ver.di-Bundeskongress 2023

Dossier

ver.di-Bundeskongress 2023Vom 17. bis 22. September 2023 tagte in Berlin der 6. ordentliche ver.di-Bundeskongress externer Link. Er bestimmt die ver.di-Politik der folgenden Jahre, wählt aber auch einen neuen ver.di-Bundesvorstand, der aus der/dem Vorsitzenden, den LeiterInnen der Fachbereiche und bis zu fünf weiteren Mitgliedern besteht. Aus unserem Dossier zur „Demokratie bei ver.di-Handel“ ist den LeserInnen bereits bekannt, dass im FB D: Fachbereich Handel (ehemals 12) der Wahlkampf im vollen Gange ist. Hinzu kommt die wichtige (anti)militaristische Komponente, denn mit „Perspektiven für Frieden, Sicherheit und Abrüstung in einer Welt im Umbruch“ liegt ein Leitantrag von Bundesvorstand und Gewerkschaftsrat für den ver.di-Bundeskongress vor, mit dem ein Bekenntnis zur Kriegslogik vollzogen werden soll – hiergegen werden Unterschriften gesammelt, siehe unser Dossier: An alle Gewerkschaftsmitglieder, insb. die Delegierten des ver.di-Bundeskongresses: SAGT NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden. Siehe hier Grundinfos und die übrigen Themen des ver.di-Bundeskongresses 2023:

  • [Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di] ver.di nach dem Bundeskongress New
    Allgemein
    (1.) Der 6. Bundeskongress von ver.di fand in einer Zeit von mehrfachen gesellschaftlichen Krisen statt. Diese treffen die Beschäftigten, die sich in ver.di organisieren, wie auch die gesamte arbeitende Klasse. In den Diskussionen wurden eine Reihe von grundlegenden Fragen aufgeworfen. Die Auseinandersetzung um die Haltung zum Ukraine-Krieg (Waffenlieferungen, Sanktionen, Aufrüstung und Militarisierung), Tarifpolitik, Sozialpartnerschaft, das Verhältnis zur Regierung u.v.m. muss nun dringend fortgesetzt werden.
    (2.) Die Kosten für die Corona-Pandemie, den Krieg, die bereits einsetzende Wirtschaftskrise, die hohe Inflation, die Folgen von Klimazerstörung usw. werden auf die Beschäftigten abgewälzt. Dem gegenüber stehen Rekordgewinne der Konzerne. Um diese zu sichern, werden die Angriffe auf die Löhne, die Arbeitszeit und allgemein die Arbeits- und Lebensbedingung der Arbeitenden verschärft – ob direkt durch die Unternehmen oder indirekt durch zum Beispiel Preissteigerungen. Der Kampf um Deutschlands Einfluss in der Welt, der für die Kapitalseite eine militärische Aufrüstung notwendig macht, ist untrennbar mit einem verschärften Klassenkampf im Inneren verbunden.
    (3.) Daraus wächst die Notwendigkeit, dass die Gewerkschaft ihrer Aufgabe nachkommt, unmittelbar gegen Reallohnverluste, mögliche Angriffe auf das Streikrecht, die Rente und gegen den Kürzungshaushalt der Bundesregierung zu kämpfen und sich auf weitere Angriffe vorzubereiten. Eine teilweise wachsende kämpferische Stimmung an der Basis hat sich auch in einigen Reden des alten und neuen Bundesvorstands niedergeschlagen.
    (4.) Auf der anderen Seite wurde mit den Leitanträgen des Gewerkschaftsrats eine sozialpartnerschaftliche Ausrichtung fortgeschrieben und vertieft. Den radikalen Reden auf dem Kongress steht die tägliche Praxis der Sozialpartnerschaft mit Unternehmen, ihren Verbänden und der Regierung gegenüber. (…)
    (7.) Dennoch war dieser Bundeskongress anders als die vorherigen. In seinem Verlauf wurde den Delegierten klar, dass es viele grundlegende Punkte gibt, die wir als Gewerkschaft zu klären haben. Es hat sich jedoch vor Ort bereits gezeigt, dass sowohl die Notwendigkeit, als auch der Wille für eine Vernetzung klassenkämpferischer Kolleg*innen vorhanden ist. (…)
    Tarifpolitik
    (9.) Der Kampf um Lohn, Arbeitszeit und gute Arbeitsbedingungen ist unser Kerngeschäft. Angesichts der fortschreitenden Verarmung breiter Schichten der Klasse, von denen die ärmsten am härtesten getroffen werden, bekommt der Kampf um den Erhalt und die Steigerung des Reallohns eine andere Schärfe. Eine hohe Inflation ist nichts als eine Lohnkürzung, wenn dem nicht entsprechende Lohnerhöhungen entgegenstehen. Die Voraussetzungen für die (Rück)Gewinnung tausender Kolleg*innen in die Gewerkschaft verbessern sich, wie über 140.000 Neueintritte in diesem Jahr gezeigt haben. (…)
    (12.) Die Schlichtungsvereinbarung im TVÖD muss schnellstmöglich gekündigt werden. Darüber hinaus sollten die Mitglieder in Tarifkämpfen demokratisch über den Verlauf bestimmen können. Das sollte über regelmäßige Streikversammlungen, die Wahl von Streikleitungen vor Ort und Streikdelegierten auf örtlicher, überregionaler und bundesweiter Ebene zu Streikdelegiertenkonferenzen sichergestellt werden. Diesen Konferenzen sollte die Entscheidungsbefugnis über alle nächsten Schritte im Arbeitskampf gewährt werden.
