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[LabourNet-Sommer-Interview mit Peter Cole] Neun brennende Fragen über die neue Organisierungsbewegung in den USA: Gründe, Erfolge und Erkenntnisse

Medienbeschäftigte organisieren sich 2022 in den USALabourNet Germany hat das Wachstum der gewerkschaftlichen Organisierung in den letzten Jahren in den USA begleitet. Nicht nur bei Amazon, Starbucks und Apple werden Gewerkschaften gegründet, sondern auch in eher kleineren Betrieben wie Zeitungsverlagen, der Spieleindustrie und sogar bei Mittelalter-Schausteller:innen für abendliche Feste, um längst überfällige Tarifverhandlungen vorzubereiten. Nach dem bereits für viele überraschenden heißen Herbst 2021 flachte die Welle von Arbeitskämpfen und Organisierungen keinesfalls ab. Wir freuen uns, dass wir die Gelegenheit hatten, mit dem US-amerikanischen Gewerkschaftshistoriker Peter Cole zu sprechen und ihm aus unserer Sicht neun brennende Fragen zum Verständnis dieser Bewegung zu stellen, auch hinsichtlich eventueller Lehren. Hier ist unsere Version des Sommerinterviews, durchgeführt auf Englisch und übersetzt durch Anne Engelhardt im Juli 2022. Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen!

LabourNet Germany [LNG]: Vielen Dank, dass du Zeit für uns hast! Wir haben neun brennende Fragen zur aktuellen Gewerkschaftsbewegung in den USA, denn es tut sich eine ganze Menge.

  1. Zurzeit gibt es überall in den USA verschiedene gewerkschaftliche Organisierungskampagnen, die wie Pilze aus dem Boden schießen. Kannst du uns einige deiner Lieblingsbeispiele nennen?

Peter Cole* [P.C.]: Die Organisierungsarbeit in den USA hat stark zugenommen. Das National Labor Relations Board [NLRB], das für die meisten Gewerkschaftswahlen zuständig ist, berichtet beispielsweise, dass die Zahl der Wahlanträge im Vergleich zum letzten Jahr um mehr als 50 % gestiegen ist. Die Zahl der Arbeiter:innen, die sich gewerkschaftlich organisieren wollen, ist eindeutig gestiegen. Das ist sehr bemerkenswert. Eine der interessantesten Organisierungskampagnen findet meiner Meinung nach bei REI statt. Das ist ein Akronym für Recreational Equipment Incorporated, eine Verbraucher:innengenossenschaft. Sie besteht seit den 1930er Jahren, hat ihren Sitz in Seattle, Washington, und gilt als ein sehr liberales Unternehmen. Ich bin dort selbst Mitglied. Im Laufe der Jahre sind Hunderttausende von Verbraucher:innen der Genossenschaft beigetreten. Aber richtige Demokratie gibt es hier nicht. Es ist eher so, dass man Mitglied wird um Rabatt zu bekommen. Die Beschäftigten in einem der großen Einzelhandelsgeschäfte in New York City haben sich organisiert und eine Gewerkschaftsabstimmung gewonnen. Das bedeutet, dass der nächste Schritt darin besteht, einen Vertrag zu bekommen. Und es überrascht nicht, aber es ist traurig, dass der Vorstand und die Manager von REI sich gegen diese Gewerkschaftskampagne wehren. Es ist sehr gut möglich, dass es noch andere REI-Filialen gibt, die sich in diesem Prozess befinden, denn oft wird die Organisierung geheim gehalten, bis genügend Beschäftigte ihr Interesse bekundet haben, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen.

Die Wahrheit ist, dass es viele Organisierungsprozesse gibt, die nicht nach dem üblichen Drehbuch ablaufen; traditionell organisieren Gewerkschaftsorganisator:innen im Stillen, oft über Monate, manchmal über Jahre. Wenn dann ein gewisser Prozentsatz der Arbeitenden gewerkschaftliches Interesse bekundet, gehen sie an die Öffentlichkeit. Heute jedoch machen sie viel früher ihre Organisierungsabsichten bekannt. Traditionell hielten die Gewerkschaften dies für gefährlich, weil die Arbeitgeber dann auf legale und illegale Weise unglaublichen Druck ausüben. Doch die Arbeitenden sind anscheinend militanter geworden. Und so ignorieren sie, wenn man so will, die empfohlenen Ratschläge von Gewerkschaftsorganisator:innen und machen es wie sie es für richtig halten. Da die Gewerkschaften in den letzten 50 Jahren so stark zurückgegangen sind, ist es nicht unbedingt klug, den Ratschlägen der Gewerkschaften zu folgen. Ihr wisst was ist die Definition von Wahnsinn ist – immer wieder das Gleiche zu tun, auch wenn die Ergebnisse nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen. Auch in meiner Stadt, in Chicago, haben einige Starbucks-Beschäftigte gestreikt, bevor sie einen Gewerkschaftsvertrag hatten, in einigen Fällen sogar, bevor sie überhaupt eine Abstimmung für die Gewerkschaft hatten, und dann oft mit begrenzter Unterstützung der Gewerkschaft.

