[Belegschaftsspaltung bei VW] »Kommt zusammen Leute, lernt euch kennen«. Von der Kraft des eigenen Handelns und der Kollegialität

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitMitte 2022 nimmt ein schon seit zwei Jahrzehnten währender Konflikt an Schärfe zu. Volkswagen hat in einigen Bereichen Arbeiten ausgegliedert, um die Löhne und Kosten zu senken. (…) »Altes« VW-Personal wird insbesondere in der Kantine weiter zu den Stammbelegschaftskonditionen beschäftigt. Aber das Gros der Menschen wurde neu eingestellt – zu einem Bruchteil der ehemaligen Entlohnung. (…) Lange Jahre beschäftigte dieser Zustand die Belegschaften. Die Arbeiter:innen aus den Werkverträgen dominierten über mehrere Jahre die Betriebsversammlungen. (…) Die Glut schwelte, im dichten Qualm, lange vor sich hin und hat offenbar auf größere Mengen Sauerstoff oder mehr Hitze gewartet. Viele sind in den letzten Jahren aber vor Enttäuschung auch aus der IG Metall ausgetreten. Mit der Inflation gab es dann etwas mehr Sauerstoff. Es war keine Durchzündung, aber es hat gereicht, um die Flammen lodern zu lassen. Die Kolleg:innen haben dem Management und auch der Gewerkschaft deutlich zu verstehen gegeben, dass acht Prozent tarifliche Lohnerhöhung nicht reichen…“ Artikel von Lars Hirsekorn erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – Ausgabe 2/2023:

»Kommt zusammen Leute, lernt euch kennen«. Von der Kraft des eigenen Handelns und der Kollegialität

Mitte 2022 nimmt ein schon seit zwei Jahrzehnten währender Konflikt an Schärfe zu. Volks­wagen hat in einigen Bereichen Arbeiten ausgegliedert, um die Löhne und Kosten zu senken. So wurden in vielen Werken beachtliche Teile der Logistik und der Gastronomie ausgeglie­dert. Dabei wurde nicht das bestehende Stammpersonal ausgegliedert, sondern es wurden Ar­beitsbereiche umdefiniert. Kantine und Logistikzentren wurden zu Werkvertragsprojekten umgewandelt. »Altes« VW-Personal wird insbesondere in der Kantine weiter zu den Stamm­belegschaftskonditionen beschäftigt. Aber das Gros der Menschen wurde neu eingestellt – zu einem Bruchteil der ehemaligen Entlohnung.

In Braunschweig, aber auch an vielen anderen Standorten arbeiten so seit Anfang der 2000er Jahre viele Menschen in Niedriglohnbereichen, obwohl sie in einer Gesellschaft des Volkswagenkonzerns beschäftigt sind. Lange Jahre beschäftigte dieser Zustand die Beleg­schaften. Die Arbeiter:innen aus den Werkverträgen dominierten über mehrere Jahre die Be­triebsversammlungen. Mit Liedern gegen Harz IV, vielen Reden, Plakaten und Kreativität protestierten sie dagegen, dass sie trotz Vollzeitbeschäftigung am Ende des Monats noch zum »Amt« gehen mussten. Das Management war davon so genervt, dass nach einigen Jahren die untersten Lohngruppen nicht mehr besetzt wurden. So blieb der Lohn quasi immer 50 Euro über dem Harz IV-Satz. Die Glut schwelte, im dichten Qualm, lange vor sich hin und hat of­fenbar auf größere Mengen Sauerstoff oder mehr Hitze gewartet. Viele sind in den letzten Jahren aber vor Enttäuschung auch aus der IG Metall ausgetreten.

Mit der Inflation gab es dann etwas mehr Sauerstoff. Es war keine Durchzündung, aber es hat gereicht, um die Flammen lodern zu lassen.

Die Kolleg:innen haben dem Management und auch der Gewerkschaft deutlich zu verste­hen gegeben, dass acht Prozent tarifliche Lohnerhöhung nicht reichen. Der Tonfall auf den Versammlungen wurde immer rauer. Ein Manager ließ sich dazu hinreißen, die Richtung an­zuzeigen. »Wem es hier nicht passt, da ist das Drehtor«. (Siehe express, Nr. 7-8/2022, S. 6) Gewerkschaft und Betriebsratsmehrheit beteuerten immer wieder, dass man um die acht Pro­zent kämpfen werde, aber mehr sei halt wirklich nicht drin. So gingen die Tarifverhandlungen in die nächste Runde. Bis zuletzt gab es Unterschriftenlisten für eine Angleichung an den Fer­tigungstarif der GS (Group Services). Am Morgen, an dem es hieß, man sei sich einig, war die Spannung schon unerträglich. Als zuerst die gleichen Ergebnisse wie bei Volkswagen vor­gestellt wurden (5,2 Prozent ab Juni 2023, 3,3 Prozent ab Mai 2024, 2.000 Euro »Inflations­ausgleich« im Februar 2023 und 1.000 Euro im Januar 2024) habe ich, ehrlich gesagt, schon die letzten Gewerkschaftsbücher fliegen sehen. Dann kamen die Anmerkungen, auf die wir gewartet haben. Die Logistik bekommt einen Euro mehr pro Stunde und die Gastro 1,99 Euro ab sofort (1. Dezember 2022). Das war bei Weitem nicht das, was von den Kolleginnen gefor­dert wurde, aber es war dennoch mehr als erhofft. Bei der Stimmung im Betrieb wäre sicher­lich auch mehr drin gewesen, aber in jeder Tarifkommission gibt es eine Bremse. Nichtsdesto­trotz war es für die meisten in der Belegschaft ein großer Erfolg. Mehr erkämpft zu haben, als einem zugetraut wurde, und gemeinsam, als Gruppe etwas erreicht zu haben, ist ein gutes Gefühl.

Nichtsdestotrotz ist der Stundenlohn für einen Staplerfahrer, der »nur« scannt und ein- oder auslagert, mit jetzt 14,73 Euro nicht gerade das, was guter Lohn genannt wird. So geht auch die Absetzbewegung nach der Lohnerhöhung weiter. Ununterbrochen verlassen gerade die besser qualifizierten Kolleg:innen die Projekte. Einige gehen zur Bahn, andere zu kleine­ren Firmen in der Region. Viele nicht nur wegen des Lohnes, sondern auch, weil sie sich ein besseres Arbeitsklima erhoffen.

Doch bei den Übriggebliebenen wird der Kampf weitergehen. Es kommen Neue hinzu und es ist wichtig zu vermitteln, dass diese Lohnerhöhungen gegen alle Widerstände durchgesetzt wurden. Der gewerkschaftliche Grundgedanke »Nur gemeinsam sind wir stark« ist in der Be­legschaft angekommen. Ob die IG Metall ein Teil davon bleibt, entscheidet sich an ihrem Verhalten gegenüber den Kolleginnen und Kollegen in den nächsten Jahren.

Artikel von Lars Hirsekorn erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – Ausgabe 2/2023

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