    (13.) Wir stellen ebenfalls fest, dass, trotz einer Zustimmung von etwa zwei Dritteln, die Ablehnung der Tarifabschlüsse bei der Post und im öffentlichen Dienst in Mitgliederbefragung und Urabstimmung historisch hoch waren. Darin drückt sich die Unzufriedenheit darüber aus, wie die Abschlüsse herbeigeführt wurden. Auch eine Zustimmung bedeutet noch nicht unmittelbar Zufriedenheit mit dem Verlauf und Ergebnis der Tarifrunde, sondern ist auch Ausdruck einer mangelnden Alternative, die nur in einer umfassenden Kampagne für einen Erzwingungsstreik gelegen hätte. (…)
    (15.) Positiv ist der Beschluss über die Einführung einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich. Es muss damit die intensive Debatte in der gesamten Struktur beginnen, wie man diese real erkämpfen kann. Die bisherigen Wahlmodelle, bei denen Freizeit gegen Lohn ausgespielt wird, sollten dabei abgelehnt werden. (…)
    Programm gegen die Krise nötig
    (26.) Entgegen Äußerungen von Frank Werneke ist wichtig zu sagen, dass eine nächste möglicherweise tiefe Wirtschaftskrise in den nächsten Jahren wahrscheinlich ist. Wie vorhergehende Krisen gezeigt haben, kann innerhalb weniger Wochen die gesamte Wirtschaft auf den Kopf gestellt werden. Dabei muss das Geschrei der Unternehmen von der Krise richtig eingeordnet werden, denn diese wollen nichts weiter als Lohndrückerei und staatliche Unterstützung durchsetzen. Der Drohung von Entlassungen und Produktionsverlagerung muss die Gewerkschaftsbewegung ein eigenes Programm entgegensetzen…“ Umfangreiche Bewertung vom 19. Oktober 2023 externer Link von Christina Zacharias, Karima Bennimar und René Arnsburg beim Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di
  • Das Selbstbild der Gewerkschaft als progressive Kraft. Der ver.di-Bundeskongress debattiert nicht nur über Waffen für die Ukraine 
    „… Jenseits der Diskussion um die Friedensfrage gab es kaum Kritik an der grundsätzlichen Ausrichtung von ver.di oder Beiträgen zur im Detail sehr unterschiedlich verlaufenden Organisationsentwicklung in den einzelnen Branchen (…) auf den Zahn fühlt, fehlten ebenfalls. (…) Selbst da, wo Tarifpolitik konfrontativ angelegt ist: Die Systemfrage wird auch von ver.di nicht gestellt. In der Debatte über einen, am Ende abgelehnten, kritischen Antrag zur »Sozialpartnerschaft« merkte Christine Behle an, dass ver.di bei allen prinzipiellen Interessenunterschieden in der politischen Lobbyarbeit vielfach auf Bündnispartner auch bei Arbeitgeberverbänden angewiesen sei. (…) Von einem anderen Kaliber war die Intervention von Frank Werneke gegen die exklusive Strompreissubventionierung für Teile der deutschen Großindustrie (…) Hier geht es nicht nur um programmatische Differenzen zwischen ver.di, IGM und IG BCE. Die Interessen zwischen den Gewerkschaften, die die energieintensiven Exportindustrien organisieren, und der Dienstleistungsgewerkschaft, deren Mitglieder die Subventionen über ihre Lohnsteuer und Stromrechnung bezahlen werden, sind doch sehr unterschiedlich…“ Umfangreiche Kongressbewertung des AK Kongressbeobachtung  in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 10/2023 (die Auswahl der Zitate erfolgte als Ergänzung zu den bisherigen Informationen hier im Dossier)
  • ver.di Gewerkschaftstag: Nein zur Politik der Regierung Scholz – „Der Regierungskurs führt nicht in unsere Richtung“ 
    Der 6. ver.di Bundeskongress hat eine Woche getagt, mehr als Tausende Delegierten diskutierten und legten die gemeinsame Position von ver.di fest. Zur Überraschung des Bundesvorstandes standen nicht die Fragen der Digitalisierung, des Klimawandels und der Demographie im Zentrum, sondern die Frage der Position von ver.di zum Ukraine Krieg. Sowohl bei der Aussprache über den Geschäftsbericht am Montagvormittag wie zum Grundsatzreferat des Vorsitzenden am Dienstag, und in der Diskussion um den Antrag E 084 am Donnerstagnachmittag und Abend, wurde über die Frage der Position, ob ver.di die Kriegspolitik der Regierung Scholz unterstützt, kontrovers und ausführlich diskutiert. Über 80 % der Bevölkerung lehnen die Politik der Bundesregierung ab, finden aber für diese Ablehnung keine politische Vertretung. Umso mehr erwarten viele ein entsprechendes Signal aus der Gewerkschaft. Und das Nein zur Regierung und ihrer Politik des sozialen und militärischen Krieges spiegelte sich in zahlreichen Redebeiträgen. (…) Dabei wurde, die Solidarität mit den „Menschen der Ukraine“ nicht in Frage gestellt. Ein Delegierter stellte aber klar: „Mit ihnen bin ich solidarisch, aber nicht mit der Selenskyj-Regierung, die die Rechte von Gewerkschaften und Parteien beschneidet und öffentliches Eigentum im Wert von 400 Milliarden Euro an internationale Investoren verscherbeln will.“ (…)
    Schon in seinem Rechenschaftsbericht, Olaf Scholz hatte die Konferenz verlassen, führte Frank Wernecke Punkt für Punkt aus, dass die Regierungspolitik gegen die Interessen der arbeitenden Bevölkerung im Land steht. Tarifpolitik, Inflation, Postgesetz, öffentliche Daseinsvorsorge…, an keiner Stelle hat die Gewerkschaft die Regierung an ihrer Seite. Zum Bundeshaushalt erklärte Frank Wernecke: „Hier steht die gesamte Bundesregierung und die sie tragenden Parteien insgesamt in der Verantwortung. Hier läuft … etwas grundsätzlich falsch.“ Und er nennt als Beispiel das Inflationsausgleichsgesetz des Bundesfinanzministers Lindner (FDP), welches hauptsächlich „für die oberen Einkommen“ dient und „unserem Gemeinwesen Einnahmenausfälle von insgesamt 33 Milliarden Euro“ beschert. „Das ist das Gegenteil von sozialer Politik.“
    „Der Regierungskurs führt nicht in unsere Richtung“
    In der anschließenden Aussprache zu Geschäftsbericht nahmen 47 Delegierten jede Facette der Regierungspolitik auseinander. Auch der Versuch der Bundesregierung, über die konzertierte Aktion mit ihrem Vorschlag „3000 € Einmalzahlung statt Tarifverhandlungen“ in die Tarifautonomie einzugreifen und ihnen einen Reallohnverlust aufzuzwingen, wurde mehrfach kritisiert. Eine Kollegin betonte in dieser Debatte, dass es der Platz der Gewerkschaften ist, „gegen die herrschenden Verhältnisse die Rechte von Arbeiter*innen zu erkämpfen, zu verteidigen und zu stärken. Die Erfahrung zeigt: Es braucht uns, weil die regierenden Parteien eben nicht in unserem Sinne handeln. Wir als Gewerkschaft müssen nicht auf Regierungskurs gebracht werden, denn der Regierungskurs führt nicht in unsere Richtung, sondern er führt in die Richtung des Kapitals, und das ist für uns nicht akzeptabel!“ Ein Kollege aus dem Handel ergänzte: „Ich glaube, es steht uns nicht gut zu Gesicht, sich mit der Politik zu vereinen. Das ist nicht unser Freund. Auch wenn wir mit ihr verhandeln müssen, müssen wir klare Kante zeigen. Es kann nicht sein, dass hier erst kritische Worte laut werden, wenn der Bundeskanzler den Saal verlassen hat. Das ist unser nicht würdig.“
    Auf die harte Kritik an der Regierungspolitik in zahlreichen Beiträgen der Kolleg*innen und der mehrfach geäußerten Kritik, ver.di würde sich nicht klar genug von der Regierung abgrenzen, antwortete u.a. die stellvertretende ver.di-Vorsitzende Christine Behle. Zum Inflationsausgleich führte sie aus: „Als der aufgebracht worden ist – und es ist nicht unsere Erfindung, also keine Gewerkschaftserfindung -, haben wir uns von Minute eins dagegengestellt.“ Und Frank Wernecke weist scharf zurück, dassjemand versucht habe, „Einfluss darauf zu nehmen, wie wir Tarifpolitik betreiben – und erst recht nicht im Öffentlichen Dienst.“