Es handelt sich also oft um diese Art von Streiks, die ‚illegal‘ sind, weil sie noch keinen rechtlichen Schutz haben, weil die Kolleg:innen noch nicht in einer Gewerkschaft sind. Obwohl man in den Vereinigten Staaten unter bestimmten Umständen das Recht hat zu streiken, müssen solche Streiks oft durch GoFundMe-Kampagnen oder andere Arten von Crowdsourcing im Internet finanziert werden, weil sie ja nicht arbeiten während des Streiks. Die meisten Gewerkschaften haben Streikleistungen für streikende Mitglieder. Im Allgemeinen sind die Streikgelder recht niedrig, aber besser als gar nichts. Ein weiterer Beweis für die Militanz der Arbeitenden ist die Tatsache, dass sich oft Geringverdiener:innen an Streiks beteiligen, die nicht über große Ersparnisse verfügen, auf die sie im Falle des Misserfolgs zurückgreifen können.

  1. Welche Sektoren, in denen derzeit Organizing stattfindet, sind für dich am unwahrscheinlichsten gewesen? Mit welchen hast du am wenigsten gerechnet?

P.C.: Ich denke, dass in vielen Ländern Teilzeitbeschäftigte und Niedriglohnempfänger:innen in Bereichen, in denen die Belegschaft schnell wechselt, im Allgemeinen nicht gewerkschaftlich organisiert werden, weil die Gewerkschaften glauben, dass die Chancen einer gewerkschaftlichen Organisierung bei diesen Beschäftigten geringer sind. In solchen Branchen, z. B. in der Fast-Food-Industrie, sind häufig jüngere Arbeiter:innen beschäftigt. In der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung ist das Klischee weit verbreitet, dass diese Arbeiter:innen nicht an einer gewerkschaftlichen Organisierung interessiert sind. Die Gewerkschaften haben kaum je versucht, solche Arbeiter:innen zu organisieren, weil diese alle paar Monate den Arbeitsplatz wechseln. Was soll das also bringen? Darin liegt eine gewisse Logik. Warum sollten Arbeitende, die den Arbeitsplatz wechseln, das Risiko eingehen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, wenn sie selbst glauben, dass sie einen anderen Arbeitsplatz bekommen könnten? Es ist ein Teufelskreis. In einigen Branchen wie dem Gaststättengewerbe waren früher Vollzeitbeschäftigte tätig, und viele von ihnen gehörten einer Gewerkschaft an. Die Unternehmen sind absichtlich auf Teilzeitbeschäftigung umgestiegen, um ihre Arbeitskosten zu senken. Ich meine, in einigen Städten, sagen wir mal vor 50 oder 100 Jahren, waren manchmal bis zu 50 % der Beschäftigten in Restaurants gewerkschaftlich organisierte Bedienungen und Kochpersonal. Heute sind es in dieser Branche nur noch ein oder zwei Prozent. Das liegt zum Teil daran, dass die Unternehmen zu einem Teilzeitmodell übergegangen sind, angeführt von Fastfood-Restaurants wie McDonald‘s und anderen.

Ein weiteres Problem ist, dass die Mindestlöhne von der staatlichen Politik festgelegt werden, nicht von den Gewerkschaften oder den Arbeiter:innen. Es ist einigermaßen überraschend, dass sich Restaurantbeschäftigte organisieren, wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, Teilzeitbeschäftigte zu organisieren. Eine Kampagne, die seit fünf Jahren läuft, ist die der Industrial Workers of the World (IWW). Erfolgreich ist ein Fast-Food-Unternehmen namens Burgerville im pazifischen Nordwesten – in Oregon und Washington State – in einigen Dutzend Restaurants. Dabei handelt es sich um eine regionale Kette im Gegensatz zu McDonald‘s, aber nichtsdestotrotz ist es dieselbe Branche, in der sich Burgerville organisiert hat, und zwar nicht nur in einer Mainstream-Gewerkschaft, sondern in einer radikalen Gewerkschaft. Die etablierten Gewerkschaften haben solche Arbeiter:innen im Grunde ignoriert, die sich dann an radikalere Gewerkschaften wandten, die bereit waren, sie zu unterstützen. Die Burgerville-Kampagne, für die inzwischen einige Verträge unterzeichnet wurden, ist ein Beispiel für eine Branche, in der es wichtig ist, sich zu organisieren, denn in Restaurants arbeiten Millionen von Beschäftigten, die im Allgemeinen nicht gut geschützt sind und in der Regel niedrige Löhne erhalten. Und in den USA haben Teilzeitbeschäftigte fast nie Zugang zu den Krankenversicherungsleistungen ihrer Arbeitgeber und können auch keine Beiträge zu den Rentenplänen leisten. Und da es auch keine nationale Krankenversicherung gibt, haben diese Arbeiter:innen oft gar keine Krankenversicherung, was bedeutet, dass sie im Falle einer Verletzung oder Krankheit nicht zum Arzt gehen können, weil dies ein Vermögen kosten würde. Stattdessen landen sie in ihrer Verzweiflung am Ende einfach in eine Notaufnahme.

