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Frankreich: Warten auf Godot. Neue Streiktermine sowie Diskussionen, Fragen und Polemiken um parlamentarische Oppositionstaktik

Frankreich: Gewerkschaftliche Aktionstage am 07. und 11. Februar 23 gegen die Renten„reform“In Erwartung des möglicherweise besonders stark ausfallenden « Aktionstags » am morgigen Samstag – Neue Termine wurden bereits auf den 16. Februar sowie den 07. & 08. März d.J. anberaumt – Streikdrohung liegt nun für ab dem 07. März auf dem Tisch. Ohne Streikdrohung bzw. -ankündigung wird er stattfinden: der nächste Aktionstag der, nach wie vor einig auftretenden, französischen Gewerkschaften an diesem Sonnabend, den 11. Februar. Dieser morgige Termin ist bewusst auf ein Wochenende angesetzt worden, um dem Faktor Rechnung zu tragen, der darin besteht, dass – insbesondere im Kontext der aktuellen Preissteigerungen, Inflationstendenzen, hohen Nahrungs- und Energiekosten – viele Lohnabhängige angeben, sich einen eintägigen Lohnausfall schlicht nicht erlauben zu können…“ Artikel von Bernard Schmid vom 10.2.2023 – wir danken!

Frankreich: Warten auf Godot

In Erwartung des möglicherweise besonders stark ausfallenden « Aktionstags » am morgigen Samstag – Neue Termine wurden bereits auf den 16. Februar sowie den 07. & 08. März d.J. anberaumt – Streikdrohung liegt nun für ab dem 07. März auf dem Tisch

Ohne Streikdrohung bzw. -ankündigung wird er stattfinden: der nächste Aktionstag der, nach wie vor einig auftretenden, französischen Gewerkschaften an diesem Sonnabend, den 11. Februar. Dieser morgige Termin ist bewusst auf ein Wochenende angesetzt worden, um dem Faktor Rechnung zu tragen, der darin besteht, dass – insbesondere im Kontext der aktuellen Preissteigerungen, Inflationstendenzen, hohen Nahrungs- und Energiekosten – viele Lohnabhängige angeben, sich einen eintägigen Lohnausfall schlicht nicht erlauben zu können.

In Frankreich existiert kein institutionalisiertes Streikgeld. Allein die rechtssozialdemokratisch geführte CFDT, einer der beiden stärksten Gewerkschaftsdachverbände in Frankreich neben der CGT (dem historisch ältesten), zahlt ihre Mitgliedern ein gewisses Ausfallgeld, doch zugleich ist es die CFDT, die infolge von Beschlüssen auf ihrem Gewerkschaftstag in Lille von 1999 explizit auf einen möglichst restriktriven Einsatz des Instruments Streik setzt.

Auch auf der Gewerkschaftslinken wird dieser Wochenendtermin, aufgrund der möglichen nochmaligen quantativen Verbreiterung der Beteiligung aus o.g. Gründen, zunächst grundlegend positiv gesehen. Nur darf es nun zu keinem Rückgang der Teilnahme gegenüber den drei bisherigen Aktionstagen, die (am 19. Januar, 31. Januar und 07. Februar dieses Jahres) stattfanden und durchaus stark ausfielen, kommen. Ansonsten droht eine negative Dynamik des Abbröckelns und Abflauens.

Ein weiterer Grund für das Ausbleiben eines Streikaufrufs (v.a. In den Transportbetrieben) an diesem Samstag liegt auch darin, dass man die Abreise in den Urlaub mit dem Beginn der vierzehntägigen Schulferien in der Zone, die den Raum Paris und Nordfrankreich umfasst, nicht gefährden mochte, um die Sympathien des Publikums nicht zu verlieren. Es sich mit der breiteren Bevölkerung nicht zu verscherzen, mag ja absolut richtig sein; das Herangehen wirft allerdings auch die Frage auf, ob es dann nicht notwendig auch den Verzicht auf einen Streik bis vierzehn Tage darauf beinhaltet, denn lässt man die Leute abreisen und nicht zurückkommen, wird’s auch wieder nicht passen.

Quantität und Qualität

Am dritten Aktionstag, also am Dienstag, den 07. Februar, war die quantitative Beteiligung erstmals gegenüber den beiden vorigen (leicht) rückläufig; wir berichteten am Mittwoch dieser Woche vom Pariser Protestzug. Frankrechweit lauten die Angaben zur Beteiligung: auf behördlicher Seite „1,16 Millionen“ am ersten Datum, „1,27 Millionen“ am zweiten und „775.000“ für das dritte; auf gewerkschaftlicher Seite: „zwei Millionen“ für den ersten Aktionstag, „2,8 Millionen“ am zweiten sowie „annähernd zwei Millionen“ am dritten). Auch auf die einzelnen Städte heruntergebrochen ergibt sich das Bild eines quantitativen Rückgangs vom zweiten auf das dritte Datum, insgesamt ungefähr auf das Niveau des ersten Aktionstags.