    Umso erstaunlicher, dass die Einmalzahlung in vielen Tarifverträgen mitberücksichtigt und eingerechnet wird. Das Lob des Kanzlers für den Abschluss der IGBCE, der die Vorgabe direkt umsetzte, spricht Bände. Eine Kollegin warnte davor, dass das Kapitel noch nicht am Ende ist. Nach Corona-Prämie und Inflationsprämie, drohe für die nächste Tarifverhandlung sicher eine Klimaprämie. Die Arbeitgeber haben Gefallen daran gefunden, dass der Staat die Lohnkosten übernimmt…“ Bericht von Gotthard Krupp (Delegierter auf dem Bundeskongress) vom 28.9.2023externer Link bei Politische Arbeitskreise für unabhängige Arbeitnehmerpolitik – Berlin – als Vorabdruck aus Soziale Politik & Demokratie Nr. 494 – siehe daraus die umfangreiche Nachbearbeitung zur Kriegsfrage (samt einem netz-exklusiven Protokoll) in unserem Dossier: An alle Gewerkschaftsmitglieder, insb. die Delegierten des ver.di-Bundeskongresses: SAGT NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden
  • ver.di-Bundeskongress beendet / Werneke: Gewerkschaft für die Zukunft gut gerüstet – ver.di wird gebraucht für gute Löhne, für einen starken Sozialstaat und als Einwanderungsgewerkschaft
    Am heutigen Abend (22. September 2023) ging der 6. Ordentliche Bundeskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Berlin zu Ende. Sechs Tage lang haben die rund 1000 Delegierten seit vergangenem Sonntag über mehr als 900 Anträge beraten, darunter zur Arbeits,- Renten- und Bildungspolitik, zu Digitalisierung, zur Friedenspolitik oder zum sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft. (…) Künftig will ver.di die Einwanderungsgesellschaft noch stärker in den eigenen Reihen abbilden als bisher. Dazu sollen Nachwuchs- und Führungskräfteschulungen für künftige Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter stärker interkulturell ausgerichtet sein. Außerdem setzt sich ver.di für eine bessere Willkommenskultur in staatlichen Institutionen ein. (…) Mehr Personal aber auch mehr Geld seien nötig, um die öffentliche Infrastruktur sowie die Daseinsvorsorge zu sichern. (…) Das Ziel der Ampelregierung, das gesetzliche Rentenniveau bei 48 Prozent zu stabilisieren, reicht nicht. „Wenn Menschen wie im Handel von ihrer Hände Arbeit nicht leben können, weil die Löhne so gering sind, dann reicht auch die gesetzliche Rente nicht für ein Leben in Würde im Alter“, sagte Werneke. ver.di fordert daher insbesondere eine deutliche Verbesserung der Grundrente. Statt der von der Bundesregierung geplanten Aktienrente fordert ver.di konkrete Schritte zur Einführung einer Erwerbstätigenversicherung…“ Pressemitteilung vom 22.09.2023 externer Link
  • Die Antragsdebatte geht weiter: 14 Euro Mindestlohn und kein Nein zu Schlichtungsvereinbarungen, aber JA zu „FCK AFD“ und Solidarität mit der Seenotrettung und den Frauen im Iran …
    • Friedlich vereint
      Bericht vom 22.09.2023 auf der Kongress-Seite externer Link

    • Anträge, Anträge, Anträge – der Abstimmungsmarathon
      Rückblick vom 21.9. bei wir-sind-verdi.de externer Link 
    • Vom Wert, von der Würde und vom Wandel der Arbeit – ver.di Bundeskongress Tag 4
      Bericht vom 21.9. bei wir-sind-verdi.de externer Link
    • Siehe auch thematische Berichte auf der Kongress-Seite externer Link
    • »Wir werden das Thema Arbeitszeit angehen«
      Verdi-Vize Christine Behle über nötige Entlastung im öffentlichen Dienst, 14 Euro Mindestlohn und was sie an Olaf Scholz geärgert hat. Interview von Ines Wallrodt vom 21.09.2023 in ND online externer Link
    • Ver.di: Mehr Konflikt wagen. Verdi-Mitglieder wenden sich gegen Schlichtungsvereinbarungen in Tarifverhandlungen
      Anja Voigt ist sauer und hat für die Entscheidung der Antragskommission kein Verständnis. Die Intensivpflegerin am Vivantes Klinikum in Neukölln hatte gemeinsam mit anderen Kolleg*innen beim Verdi-Bundeskongress eine Diskussion über Schlichtungsvereinbarungen gefordert. Aus Sicht der kämpferischen Gewerkschafterin, die seit Jahren in der Krankenhausbewegung aktiv ist, bremsen solche Vereinbarungen starke Tarifbewegungen aus. Voigts Antrag wurde aber am Mittwoch aus formalen Gründen abgelehnt. Dafür sei die Bundestarifkommission zuständig, hieß es in der Begründung. (…) »Sobald eine der Parteien eine Schlichtung fordert, ist die andere verpflichtet, darauf einzugehen«, erklärte Voigt im Gespräch mit »nd«. »Und während die Schlichtungsverhandlungen laufen, herrscht Friedenspflicht. Streiks sind also verboten«, erläuterte sie. Zudem agiere die Schlichtungskommission unter Geheimhaltung. Auf die Ergebnisse der Vereinbarung hätten die Beschäftigten dann oftmals keinen Einfluss. »Das ist undemokratisch und so werden Arbeitskämpfe abgewürgt«, kritisierte die Intensivpflegerin. Vor allem Gewerkschaftsbezirke und Branchen, die gut organisiert sind, viele Mitglieder haben und streikbereit sind, positionieren sich gegen die Schlichtungen. Doch sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene gibt es Gremien, die an der Schlichtungsvereinbarung festhalten wollen. »Weil sie sich zu wenig zutrauen und vielleicht, um die sozialpartnerschaftliche Beziehung zu erhalten«, vermutet Anja Voigt. (…) Vor allem in Betrieben und Branchen mit einem geringen Organisierungsgrad können Schlichtungsvereinbarungen helfen, mehr gewerkschaftlichen Einfluss auf die Tarifverhandlungen auszuüben, als die eigene Stärke vor Ort hergibt. Denn auch die Unternehmensvertreter*innen sind dazu verpflichtet, sich auf die Schlichtung einzulassen. Die Vereinbarungen tragen dann mit dazu bei, die Tarifverhandlungen in für die Gewerkschaft vorhersehbare Bahnen zu lenken. Das ist wohl auch der Grund, warum die Gewerkschaft die aktuelle Schlichtungsvereinbarung vorerst beibehalten will. Auf nd-Anfrage teilte der Bereichsleiter Tarifpolitik im öffentlichen Dienst, Oliver Bandosz, mit, »dass an der Schlichtungsvereinbarung festgehalten wird, was auch der Beschlusslage der Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst entspricht«. Fragen nach strategischen Gründen, weshalb die Gewerkschaft an der Vereinbarung festhält, blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Anja Voigt hält das für den falschen Weg. (…) Doch aufgrund der Empfehlung der Antragskommission wurde nicht einmal eine Diskussion über die Schlichtungsvereinbarung zugelassen. »Das ist völlig irre«, findet Anja Voigt. Es stehe im Widerspruch zu allem, was auf dem Kongress gesagt wurde. »Es gab Reden zu Empowerment, dazu, dass Mitglieder an der Basis gestärkt werden und es mehr demokratische Mitbestimmung geben soll. Dann hältst du an einem Konzept fest, das genau das verhindert und lässt nicht mal eine Debatte darüber zu«, kritisierte sie…“ Artikel von Felix Sassmannshausen vom 20.09.2023 in ND online externer Link
    • Interview mit René Arnsburg: „Das ist kein Kongress nach Schema F“
      [Heute ist Tag Vier des ver.di Bundeskongresses. Merkt man dem Kongress an, dass ver.di in diesem Jahr mehr gestreikt hat als zuvor und es 130.000 neue Mitglieder gibt?]
