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Frankreich: TV-Rede von Staatspräsident Emmanuel Macron ohne viel zu sagen – Mobilisierung weitet sich vor allem in der jüngeren Generation aus – Repression eskaliert

Frankreich: Nun heißt es, gegen die Rentenreform alles zu geben... Solidaires„… Unterdessen weiten sich die Proteste vor allem in der jüngeren Generation aus. Letztere war noch bis circa zur zweiten Märzwoche d.J. stark unterdurchschnittlich mobilisiert, zumal für viele ihre Angehörigen ihre eigene Renten in utopischer Ferne zu liegen schien – „sofern wir überhaupt eine haben werden…“. Doch die durch die Regierung gewählte Methode lässt die jüngere Generation gegen die von ihr wahrgenommene Demokratieverweigerung und das autoritäre Durchregieren aufbegehren. (…) Auch Streikfolgen machen sich zunehmend bemerkbar; frankreichweit mussten bislang (Stand Dienstag Abend) fünf Prozent der Tankstellen den Verkauf mindestens einiger Erdölprodukte einstellen. Im südostfranzösischen Département Bouches-du-Rhône (Rhonemündung), zu dem Marseille gehört, lag zuletzt jede zweite Tankstelle trocken. Am Dienstag mittag erzwangen starke Polizeieinheiten den Zugang zur bestreikten Raffinerie im Erdölhafen von Fos-sur-Mer in der Nähe von Marseille, um zumindest einige Tankwagen aufladen zu können (…) In mittleren und kleineren Städten, wie Dijon und Gueugnon in der ostfranzösisichen Region Bourgogne (Burgund), mehren sich Fabrikblockaden…“ Aus dem Artikel von Bernard Schmid vom 22.3.2023 – wir danken!

Frankreich: TV-Rede von Staatspräsident Emmanuel Macron: Reden, ohne viel zu sagen – Mobilisierung weitet sich vor allem in der jüngeren Generation aus – Repression eskaliert

Bereits die Auswahl der Uhrzeit ließ erkennen, dass es sich nicht wirklich um ein Dialogangebot an Lohnabhängige und derzeit ebenfalls vermehrt protestierende Studierende handelte. Um 13 Uhr am heutigen Mittwoch, den 22. März 23 (übrigens der Jahrestag der Gründung der „Bewegung vom 22. März“, Hauptträger der Mai 1968-Bewegung an ihrem Ausgangsort, der Universität Nanterre… allerdings ist die historische Epoche kaum vergleichbar…) hielt Emmanuel Macron seine seit Wochenbeginn angekündigte TV-Ansprache in Antwort auf die sich ausweitenden Sozialproteste.

An einem Wochentag/Werktag um 13 Uhr: Vielfach wurde dies in den bürgerlichen Medien als Hinweis darauf gewertet, Macron adressiere sich dabei kaum an abhängig Beschäftigte sowie Schüler/innen und Studierende (diese hocken nämlich zu der Zeit nicht vor dem Fernseher), sondern an die ihm 2023 noch verbliebene Kernwählerschaft. Bei der ihm bei der letzten Wahl am treuesten gebliebene Wähler/innen/gruppe handelt es sich um den wohlhabenden Teil der Rentner/innen. (Altersarmut ist derzeit, dank bislang geltender Regeln, in Frankreich nur rund 50 % so stark verbreitet wie in Deutschland. Dies dürfte sich nun künftig ändern, zumal nur mit Strafabzügen pensioniert werden kann, wer mit fehlenden Beitragsjahren vor 67 in Rente geht – und auch die Zahl der Beitragsjahre steigt, neben dem Mindestalter..)

Inhaltlich sagte Staatspräsident Emmanuel Macron gar nicht viel. Er wolle „nach vorne gehen“, erklärte er, ohne die (am Montag durch das Scheitern des parlamentarischen Misstrauensvotums ohne weitere Abstimmung angenommene) Rentenreform jedoch im geringsten in Frage zu stellen. Premierministerin Elisabeth Borne solle ihre Mehrheit „auf eine breitere Grundlage stellen“. Dies mag freilich eher einen frommen Wunsch darstellen.