Im Augenblick ist dies nicht sonderlich schlimm zu bewerten, da bei der Auswertung des dritten Aktionstags vom Dienstag dieser Woche alle Beobachter/innen bereits den nächsten, vor dem oben beschriebenen Hintergrund möglicherweise stärker ausfallenden Aktionstagstermin am morgigen Samstag vor Augen hatten.

Strategisch schwieriger dürfte es allerdings werden, falls keine quantitative Ausdehnung mehr zu verzeichnen. Wenn nicht beim morgigen Termin selbst, dürfte dies allerdings danach definitiv der Fall sein, da irgendwann keine quantitative Steigerung mehr „drin“ sein dürfte. Eine lineare Steigerung auf quantitativer Ebene, ohne Qualitätssprünge in der Auseinandersetzung, dürfte jedenfalls kaum denkbar sein.

Ob bzw. wie dies erfolgt, hängt jedoch nicht allein vom Willen der Gewerkschaftsfuhrungen ab. Zumindestens Teile der CGT testen durchaus derzeit die Reaktionen ihrer Basis bezüglich des Willens zu weitergehenden Aktionen, insbesondere zu einem unbefristeten Streiks aus. Auch bedeutende Teile der Lohnabhängige an der Basis nehmen derzeit eher eine zögernde, abwartende Haltung ein, denken an eventuelle Streikkosten und wollen zwar einerseits auf jeden Fall einen Rückzug der „Reform“, glauben jedoch andererseits nicht wirklich an einen Rückzieher der Regierung. (Auch in Umfragen erklären sich über 70 % der Befragten konstant gegen die „Reform“, gut 60 % erklären ihre Unterstützung für die sozialen Proteste; doch erklären ebenfalls 70 %, befragt nach ihren Erwartungen, mit einem Nicht-Nachgeben der Regierung bis zum Schluss zu rechnen.)

Hingegen setzt die CFDT-Führung nach wie vor bewusst darauf, möglichst „nett“ zu bleiben, die Popularität der sozialen Protestbewegung in Umfragen beizubehalten – dagegen spricht sicherlich grundsätzlich nichts -, dafür jedoch auf härtere Konfrontationen etwa durch Arbeitskämpfe zu verzichten und stattdessen auf eventuelle Konzessionen der Regierung sowie die parlamentarische Beratung des „Reform“entwurfs zu setzen.

Diskussionen, Fragen und Polemiken um parlamentarische Oppositionstaktik

Letztere läuft derzeit, wobei es durchaus Streit auch in den Reihen der Opposition um die richtige Strategie und Taktik gibt. Teile des parlamentarischen Linksbündnisses NUPES setzen auf eine parlamentarische Behinderungstaktik durch eine möglichst hohe Anzahl von Änderungsanträgen; in einem Antrag fordern bspw. die französichen Grünen ( Teil der Allianz NUPES) die Verschiebung der „Reform“ vom 21. auf das 22. Jahrhundert, in mehreren anderen Anträgen die Ersetzung von Angaben in Zahlen in Buchstaben usw. Dies sorgt für ein langsames Vorankommen der parlamentarischen Debatte, die möglicherweise in dem eng abgesteckten Zeitrahmen (dadurch, dass die Regierung die Renten„reform“ als Haushaltsgesetz im Rahmen des Sozialhaushalts deklarierte, darf die parlamentarische Beratung nicht fünfzig Tage insgesamt überschreiten; und das Regierungslager lehnte bereits Debatten an Wochenenden ab…) gar nicht bis zum Artikel 7 des „Reform“-Gesetzentwurfs vordringt. Artikel 7 enthält die Anhebung des Renten-Mindestalters von derzeit 62 auf 63 ab 2026 sowie 64 ab Anfang 2030. Die rechtsextreme Opposition ihrerseits behauptet, es sei wichtig für die Opponenten , über diesen Artikel zu debattieren, und nutzt die günstige Gelegenheit, die Linksfraktionen als „nützliche Idioten der Regierung“ (so wörtlich) hinzustellen. Aber auch ein Teil der NUPES stellt sich taktische Fragen dazu.