      Es sind mittlerweile sogar 140.000 Neumitglieder. Das drückt sich auf dem Kongress dadurch aus, dass es – vor allem aus dem Fachbereich C, also unter anderem Gesundheitswesen, Sozial- und Erziehungsdienst und Wissenschaft – sehr viele positive Bezüge darauf gibt und eine kämpferische Stimmung spürbar ist. Diese 140.000 Neumitglieder spiegeln sich natürlich noch nicht in der Delegiertenzusammensetzung wieder, weil die Delegiertenwahlen vor den Streiks und Neueintritten stattgefunden haben. Aber es sind Delegierte da, die an den Streiks teilgenommen haben und ihre Erfahrungen einbringen. Das hat sich zum Beispiel in der Debatte um das Schlichtungsabkommen gezeigt, wo vor allem Krankenhaus-Kolleg*innen aus Berlin stark dafür argumentiert haben, diese Schlichtungsvereinbarung zu kündigen. (…) Es haben bisher drei Kampfabstimmunegn stattgefunden. Das erste Thema war die Frage der gleitenden Lohnskala, die von Kolleginnen und Kollegen als Mindestabsicherung angesichts der hohen Inflation gefordert wurde. Das Gegenargument war, eine solche würde das Betätigungsfeld von Gewerkschaften im Rahmen von Tarifrunden einschränken. Daraus leitete sich dann die formale Begründung ab, diesen Antrag nicht zu befassen. Denn die Antragskommission stellt sich auf den Standpunkt, dass der Kongress – der ja das höchste beschlussfassende Gremium der Gewerkschaft ist – nicht über tarifpolitische Fragen entscheiden darf, da diese in der Zuständigkeit der Tarifkommissionen liege. 46 Prozent haben dann gegen die Empfehlung zur Nichtbefassung gestimmt. Das zweite war dann ein Antrag aus Berlin für eine sofortige Kündigung des Schlichtungsabkommens im öffentlichen Dienst. Es gab auch noch einen Antrag von Krankenhaus-Kolleg*innen für die Eröffnung eines Diskussionsprozesses auf allen Ebenen dazu. Hier haben dann vierzig Prozent gegen die Nichtbefassung gestimmt. In einer dritten kampfabstimmung ging es dann darum die Schlechterstellung von vor allem weiblichen Kolleginnen im Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes aufzuheben. Auch hier war für Nichtbefassung plädiert worden seitens der Antragsberatungskommission, aber zwei Drittel haben das dann abgelehnt. Das kann Auswirkungen auf weitere Anträge zu tarifpolitischen Fragen haben…“ Interview von Sascha Staničić vom 20. September 2023 in solidaritaet.info von SOL externer Link
  • ver.di wählt neuen Bundesvorstand und neuen Gewerkschaftsrat – auch Silke Zimmer (Fachbereich Handel mit 91,0 Prozent) – und kritische Stimmen in der Aussprache
    • ver.di wählt neuen Bundesvorstand und neuen Gewerkschaftsrat – auch Silke Zimmer (Fachbereich Handel mit 91,0 Prozent)
      Auf dem 6. Ordentlichen Bundeskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) in Berlin haben die rund 1000 Delegierten einen neuen Bundesvorstand gewählt. Als ver.di-Vorsitzender wurde der 56-jährige Frank Werneke mit 92,5 Prozent im Amt bestätigt. Ebenfalls erneut in den Vorstand der Gewerkschaft gewählt und als stellvertretende ver.di-Vorsitzende bestätigt wurden Andrea Kocsis mit 91,3 Prozent und Christine Behle mit 93,5 Prozent. Wiedergewählt wurden auch Sylvia Bühler, Christoph Meister, Detlef Raabe und Christoph Schmitz. Neu im ver.di Bundesvorstand sind Rebecca Liebig und Silke Zimmer die auf Dagmar König und Stefanie Nutzenberger folgen. Die Wahlergebnisse im Einzelnen:
      Frank Werneke, Vorsitzender: 92,5 Prozent
      Andrea Kocsis, stellvertretende Vorsitzende (Fachbereich Postdienste, Speditionen und Logistik): 91,3 Prozent
      Christine Behle, stellvertretende Vorsitzende (Fachbereich Öffentliche und private Dienstleistungen, Sozialversicherung und Verkehr): 93,5 Prozent
      Sylvia Bühler (Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft): 86,9 Prozent
      Rebecca Liebig (Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik): 94,7 Prozent
      Christoph Meister (Finanzen): 76,0 Prozent
      Detlef Raabe (Personal):  93,2 Prozent
      Christoph Schmitz (Fachbereich Finanzdienste, Kommunikation und Technologie, Kultur, Ver- und Entsorgung): 92,2 Prozent
      Silke Zimmer (Fachbereich Handel): 91,0 Prozent…“ Pressemitteilung vom 18.09.2023 externer Link – Orhan Akman bekam 201 Stimmen bei der Vorstandswahl
    • Verdi mit Minimalprogramm. Bundeskongress: Wiedergewählter Gewerkschaftschef skizziert Schwerpunkte der kommenden Jahre. Achtungserfolg für Bundesvorstandskandidat Akman
      Artikel von Susanne Knütter in der jungen Welt vom 20.09.2023 externer Link
    • 6. ver.di-Bundeskongress – Grundsatzrede des ver.di-Vorsitzenden Frank Werneke
      Pressemitteilung vom 19.09.2023 externer Link mit Wortlaut
    • Mehr Gewerkschaft von unten. Verdi-Aktive wollen die Rolle von Vertrauensleuten stärken
      „…  Es gibt einen Antrag über die Rolle von Vertrauensleuten im Betrieb, die ihm [Jan Friedrichs vom ver.di-Landesbezirk Niedersachsen-Bremen] wichtig ist, wie er im Gespräch mit »nd« sagt. Seine Gewerkschaft sollte den aktiven Kolleg*innen vor Ort im Betrieb einen viel höheren Stellenwert einräumen. Vertrauensleute sind neben den Betriebsräten ehrenamtliche Gewerkschafter*innen in den Betrieben, die regelmäßig gewählt werden. Sie sollen Netzwerke bilden, mögliche Konfliktfelder identifizieren und damit zur gewerkschaftlichen Willensbildung an der Basis beitragen. Friedrichs arbeitet seit sechs Jahren bei der Post, ist dort Vertrauensleutesprecher und im Betriebsrat aktiv, wo es noch relativ gute Strukturen gibt, wie er sagt. Er findet aber, dass die Vertrauensleute von Verdi oft zu wenig eingebunden werden und dann lediglich als Sprachrohr für die Dienstleistungsgewerkschaft dienen. Das ist dem Selbstverständnis von Verdi nach anders vorgesehen (…) Doch die Realität sieht oft anders aus, kritisiert auch Thomas Frischkorn. Der Vorsitzende des Bezirks Südhessen hat für den Kongress gemeinsam mit anderen Kolleginnen und Kollegen den vorliegenden Antrag zu dem Thema erarbeitet. »Die Arbeit der Vertrauensleute bei Verdi ist uneinheitlich und hängt von der jeweiligen Gewerkschaft und Branche ab«, erklärt Frischkorn dem »nd«. Während sie etwa bei der Post, Telekom und im öffentlichen Dienst oft noch arbeitsfähig sind, sei dies im Handel oder der IT-Branche aufgrund der Betriebsgrößen schwieriger. »Und dass Vertrauensleute in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, passiert allenfalls, wenn Tarifforderungen erarbeitet werden«, bemängelt Frischkorn. Der Gewerkschaftslinke will, dass die Arbeit an der Basis in den Betrieben gestärkt wird. Dafür sind Vertrauensleute aus Sicht von Frischkorn zentrale Stützen. Doch der Gewerkschaftsapparat misstraue ihnen oft. Ihre Verankerung im Betrieb kann sich im Konfliktfall zu einer unabhängigen Gegenmacht entwickeln. »Von ihnen könnten wilde Streiks ausgehen«, meint Frischkorn. »Darum behandelt Verdi seine Vertrauensleute heute stiefmütterlich«, kritisiert er. Im Antrag wird darum gefordert, Konzepte zu entwickeln, die die Arbeit der Vertrauensleute stärken. Einerseits müsse Verdi nach dem Willen der Antragsteller*innen mit sogenannten Betriebsatlanten transparent machen, wie viele Vertrauensleute es in den Betrieben gibt, um so gezielter Netzwerke aufbauen zu können. Um die Position der Vertrauensleute strukturell zu stärken, wird mit dem Antrag andererseits mehr Geld und gewerkschaftliche Ressourcen für die Vertrauensleute-Wahlen gefordert. »Wie wir das auch für die Betriebs- und Personalratswahlen für notwendig halten«, heißt es darin…“ Artikel von  Felix Sassmannshausen vom 19.09.2023 in ND online externer Link

      • Es ist der Antrag H 001 externer Link „Vertrauensleute stärken – Mehr Demokratie wagen“ der Bezirksfachbereichskonferenz C Südhessen (empfohlene Annahme als Arbeitsmaterial zur Weiterleitung an den Bundesvorstand)
      • Stärkung der Vertrauensleutearbeit ist unser ewiges Anliegen, allerdings als geerkschaftlich-politische Kontrolle des Betriebsrats – die hier erwähnte Doppelfunktion als Vertrauensleutesprecher und Betriebsrat entspricht eben nicht diesem Anliegen…
    • Des Kanzlers Gewerkschaft. Berlin: Kritische Stimmen in der Aussprache beim Verdi-Bundeskongress
      „… In der Aussprache zu den Geschäftsberichten am Montag wurde deutlich, dass immerhin einige Delegierte keinen Wert auf demonstrative Regierungsnähe legen. Gotthard Krupp-Boulboullé wies auf Widersprüche im Auftreten der Regierung hin, die die Verdi-Spitze nicht thematisiert. Es sei nicht möglich, »für Waffenlieferungen, für Sanktionen, für eine Aufrüstung zu sein«, und dann trotzdem keinen Sozialabbau zu wollen: »Krieg ist unvereinbar mit Sozialstaat.«
      René Arnsburg begrüßte, dass Werneke sich in seiner Rede gegen das Zwei-Prozent-Rüstungsziel und das 100-Milliarden-Euro-»Sondervermögen« für die Bundeswehr aussprach. Das müsse sich »aber auch in den Anträgen widerspiegeln«. Denn die Bundesregierung helfe nicht »aus Nächstenliebe«. Sie versuche »in Osteuropa, in der Sahelzone, im Südchinesischen Meer gerade den deutschen Einfluss zu sichern, und die Zeche für die Verschärfung von Wirtschafts- und Handelskriegen werden wir zahlen müssen«.