Das Entscheidende hatte er am Vortag bei einer Sitzung der Regierungsfraktion erklärt: Er werde weder die „Reform“ zurückziehen, noch eine Auflösung des Parlaments bekanntgeben, noch die amtierende Premierministerin entlassen. Also Augen zu und durch. Das „durch seine gewählter Vertreter repräsentierte Volk“ sei „legitim, und nicht la foule (die Menge/Masse/Meute)“. Die Rentenreform solle bis zum Ende ihres cheminement démocratique (demokratischen Sich-Weg-Bahnens) gehen. Ein netter Witz, berücksichtigt man, wie unter Ausnutzung aller parlamentarischen Verfahrensmöglichkeiten zur Ausschaltung von Debatten- und Oppositionsrechten die „Reform“ durchgedrückt und die Diskussion darum radikal abgekürzt worden ist.

Unterdessen weiten sich die Proteste vor allem in der jüngeren Generation aus. Letztere war noch bis circa zur zweiten Märzwoche d.J. stark unterdurchschnittlich mobilisiert, zumal für viele ihre Angehörigen ihre eigene Renten in utopischer Ferne zu liegen schien – „sofern wir überhaupt eine haben werden…“. Doch die durch die Regierung gewählte Methode lässt die jüngere Generation gegen die von ihr wahrgenommene Demokratieverweigerung und das autoritäre Durchregieren aufbegehren.

Rund 10.000 Menschen, dieses Mal überwiegend jüngeren Alters, kamen am gestrigen Abend zur Sonnenuntergangszeit auf der place de la République in Paris zusammen. Angemeldet hatten sie die führenden Gewerkschaften, doch spontan – innerhalb sehr kurzer Mobilisierungszeit – mobilisiert worden waren vor allem Angehörige der linken Basisgewerkschaften SUD/Solidaires sowie protestierende Jugendliche, junge Erwachsene und Studierende. Ursprünglich aus dem linksradikalen Milieu stammende Lieder wie „Macron erklärt uns die Krieg – und seine Polizei auch – doch bleiben wir entschlossen (Anm. déter, Kurzform von déterminés, entschieden, und reimt sich auf guerre/Krieg) – das Land lahmzulegen“ wurden auf breiter Front angestimmt. Versuche, im Anspruch zur unangemeldeten Demonstration aufzubrechen, wurden auf der rue du Temple durch die Polizei mitsamt Tränengaseinsatz unterbunden; auch ein Wasserwerfer war in der Nähe aufgefahren worden. Vorläufigen Zahlen zufolge wurden mindestens 46 Menschen festgenommen.

Bereits am Dienstag Nachmittag hatten, je nach Angaben, 500 bis 2.000 Menschen aus dem Raum Paris, überwiegend Studierende, ab 14 Uhr, am Müllentsorgungszentrum in Ivry-sur-Seine demonstriert (dessen Streikposten Ende voriger Woche polizeilich attackiert wurden, um die Müllwagen ausfahren zu lassen).

Am Vorabend waren es 171 Menschen in Paris; am Montag Abend waren mobile Kleingruppen u.a. durch den Stadtteil rund um den Saint Lazare-Bahnhof, das Opernviertel, die Umgebung des Louvre-Museums sowie über die place de la Bastille gezogen, ohne Anmeldung einer Demo und mit Koordinierung über telegraph oder Signal und andere Nachrichtendienste. Dabei brannten vor allem Mülleimer und -container, vor allem zwischen der Gare Saint-Lazare und dem Opernviertel.

Auch Streikfolgen machen sich zunehmend bemerkbar: frankreichweit mussten bislang (Stand Dienstag Abend) fünf Prozent der Tankstellen den Verkauf mindestens einiger Erdölprodukte einstellen.