Der rechtsextreme Rassemblement National (RN) seinerseits hat inhaltlich zur „Reform“ so gut wie gar nichts zu sagen mit Ausnahme der Ansage, er sei gegen das Anheben des Mindestalters auf 64. Statt einer Altersgrenze will er allerdings als Stellschraube vor allem die Zahl der Beitragsjahre ansetzen, mit dem Argument, dadurch kämen jene früher in Rente, die vor dem Alter von zwanzig bereits arbeiteten. Ein Teil der Lohnahängigenklasse, etwa alle mit „gebrochenen Erwerbsbiographie“, ginge bei Befolgung der RN-Vorschläge allerdings mindestens so spät in Rente wie nach den Regierungsplänen. Und zum Thema „Erschwernisfaktoren“ (facteurs de pénibilité), also Beruffsmerkmalen wie schweren körperlichen Anstrengungen, einseitige Belastung oder Inhalieren chemischer Substanzen, hat die rechtsextreme Opposition schlicht keinerlei Aussage im Gepäck und keinerlei Plan. Der junge RN-Parteivorsitzende Jordan Bardella beschränkte sich bei einem TV-Interview vor drei Tagen vollständig darauf, zu behaupten, jene, die erschwerten Arbeitsbedingungen ausgesetzt seien, seien identisch mit denen, die bereits früh im Leben arbeiten mussten, und seien also durch die übrigen Vorschläge (bezüglich früherer Rente für jene, die vor 20 arbeiteten) automatisch mit abgedeckt. Selbst das Regierungslager sieht „Erschwernisfaktoren“ im Arbeitsleben vor, die eine frühere Anspruchnahme des Ruhestands erlaubt. Allerdings schaffte die Regierung unter Emmanuel Macron just sechs von zehn „Erschwernisfaktoren“, die bereits existierten – eingeführt im Rahmen der mittlerweile vorletzten Renten„refom“, jener von Rechtspräsidet Nicolas Sarkozy im Herbst 2010 – wieder ab: Diese seien für die Arbeitgeber zu schwer zu erfassen. Lediglich Invalidätsansprüche bei bereits vorliegenden körperlichen Gebrechen und einer ärzlich attestierten Arbeitsunfähigkeit (in Höhe von mindestens 10 % voller Arbeitskapazität) traten an ihre Stelle; liegen solche vor, werden sie als Kompensation für fehlende Quartale angerechnet.

Zusätzlich unter Druck geriet die parlamentarische Linksopposition seit dem gestrigen Donnerstag dadurch, dass ihr Abgeordneter Thomas Laporte (ein früherer Eisenbahner) in einen Ball trat, den protestierende Angestellte des Arbeitsministeriums zu einer Kundgebung mitgebracht hatten und der das Konterfei des amtierenden Arbeitsminister Olivier Dussport trug. „Symbolische Gewalt“, „Lynchfantasien“ mit abgeschnittenen Köpfen…, tönte es aus mehreren Medien. Ausgerechnet die neofaschistische Politikerin Marine Le Pen beeilte sich, über Twitter, ihre Parlamentskollegen von den Linksfraktionen umgehend dazu aufzufordern, sich auf „demokratische Werte“ zu besinnen.

Dabei ist Arbeitsminister Olivier Dussopt ansonsten eigentlich derzeit ein Problembär der Regierung, veröffentlichte doch die Internetzeitung Mediapart zu Anfang dieser Woche Informationen über ein laufendes Ermittlungsverfahren gegen Dussopt, welcher verdächtigt wird, im Jahr 2009 in seiner damaligen Eigenschaft als Bürgermeister ein Wasserversorgungsunternehmen in seiner Kommune widerrechtlich begünstigt zu haben. Dies schadet ihm natürlich politisch. Zu einer Vorladung vor Gericht oder Verurteilung kam es bislang jedoch nicht, Regierungschefin Elisabeth Borne sprach ihm ihr „Vertrauen“ aus.

Nächste Termine, Protest… und Streik in Aussicht?!

Um den Weg zu den nächsten Stationen zu ebnen, legte das Treffen der Gewerkschaftsvorstände (die intersyndicale) am Dienstag Abend den Termin für einen nächsten, fünften Aktionstag fest: am kommenden Donnerstag, den 16. Februar.

Gestern wurde darüber hinaus publik nach dem morgigen Aktionstag werde ein zusätzlicher Protesttermin für den 07. und 08. März angekündigt werden. (https://www.francetvinfo.fr/economie/retraite/reforme-des-retraites/reforme-des-retraites-l-intersyndicale-va-annoncer-samedi-deux-nouvelles-dates-de-mobilisation-les-7-et-8-mars_5647541.html externer Link)

Dieses Mal wird, so wurde zusätzlich bekannt, tatsächlich ein Aufruf zum möglicherweise unbefristeten Streik ab dem 07. März in Erwägung gezogen. (Vgl. https://www.bfmtv.com/economie/economie-social/social/reforme-des-retraites-les-syndicats-vont-appeler-a-une-greve-totale-et-reconductible-a-partir-du-7-mars_AP-202302090286.html externer Link)

Zu früh käme es jedenfalls nicht. Und der nicht unerhebliche Zeitabstand zwischen dem 16. Februar und dem 07. März wirft Fragen auf. Wird er jedoch zu einer adäquaten Vorbereitung genutzt, soll es ja recht sein.

Artikel von Bernard Schmid vom 10.2.2023 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=208761
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