      Marie Schulpig, Delegierte der Verdi-Bundesverwaltung, kritisierte die 180-Grad-Wende der Verdi-Führung in den Auseinandersetzungen bei der Post und im öffentlichen Dienst. Da wurde immer wieder laut über den Erzwingungsstreik nachgedacht bzw. bereits ein positives Mitgliedervotum eingeholt, der Weg dann aber nicht gegangen und statt dessen »der Kompromiss« gesucht.
      Felicitas Traudes, Delegierte aus Hessen, erinnerte an den Grundsatz der Gewerkschaften, dass die Politik sich aus Tarifverhandlungen herauszuhalten habe. Mit der »Konzertierten Aktion« habe sich aber insbesondere das Kanzleramt in die Tarifautonomie eingeschaltet. Mit der Konsequenz, dass in Tarifverhandlungen Einmalzahlungen vereinbart wurden – auch dann, wenn sie zuvor nicht gefordert worden waren; die »Verschiebung der tabellenwirksamen Lohnerhöhungen um viele Monate zugunsten von Inflationsausgleichszahlungen führt in der Folge zu Reallohnverlusten«. Dass die Mitglieder dafür gestimmt haben, wundere sie nicht. Denn das vereinbarte Geld habe kurzfristig die Löcher im Portemonnaie gestopft. (…)
      Werneke unternahm am Ende der Generaldebatte einen Versuch, die Kritik einzuhegen. Da Gewerkschaftspolitik und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten von politischen Entscheidungen abhingen, sei es »unsere Pflicht, mit politischen Entscheidern in Austausch zu sein« und »kein Ausdruck von kämpferischer Gewerkschaft, das nicht zu tun«. Er machte damit vor allem eins deutlich: Mit der inhaltlichen Kritik der Delegierten kann er entweder nichts anfangen, oder sie ist ihm egal.Artikel von Susanne Knütter in der jungen Welt vom 19.9.2023 externer Link
    • Rede von René Arnsburg zum Grundsatzreferat auf dem #6bk23 bei youtube externer Link : Gegen Krise und Kürzungen müssen wir den politischen Streik in den Fokus nehmen und die Eigentumsfrage offensiv aufwerfen, sonst gibt es keine „Transformation“ und schon gar keine soziale oder ökologische…
    • Siehe auch unsere Berichterstattung im Dossier: An alle Gewerkschaftsmitglieder, insb. die Delegierten des ver.di-Bundeskongresses: SAGT NEIN! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden
  • [Tag 1] 6. ver.di-Bundeskongress in Berlin: Zuwachs bei Mitgliedern – erfolgreiche tarifpolitische Bilanz – Kritik an Haushalts- und Sozialpolitik der Bundesregierung
    Mit einem positiven Ausblick auf die Mitgliederentwicklung im Jahr 2023, einer erfolgreichen tarifpolitischen Bilanz und deutlicher Kritik an der Haushalts- und Sozialpolitik der Bundesregierung hat der 6. Bundeskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) am (Sonntag 17. September 2023) in Berlin begonnen. Demnach verzeichnet ver.di mit mehr als 140.000 Neueintritten, darunter 35.000 junge Menschen, den höchsten Zuwachs seit Gründung der Dienstleistungsgewerkschaft vor mehr als 22 Jahren. „Wir werden in diesem Jahr auch im Saldo mit einem deutlichen Mitgliederzuwachs von mehreren zehntausend Mitgliedern abschließen“, prognostizierte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke zum Auftakt der Beratungen beim Bundeskongress. Gleichzeitig zog Werneke ein positives Fazit der Tarifrunden des Jahres 2023 und stimmte die Delegierten auf weiterhin harte tarifpolitische Auseinandersetzungen ein. (…) Deutliche Kritik übte der ver.di-Vorsitzende an der Haushalts- und Sozialpolitik der Bundesregierung. „Wir sehen auf ganzer Breite ein Spardiktat zulasten der Bereiche Soziales, Integration und Bildung“, sagte Werneke. Es sei eine „fatale Fehlentscheidung“, die Schuldenbremse wieder zu aktivieren und gleichzeitig Unternehmenssteuern zu senken. Dies habe dramatische Folgen. „Seit 2005 wächst in Deutschland jedes fünfte Kind in Armut auf. Das ist für ein reiches Land wie Deutschland ein vernichtendes Zeugnis“, stellte Werneke klar. Die geplanten 2,5 Milliarden Euro zur Finanzierung der Kindergrundsicherung reichten nicht aus. „Da muss mehr deutlich kommen.“ Und: „Wir brauchen mehr Investitionen in Schulen, Kitas und Chancen auf dem Arbeitsmarkt“, so der ver.di-Vorsitzende. Auch an anderen Stellen gehe der Haushaltsentwurf der Ampelkoalition in die „völlig falsche Richtung“: Die Pflegeversicherung sei „chronisch unterfinanziert“, gleichzeitig werde jährlich eine Milliarde Euro an Bundeszuschüssen gestrichen. Bei den Studierenden sollen künftig 440 Millionen Euro und beim Schüler-BAföG 210 Millionen Euro eingespart werden. Bei den Krankenhäusern betrage der Investitionsstau mittlerweile 25 Milliarden Euro, viele Häuser befänden sich auch aufgrund einer unzureichenden Strukturreform in einer „alarmierenden wirtschaftlichen Situation“. „Deshalb unterstütze ich die Forderung nach einem Sofortprogramm zur Rettung der Krankenhäuser in Höhe von zehn Milliarden Euro“, erklärte Werneke, nur sei dafür im Haushalt kein einziger Euro vorgesehen. „Hier läuft etwas total in die falsche Richtung.“ Deutschland könne sich das Dogma der Schuldenbremse schlichtweg nicht leisten…“ Pressemitteilung vom 17.09.2023 externer Link – siehe die laufende Berichterstattung auf der Kongressseite externer Link

  • Ver.di vor dem Bundeskongress: Programm gegen die Krise nötig
    „… Je mehr sich die Gewerkschaften in die Politik der Unternehmen und ihrer Regierung einbinden lassen, desto ruhiger ist es vermeintlich – aber nur zu Lasten der lohnabhängigen Mehrheit. Es gibt selbstverständlich eine verbale Ablehnung einer Einschränkung des Streikrechts und bspw. der Einführung der Aktienrente. Aber das ist auch schon alles. Daraus folgt, dass die Gewerkschaft nicht auf den Kampf gegen kommende Angriffe vorbereitet wird. Sollte es tatsächlich allgemeine Angriffe gegen die Arbeitenden in dieser Größenordnung geben, findet man keine Anhaltspunkte für irgendeine Form der Gegenwehr in den Leitanträgen des Kongresses; nicht für die Verteidigung gegen Angriffe und schon gar nicht für Verbesserungen wie der Absenkung des Rentenalters, der Arbeitszeitverkürzung, der Ausweitung des Streikrechts. Das alles sind unterstützenswerte Themen, die sich in den Anträgen der Untergliederungen finden. Bereits 2011 wurde beschlossen, innerhalb von zwölf Monaten ein Konzept zur Umsetzung des politischen Streiks vorzulegen – bis heute warten wir vergebens darauf. Gerade im Bereich Tarifpolitik, welche das Kerngeschäft der Gewerkschaft ist, sucht man in den Leitanträgen vergebens Aussagen, die der zukünftigen Arbeit eine Richtung geben. Nicht einmal die sonst so hochgelobten Abschlüsse bei der Post und im öffentlichen Dienst finden Erwähnung. Für die Erhöhung der Tarifbindung nach Vorgaben der EU auf 80 Prozent, wird ein Appell mit einem Aktionsprogramm an die Bundesregierung gerichtet, die das nicht für uns umsetzen wird. Nötig wäre, dies als Ziel der eigenen Arbeit zu definieren und eine Strategie zur Durchsetzung vorzuschlagen. Alle Anträge, die eine konkrete Festlegung auf bestimmte Forderungen oder Lehren aus den vergangenen Kämpfen beinhalten, stehen auf “Nichtbefassung”. Wenn eine Diskussion beantragt wird, wird maximal die Annahme als “Arbeitsmaterial” empfohlen, was keine Positionierung beinhaltet. (…)
