischen Frankreich und Algerien. Ihn übernimmt nun ausgerechnet der als Mitglied der kolonialen Siedlerbevölkerung im damals französisch beherrschten Algerien geborene RN-Abgeordnete José Gonzalez. (https://www.lemonde.fr/idees/article/2023/01/24/la-nomination-de-jose-gonzalez-rn-a-la-vice-presidence-du-groupe-d-amitie-france-algerie-est-une-insulte-aux-victimes-de-l-oas-et-de-la-guerre-d-algerie_6159136_3232.html )
Algerienkrieg und Revanchismus; Antisemitismusfrage
Was zu heftigen Reaktionen führte. Und dies war kein Wunder. Denn am 28. Juni 2022 durfte der 79jährige als Alterspräsident die erste Sitzung der Nationalversammlung eröffnen. In seiner Antrittsrede äußerte der Mann sich, unter den Augen zahlloser Kameras und vor unzähligen Mikrophonen, dabei offen revanchistisch:
„In diesem heiligen Ort der Vertretung des französischen Volkes, des Ausdrucks des nationalen Willens, Sie nebeneinander – in alphabetischer Reihenfolge (Anm.: also, wie es bei der Eröffnungssitzun der Fall ist, nicht nach Fraktionszugehörigkeit geordnet, sondern nach Namen) – vereint zu sehen, jenseits all unserer Differenzen, ist ein Symbol französischer Einheit. Dieses Symbol der Einheit berührt das Kind eines Frankreichs von anderswo, das ich bin, seiner Geburtserde entrissen und durch den Wind der Geschichte im Jahr 1962 auf die Küsten der Provence geworfen. Ich ließ dort einen Teil meines Frankreichs und viele Freunde zurück. Ich bin ein Mann, der seine Seele auf immer verletzt gesehen hat… (Schluchz!) Entschuldigen Sie mich, ich denke an meine Freunde, die ich dort zurückließ. Ich bin ein Mann, der seine Seele auf immer verletzt gesehen hat durch ein Gefühl des Aufgegebenseins (Anm.: gemeint ist, dass die koloniale Metropole die Siedlungskolonie Algerien aufgegeben habe) und die Perioden der Zerrissenheit.“ (Vgl. https://www.dailymotion.com/video/x8c2bzg und https://www.dailymotion.com/video/x8c2tg7 )
Und hier die Antworten des Alterspräsidenten auf journalistische Nachfragen beim Verlassen der Räumlichkeiten der Nationalversammlung am selben Tag: „Ich denke nicht, dass es Verbrechen der französischen Armee in Algerien gegeben habe. (…) Vielleicht muss man jetzt die Geschichte revidieren, aber ich glaube das nicht. Ehrlich, ich bin nicht dafür da, um zu beurteilen, ob die OAS Verbrechen begangen hat. Ich weiß nicht einmal, was die OAS gewesen ist, oder fast nicht.“ (https://www.europe1.fr/politique/pas-la-pour-juger-si-loas-a-commis-des-crimes-premiere-seance-explosive-a-lassemblee-4120491 ) Die OAS oder „Organisation geheime Armee“ war eine rechte Terrororganisation, die gegen Frankreichs Rückzug aus Algerien von 1962 bombte und tötete und insgesamt 2.700 Menschen (vgl. https://histoirecoloniale.net/la-memoire-d-Alfred-Locussol.html und https://algeria-watch.org/?p=62534 ) ermordete. Auf das „fast“ in dem Satz kommt es wohl an.
Es verhält sich also strukturell ähnlich, als überließe man etwa einem deutschen Nazi den Vorsitz in einer Freundschaftskommission zwischen der Bundesrepublik und Israel. Wobei es an einem vergleichbaren inhaltlichen Punkt sozusagen noch einmal gut ging: Den Vorsitz in der Arbeitskommission zum Antisemitismus, den der RN – dessen Vorläuferpartei Front National zumindest unter dem langjährigen Vorsitz von Jean-Marie Le Pen, im Amt von 1972 bis 2011, unverhohlen politisch mit Antisemitismus und Holocaust-Relativierung (https://www.lefigaro.fr/politique/le-scan/decryptages/2015/04/02/25003-20150402ARTFIG00262-l-affaire-du-detail-un-tournant-dans-l-histoire-du-front-national.php und https://www.lemonde.fr/politique/article/2022/11/11/en-reclamant-le-groupe-d-etude-sur-l-antisemitisme-le-rn-espere-s-eloigner-de-son-histoire_6149515_823448.html ) spielte – hatte der RN ebenfalls für sich beantragt, und im November 2022 schien er ihn sogar zu erhalten. (https://www.midilibre.fr/2022/12/07/assemblee-nationale-le-rn-ne-presidera-pas-le-groupe-detudes-sur-lantisemitisme-mais-recupere-celui-sur-le-vin-10852792.php ) Ihn überließ die Nationalversammlung den Rechtsextremen jedoch wohlweislich nicht. (https://www.lejdd.fr/Politique/le-depute-sylvain-maillard-hors-de-question-que-le-rn-preside-le-groupe-detudes-sur-lantisemitisme-4146459 ) Vielleicht hat es dafür ja einen Grund gegeben…
Vorläufig erhielt der RN jedoch, statt des angestrebten Vorsitzes in der Antisemitismuskommission, jenen in der parlamentarischen Kommission zum Thema „Wein“. Hick.
Artikel von Bernard Schmid vom 10.4.2023 – wir danken!
- Siehe die Kurzfassung des Artikels auf Telepolis
- und zuletzt zur Rechten: Soziale Demagogie der französischen Rechtsextremen zum Rententhema: Vorsicht vor falschen Freunden… die sich in der Parlamentsdebatte gewiss lautstark zu Wort melden werden! Artikel von Bernard Schmid vom 18.1.2023
- Siehe zum aktuellen Hintergrund unser Dossier: Frankreichs Präsident Macron will »Rentenreform« jetzt aber doch durchboxen – Gewerkschaften geschlossen im Widerstand