Im südostfranzösischen Département Bouches-du-Rhône (Rhonemündung), zu dem Marseille gehört, lag zuletzt jede zweite Tankstelle trocken. (Vgl. https://france3-regions.francetvinfo.fr/provence-alpes-cote-d-azur/bouches-du-rhone/marseille/direct-penurie-de-carburant-dans-les-stations-service-les-agents-des-depots-de-fos-requisitionnes-2736642.html externer Link)

Am Dienstag mittag erzwangen starke Polizeieinheiten den Zugang zur bestreikten Raffinerie im Erdölhafen von Fos-sur-Mer in der Nähe von Marseille, um zumindest einige Tankwagen aufladen zu können (normalerweise werden dort bis zu 800 Tankwagen täglich abgefertigt). Die CGT Bouches-du-Rhône leistete handfesten Widerstand gegen deren Einwand. Die zahlreichen mobilisierten Mitglieder und Unterstützer/innen wurden mit Tränengas eingedeckt und antworteten ihrerseits z.T. mit Steinwürfen; drei Polizisten wurden laut offiziellen Angaben verletzt, von ihnen zwei im Krankenhaus von Martigues behandelt. (Vgl. bspw. https://www.nicematin.com/greve-mouvements-sociaux/retraites-les-crs-gazent-les-militants-cgt-au-depot-petrolier-de-fos-sur-mer-des-camions-citernes-reussisent-a-entrer-836014 externer Link und https://calais.maville.com/sport/detail_-retraites-trois-crs-blesses-dans-des-affrontements-au-depot-petrolier-de-fos-sur-mer-_fil-5685684_actu.Htm externer Link)

In mittleren und kleineren Städten, wie Dijon und Gueugnon in der ostfranzösisichen Region Bourgogne (Burgund), mehren sich Fabrikblockaden. (Vgl. https://france3-regions.francetvinfo.fr/bourgogne-franche-comte/bourgogne/retraites-l-acierie-aperam-de-gueugnon-bloquee-depuis-4h-du-matin-2736834.html externer Link)

Auch die Repression eskaliert, in der Nacht vom vorigen Donnerstag zum Freitag wurden allein in Paris 292 Festgenommene verzeichnet, in jener vom Montag zu diesem Dienstag mindestens 271. Allem Anschein nach nimmt die Polizei jedoch oft einfach mit, wer zur falschen Zeit am falschen Ort war. Von den 292 Aufgegriffenen in der Nacht zum vorigen Freitag (den 17. März d.J.) kamen 283 ohne Strafverfolgung frei, doch nach 15- bis 24stündigem Gewahrsam.

Auch in den Medien bis hin zum wirtschaftsliberalen Privatfernsehsender BFM TV – dieser benutzte am Dienstag zur Frühstückszeit auch explizit und ohne die sonst übliche Distanzierung den Begriff von „Polizeigewalt“ und zeigte Bilder eines Zusammengeschlagenen am Boden – wächst die Kritik an „willkürlichen Aufgriffen“. Die linkere der drei Richtergewerkschaften, der SM (syndicat de la magistrature), und die Anwältinnengewerkschaft SAF wetterten in Kommuniqués gegen eine „Instrumentalisierung der Justiz zur Repression gegen soziale Bewegungen“. Der SAF klärte in einer internen E-Mail die eigenen Mitglieder auf, was im Falle einer unerwarteten Verhaftung zu tun sei.

Allzu schnell dürfte sich die Lage kaum beruhigen, das Abwürgen der Abstimmung zur „Reform“ sowie der knappe Ausgang der Abstimmung eröffneten eine handfeste innenpolitische Krise. 

Am morgigen Donnerstag wird der, nicht achte (wie zuletzt fälschlich an dieser Stelle geschrieben), sondern bereits neunte gewerkschaftliche Aktionstag erwachtet. Ein wesentlich massiverer Ausfall von Verkehrsmitteln als an den vorigen beiden wird erwartet. Die Dimensionen der Demonstrationen, u.a. in Paris – zwölftausend Angehörige von Polizei und Gendarmerie werden dafür mobilisiert – und in zahlreichen weiteren Städten werden über die Dynamik des derzeitigen Mobilisierungsstands Auskunft erteilen.

Artikel von Bernard Schmid vom 22.3.2023 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=210156
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