    Wo, wenn nicht auf dem Kongress, soll über die Erfahrungen, die Vor- und Nachteile, das Ergebnis und die Auswirkung eines Kampfes von hunderttausenden Mitgliedern wie im TVöD diskutiert werden? Die Ausklammerung dieses wichtigen Bereichs der Gewerkschaftsarbeit setzt den Kongress von einem entscheidenden und arbeitenden Gremium herab zu einem zahnlosen Parlament, das Willensbekundungen verabschiedet, aber in der Praxis wenig Einfluss hat. Eine Legislaturperiode von vier Jahren (schlimmstenfalls fünf, wenn die entsprechenden Anträge angenommen würden), verstärkt diese Tendenz zusätzlich. Es lässt sich feststellen, dass die Leitanträge des Gewerkschaftsrats nicht reformierbar sind. An ihre Stelle müssten politische Dokumente mit einer grundlegend anderen Ausrichtung gesetzt werden. Die Delegierten sollten die Dokumente daher ablehnen und für die guten Anträge aus den Untergliederungen stimmen, von denen oben einige erwähnt wurden. Zuvor muss deren Behandlung und Abstimmung teilweise erst gegen die Empfehlung der Antragskommission erkämpft werden. Sie bieten eine wesentlich bessere, zum Teil auch konkretere Orientierung für die Arbeit unserer Gewerkschaft in den nächsten Jahren. (…)
    Ein weiteres, nicht weniger gravierendes Grundproblem besteht darin, dass es für den Gewerkschaftsrat keinen Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital gibt. Die Bundeskonferenz der ver.di Jugend hat in ihrem Grundsatzantrag C 005 formuliert: “Wir fordern die Abschaffung des Kapitalismus. Als Ziel wollen wir eine Gesellschaft ohne Profit- und Leistungslogik. Dies soll weiterhin Thema unserer Bildungsarbeit sein und sowohl nach außen als auch innerhalb der Organisation kommuniziert werden. Auch fordern wir die Zusammenarbeit mit antikapitalistischen Bündnissen, die mit den Grundsätzen von ver.di vereinbar sind.” Auch wenn der Antrag viele Fragen der Umsetzung nicht klärt, ist es gut, dass es diesen Antrag gibt, denn er wirft die richtigen grundsätzlichen Fragen auf. Die Antragskommission, die mit dem Verschicken der Antragsmappe ihre Abstimmungsempfehlung an den Kongress gibt, ist der Meinung, dass sich dieser Antrag mit dem Leitantrag C 001 des Gewerkschaftsrats erledigt hätte. Dort sucht man jeglichen Antikapitalismus vergebens. (…)
    Es gibt eine wachsende Kritik an dieser Ausrichtung. Das hat sich unter anderem in der Urabstimmung bei der Post und der Mitgliederbefragung zum Verhandlungsergebnis im öffentlichen Dienst gezeigt. Mehr als ein Drittel haben die Ergebnisse abgelehnt. Das reicht zwar für den Abschluss eines Tarifvertrags, für den nur 25 Prozent Zustimmung erforderlich ist. Gleichzeitig ist das eine größere Ablehnung als je zuvor und bedeutet, dass die Führung, die diese Abschlüsse um jeden Preis wollte, einen wachsenden Teil der Basis nicht überzeugen konnte. Worüber sollten wir diskutieren? Über die Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung, über den (Wieder)aufbau, den es nur im Kampf geben kann; darüber, wie die Politik der von oben verordneten Kompromisse überwunden werden kann; letztendlich darüber, wie wir eine politische und personelle Alternative zu Sozialpartnerschaft und Co-Management aufbauen können. Wir dürfen dabei nicht ignorieren, dass die organisierte Gewerkschaftsbewegung in vielen Bereichen geschwächt wurde. In vielen Betrieben ist es nötig, Strukturen (wieder) aufzubauen…“ Artikel von René Arnsburg vom 16. September 2023 bei SoL externer Link, er ist Delegierter zum Bundeskongress aus Berlin
  • Verdi und Klimabewegung: Vom Kongress auf die Straße – Verdi will auf ihrem Bundeskongress die Zusammenarbeit mit der Klimabewegung verstärken
    „Es scheint vor dem Hintergrund der ÖPNV-Kampagne »Wir fahren zusammen« von Fridays for Future und Verdi wenig: Nur 17 der über 1000 Anträge für den am Sonntag beginnenden Verdi-Bundeskongress befassen sich explizit mit dem Klimawandel. Doch die Beschlussvorlagen haben es in sich und dürften die Zusammenarbeit der Gewerkschaft mit der Klimabewegung weiter zementieren. So fordert etwa der Leitantrag zur Klimapolitik vom Gewerkschaftsrat dazu auf, »den Umbruch von Wirtschaft und Gesellschaft sozial und ökologisch zu gestalten«. Mit Verweis auf Fridays for Future stellt der Rat die sozial-ökologische Transformation in den Mittelpunkt und verlangt von der Bundesregierung ein umfassendes Investitionsprogramm. Damit sollen der ÖPNV ausgebaut, die Energiewende finanziert und so die Klimaziele eingehalten werden. Auch nach dem Willen anderer Antragssteller*innen soll Verdi sich stärker mit der Klimabewegung solidarisieren, darunter mit den vergangenen Protesten in Lützerath. Dort hatte die vom Stromkonzern RWE angeforderte Polizei ein Protestcamp von Klimaaktivist*innen teils brutal geräumt. Aus Bayern kommt die Aufforderung, »sich auch zukünftig an entsprechenden Protesten und Aktionen zu beteiligen«. Weitere Anträge, wie einer aus Baden-Württemberg, sind radikaler formuliert: »Die Bewältigung der Klimakrise muss global und antikapitalistisch gedacht werden«, heißt es darin. Demnach müsse die politische Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Partner*innen verfestigt werden. Genannt werden das Bündnis Unteilbar und die Klimagruppe Fridays for Future. Weniger verbalradikal, aber der Substanz nach kaum moderater klingt ein Antrag aus dem Raum Nordsachsen. Darin fordern die Initiator*innen, der Klimakatastrophe entgegenzuwirken. Helfen soll dabei eine Senkung der Wochenarbeitszeit auf 28 Stunden bei vollem Lohnausgleich und dass die Kooperationspartner*innen in der Klimabewegung gestärkt werden. Während die meisten anderen Anträge von der Antragskommission befürwortet werden, wird dieser abgelehnt. An inhaltliche Forderungen des Bündnisses aus ÖPNV-Beschäftigten und Fridays for Future knüpfen neun Anträge an. Der Hauptantrag fordert, dass sich Verdi für eine Mobilitätswende einsetzen soll, die »die Bewältigung der sozialen und ökologischen Herausforderungen« mit guten Arbeitsbedingungen verknüpft. Ebenfalls von der Antragskommission zur Annahme empfohlen wird die Forderung nach kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln…“ Artikel von Felix Sassmannshausen vom 15. September 2023 in Neues Deutschland online externer Link, siehe dazu:

    • Fridays for Future und Verdi: Raus aus der Bubble
      „… Heike Hessel fährt seit 38 Jahren Straßenbahnen in Leipzig. Inzwischen immer in Spätschicht. »Das ist besser, als ständig die Schichten zu wechseln.« Diesen Freitag macht die 55-Jährige eine Ausnahme: Es ist Klimastreik und sie hat sich extra einen früheren Dienst geben lassen, um ab Mittag auf dem Augustusplatz Unterschriften für bessere Arbeitsbedingungen und massive Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr zu sammeln. Seite an Seite mit jungen Klimaaktivist*innen. Mit den Unterschriften startet die Gewerkschaft Verdi am 15. September bundesweit ihre Tarifkampagne für den Nahverkehr, bei der sie unter dem Motto »Wir fahren zusammen« mit Fridays for Future (FFF) kooperiert. In Dutzenden Städten gibt es gemeinsame Ortsgruppen von Beschäftigten und Klimaaktivist*innen. In Leipzig findet regelmäßig ein gemeinsames Plenum »mit den jungen Leuten« statt, wie Heike Hessel dem »nd« erzählt. Sie versucht, wenn der Dienstplan es zulässt, so oft wie möglich teilzunehmen. (…) Verdi kooperiert nach 2020 zum zweiten Mal in einer Nahverkehrstarifrunde mit der Klimaschutzbewegung. Was das bringt? Hessel hofft, »dass die Fridays Verständnis für unseren Streik in die Bevölkerung tragen«. Sie leidet darunter, wenn Fahrgäste ihren Ärger über Verspätungen an den Fahrer*innen auslassen. »Das ist echt schlecht fürs Arbeitsklima.« (…) »Wir können den Tarifkonflikt nur gewinnen, wenn wir einen Großteil der Öffentlichkeit hinter uns haben«, sagt Schackert. »Wenn ich als Gewerkschafter bessere Arbeitsbedingungen für Bus- und Bahnfahrer*innen fordere, kann man sagen: Ja gut, du vertrittst halt deren Einzelinteressen. Wenn die Fridays sagen, wir brauchen für den Klimaschutz einen guten öffentlichen Nahverkehr und attraktive Arbeitsbedingungen, dann ist das etwas anderes.« (…) Fridays for Future hängt noch immer das Image an, nur mehr Spielwiese sozial bessergestellter Mittelschichtskinder zu sein, die ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze und Preise radikale Forderungen aufstellen. Auch Straßenbahnfahrerin Hessel hatte Vorbehalte. Bei Klimaaktivisten dachte sie zuerst an Klimakleber und die gehen ihr zu weit. »Und wie die jungen Leute gegen die Polizei wettern, das ist mir nicht recht.« Das habe sie ihnen auch gesagt. Schon die Ausdrucksweisen sind sehr verschieden: Klimaaktivist*innen schmeißen mit Anglizismen um sich, sagen Sachen wie »ohne labour turn kein climate turn« und »global strike«. »Was wollen die von mir?«, fragt sich Hessel da manchmal. (…) »Durch das persönliche Gespräch lässt sich erkennen, dass wir ein gemeinsames Interesse haben«, sagt Robin. (…) Erst haben die Fridays in den Betrieben erklärt, worum es ihnen geht, jetzt erklärt Heike Hessel selbst noch skeptischen Kollegen, warum sie beim Klimastreik mitmachen sollen. »Mit den Fridays kann man zusammenarbeiten«, sagt sie dann zum Beispiel, »das ist nicht die Letzte Generation. Die Fridays hören zu.« Und eines wünscht sich die Straßenbahnfahrerin noch von »den jungen Leuten«: »Am liebsten wäre mir, dass einige, wenn sie fertig studiert haben, neue Kollegen werden.«“ Beitrag von Ines Wallrodt und Eva Roth vom 15. September 2023 bei Neues Deutschland online externer Link
    • siehe dazu auch unser Dossier: Betriebsräte der ÖPNV-Unternehmen für den Ausbau des Nahverkehrs für die Verkehrswende – zusammen mit der Klimabewegung
  • Ringen um Bildungsstätte in Ostdeutschland. Zahlreiche Anträge für Erhalt des Verdi-Bildungszentrums Saalfeld. Erwerbslosenarbeit weiterhin prekär
    Nicht nur politische Richtungsentscheidungen soll das höchste Gremium von Verdi, der Bundeskongress, wie es scheint, nicht beschließen. Auch finanzielle Beschlüsse trifft der Bundesvorstand lieber selbst. So gibt es zum Beispiel eine Reihe von Anträgen für den Erhalt des Bildungszentrums Saalfeld, die die Antragskommission mit dem Stempel »Annahme als Arbeitsmaterial zur Weiterleitung an den Bundesvorstand« versehen hat. Das heißt, der Bundesvorstand soll »über Form« und »zeitliche Dimensionierung der Bearbeitung« entscheiden und darüber, welches Ressort »bei der Umsetzung des Antragsbegehrens« zuständig ist. Wie gut das in der Vergangenheit geklappt hat, vermittelt der Antragstext der Bundesfachbereichskonferenz A. Nachfragen zum Stand der Dinge seien demnach von der Bundesebene lange nicht oder ungenau beantwortet worden. Worum geht es? Das Bildungszentrum Saalfeld ist die einzige Verdi-Bildungsstätte in den ostdeutschen Flächenländern. Bereits seit einigen Jahren droht ihr die Schließung. Unter anderem wegen zu hoher Mietkosten und Investitionsbedarfe, wie es in dem Antrag heißt. Mittlerweile sei der Mietvertrag zu 2024 gekündigt. »Wie es danach weitergehen soll, ist bis dato völlig offen.« Das Problem: Nach Angaben der Antragsteller ist es »Dreh- und Angelpunkt für die politische, betriebliche und gewerkschaftliche Bildungsarbeit in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen«. In den vergangenen Jahren sei es sogar modernisiert worden. Nach den Pandemiebeschränkungen sei die Auslastung gut. Das geplante »Quartier Neue Arbeit«, das im Volkshaus-Areal in Leipzig entstehen soll und auch in anderen Anträgen stark kritisiert wird, sei kein adäquater Ersatz für das Bildungszentrum Saalfeld. Außerdem sei es noch in »weiter Ferne«...“ Artikel von Susanne Knütter in der jungen Welt vom 16.9.2023 externer Link
  • Raus aus der Sackgasse. Die Gewerkschaft Verdi steht Kopf. Es kommt darauf an, sie wieder auf die Füße zu stellen.
    „… Ist der Schwund an Mitgliedern und der dadurch wachsende Macht- und Gestaltungsverlust unserer Gewerkschaft mit der Covid-Pandemie zu erklären, wie es in Publik darstellt wird? Keineswegs. Denn bereits seit der Gründung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft im Jahr 2001 haben wir an Mitgliederstärke und damit an Durchsetzungsstärke, an Finanzstärke, an politischer Macht in den Betrieben und Dienststellen, aber auch an gesellschaftspolitischer Bedeutung verloren. (…) Nach mehr als 20 Jahren ist heute klarer denn je: Verdi befindet sich in einer tiefgreifenden Krise. Es ist eine Krise der Mitgliederentwicklung, eine Krise der rückläufigen Mitgliedsbeiträge und somit der Handlunsgfähigkeit; eine tarifpolitische und insgesamt eine politische Krise. Hinzu kommt die organisationspolitische Krise der Gewerkschaft, in der das beitragszahlende Mitglied immer mehr entmachtet wird und sich in der eigenen Organisation immer weniger wiederfindet. Zwischen der Gewerkschaft als Apparat und ihren Mitgliedern findet eine regelrechte Entfremdung statt.
    Alle diese Krisen stehen in einem Zusammenhang. Eine einschneidende Änderung der Ausrichtung unserer Gewerkschaft ist nötig, um wieder Organisationsmacht, betriebliche und politische Durchsetzungs- und Gestaltungsmacht sowie gesellschaftliche Relevanz zu gewinnen. Gelingt uns das nicht, verschwinden wir in der absoluten Bedeutungslosigkeit. Das hätte verheerende Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten, nicht nur im Dienstleistungsbereich. (…)
    In unserem Kerngeschäft, der Tarifpolitik, verlieren wir zusehends an Boden. In nicht wenigen Branchen können wir mit unseren Tarifverträgen keine Sicherheit und auch keine verlässlichen Rahmenbedingungen mehr für die lohnabhängig Beschäftigten garantieren. (…)
    Zahlreiche, häufig extern aufgesetzte Kampagnen und Organisationsprozesse haben Verdi nicht aus der Krise geholfen. Der Bundesvorstand hat weder die »Geburtsfehler« der Organisation korrigiert, noch auf die seit der Existenz von Verdi eingetretenen Branchenveränderungen und gesellschaftlichen wie betrieblichen Entwicklungen Antworten gefunden. (…)
    Spätestens seit dem weitgehenden Wegfall der Allgemeinverbindlichkeit von Flächen- und Branchentarifverträgen ist ein anderer Ansatz in der gewerkschaftlichen Tarifpolitik notwendig. Solange die politische Kraft für die Rückkehr zu landesweit (und international) geltenden Arbeitsbedingungen nicht ausreicht, ist in der Tarifarbeit der Abschluss von Haus-, Sparten- und Anerkennungstarifverträgen zu forcieren. Alle Ansätze, die geeignet sind, die fortschreitende Tarifflucht zu verhindern und den Tarifvorbehalt, der durch betriebliche Regelungen unterlaufen wird, zu verteidigen, sind zu unterstützen. Der Tarifvertrag ist der Markenkern einer Gewerkschaft. Der Verzicht darauf kommt einer »politischen Insolvenz« gleich. (…)
    Als Tarifgewerkschaft sollten wir den Blick auf die Wertschöpfungs- und Lieferketten richten und Tarifverträge entlang dieser Ketten anstreben. Hierfür ist im ersten Schritt eine Vereinheitlichung von Flächentarifverträgen durch einen bundesweiten Tarifvertrag oder zumindest einen Rahmentarifvertrag mit Mindeststandards notwendig. Das würde sich auch positiv auf unsere Forderungen zur Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit auswirken. Notwendig und unverzichtbar ist auch, die internationale Arbeit unserer Gewerkschaft neu auszurichten. (…)
    Kerngeschäft der Gewerkschaften ist das Erkämpfen von Arbeitskonditionen wie Lohn/Gehalt, Arbeitszeit, Urlaub und weiteren Leistungen wie z. B. Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Zuschlägen für ungünstige Arbeitszeiten, Freistellungen, betriebliche Altersvorsorge u. v. m. und deren Absicherung in Tarifverträgen. Als Gewerkschaften sind wir gut beraten, uns auf dieses Kerngeschäft zu konzentrieren (…)
    Umgekehrt dürfen wir allerdings nicht versäumen, das politische Mandat für die lohnabhängig Beschäftigten zu beanspruchen. Dieses Feld darf nicht dem Klassengegner überlassen werden. Dazu ist es dringend notwendig, die Rolle des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) auf den Prüfstand zu stellen. (…)
    In weiten Teilen ist die Gewerkschaft Verdi eine »Betriebsrätegewerkschaft«. Wer sich dieser politischen Realität stellt, muss der betrieblichen Erschließung nicht nur theoretisch den Vorrang geben. Mitgliedergewinnung und Personalentwicklung sind die Voraussetzungen, um Gestaltungsmacht und Handlungsfähigkeit in den Betrieben zu gewinnen. (…)
    Die Ursprungsidee der fachbereichsübergreifenden Arbeit und der Aufbau von Stärke und Solidarität konnte so nicht verwirklicht werden. Daher dürfen wir nicht länger an der Fehlkonstruktion der Matrix festhalten. (…)
    Die gesamte Kraft und politische Arbeit unserer Organisation muss sich nah am Mitglied und damit am Betrieb bzw. der Dienststelle orientieren. Eine Dreigliedrigkeit in Organisationseinheiten wie Bezirk, Landesbezirk und Bundesfachbereich ist überholt und hat uns nicht nach vorne gebracht. (…)
    Der Bundesvorstand vernachlässigt die Jugendarbeit. Wenn dafür in den Bezirken bloß Bruchteile von Stellen zur Verfügung gestellt werden, beispielsweise 0,1 oder 0,2-Stellenanteile für die gesamte Jugendarbeit eines Bezirkes oder Fachbereiches, darf man keine Wunder erwarten. (…)
    Die Finanzströme unserer Gewerkschaften müssen in die Arbeit vor Ort und in die Betriebe/Dienststellen gelenkt werden. Unsere Mitglieder müssen in allen Bereichen ins Zentrum der gewerkschaftlichen Geschehnisse und Entscheidungen gerückt werden. Die Gewerkschaft als Organisation darf nicht weiter als Selbstzweck gesehen werden…“ Ein Plädoyer von Orhan Akman in der jungen Welt vom 22.09.2022 externer Link

  • Siehe auch die Veranstaltungs­übersicht Organisations­wahlen 

Grundinfos

  • Die Kongressseite externer Link
  • Tagesordnung externer Link, die (Leit)anträge externer Link und Wahlen externer Link – siehe für Aktuelles #6BK23 und #morgenbrauchtuns aber auch auf Twitter z.B. den ND-Autor Felix Sassmannshausen externer Link
  • ver.di-Dokumente zu Krieg, Frieden, (Ab-)Rüstung
    „… Der bevorstehende 6. Bundeskongress (17.-23.9. 2023 / Berlin) wird sich – sowohl wegen der grundsätzlichen friedenspolitischen Orientierung von ver.di, aber ganz besonders natürlich aufgrund der aktuellen Situation) intensiv mit Fragen von Krieg, Frieden und damit zusammenhängenden Themen beschäftigen (müssen). Dafür hoffe ich hier eine nützliche Arbeitshilfe zur Verfügung zu stellen. Dokumente des 1. bis 4. Bundeskongresses konnte ich im Netz nicht mehr auffinden und habe deshalb auf mein Archiv auf meinem Rechner zurückgegriffen (für den 3. und 4. Bundeskongress). Sollten die Dokumente doch im Netz verfügbar sein, bin ich für entsprechende Hinweise dankbar…“ Aus der Vorbemerkung von Bernhard Pfitzner zu seiner Zusammenstellung vom 12.3.23

Siehe zur bisherigen ver.di-Strategiedebatte im LabourNet Germany:

und zuvor:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=204599
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