Eine andere interessante Geschichte spielt sich bei den Eisenbahnen ab. Die Kolleg:innen sind bereits gewerkschaftlich organisiert, aber aufgrund der zentralen Bedeutung ihrer Branche für die Wirtschaft auch streng reguliert. Dieses besondere Arbeitsrecht geht auf das frühe 20. Jahrhundert zurück, als viele Eisenbahner:innen streikten und ziemlich militant waren. Heute ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie streiken, sehr gering, da das Gesetz es den Eisenbahner:innen fast unmöglich macht. Außerdem sind die Gewerkschaften in dieser Branche in viele verschiedene Berufe unterteilt. Es gibt mehr als eine Gewerkschaft, und die Koordinierung zwischen den Gewerkschaften kann sehr schwierig sein. Dennoch gibt es über 100.000 Beschäftigte bei der Eisenbahn. Sie werden in der Corona-Ära stark ausgebeutet und sind überarbeitet. Oft können die Arbeitgeber Überstunden anordnen. Die Kolleg:innen können sie nicht ablehnen. Es gibt Beispiele dafür, dass viele Arbeiter:innen gezwungen werden, monatelang sieben Tage die Woche zu arbeiten, und sie haben keine Möglichkeit, dagegen Einspruch zu erheben. Sie könnten kündigen, aber das ist der einzige Ausweg. Außerdem haben sie seit drei Jahren keine Lohnerhöhung mehr erhalten, während ihre Unternehmen fantastische Gewinne machen. In dieser Branche sind die Gesetze wirklich ungerecht gegenüber den Arbeiter:innen, denn der Staat hat es den Arbeiter:innen in diesem wichtigen Sektor im Grunde unmöglich gemacht, ihre größte Macht auszuüben, nämlich die Arbeit niederzulegen. Es ist also nicht klar, ob es einen Streik geben wird. Wahrscheinlich wird es keinen geben. Aber diese so wichtigen Industrie steht auch unter Druck, was zu verschiedenen Arten von Streiks führen könnte. Die Arbeiter:innen können sich krank melden, sie könnten diese Aktion koordinieren. Dafür gibt es viele Beispiele in verschiedenen Orten und Branchen. Koordinierte Krankmeldungen, wie sie bei Fluggesellschaften vorkommen, gibt es auch in den USA. Ich weiß, dass dies nicht nur in den USA der Fall ist, aber auch den Pilot:innen von Fluggesellschaften ist es gesetzlich verboten zu streiken, es gibt nur ganz wenige Ausnahmen. Aber koordiniertes Fernbleiben hat die gleiche Wirkung, vielleicht sogar noch mehr, weil es Macht demonstriert. Man kann die Leute nicht wirklich daran hindern, sich krank zu melden.

  1. Welche Rolle spielt die Inflation für die Bewegung?

P.C.: Wie in vielen anderen Ländern trifft die Inflation die Arbeitenden hart. Wenn man keine Lohnerhöhung bekommt, bedeutet das im Grunde eine Lohnkürzung. Aber die Inflation ist von Land zu Land unterschiedlich. Obwohl das System global ist, sind die Auswirkungen in einigen Ländern unterschiedlich. Die Benzinpreise in den USA zum Beispiel sind im Vergleich zu Europa niedrig, steigen aber dramatisch an. Und das ist der Punkt, an dem viele Arbeiter:innen, oft nicht nur Arbeiter:innen, sondern die Menschen in den USA, die so stark vom Auto abhängig sind, das sofort erkennen und sich beschweren. Als jemand, der möchte, dass die Menschen weniger Auto fahren, und der den Klimawandel bekämpfen will, ist es ironisch, dass man Mitleid mit den Menschen hat, die nicht genug Auto fahren können, aber das ist die Realität für viele Amerikaner:innen.

Die Lebensmittelpreise sind ebenfalls gestiegen, aber auch die Wohnkosten, sowohl für den Kauf von Immobilien als auch für das Mieten in den USA. Ich weiß nicht, wie hoch die Zahl heutzutage ist, aber etwa 60 Prozent der amerikanischen Familien sind Eigenheimbesitzerinnen, viel mehr als in vielen europäischen Ländern. Aber auch die Mietpreise sind stark gestiegen und liegen sogar knapp über der Inflationsrate. In den wichtigsten Bereichen des Haushalts, wie Wohnen, Energie und Lebensmittel, macht sich die Inflation bemerkbar. Man sieht es an den Forderungen nach Streiks, obwohl Streiks in den USA immer noch sehr selten sind. Es ist nicht wie in Hamburg, wo ich von den Hafenarbeiter:innen gelesen habe, die sagen: „Oh, wir wollen erhebliche Erhöhungen wegen der Inflation“. Wir sehen keine Streiks. Wir sehen eine Menge Leute, die frustriert sind und sich beschweren. Es wird viel darüber diskutiert, aber es gibt keine konzertierte Aktion.

Die Regierung Biden versucht, die Inflation durch eine Anhebung der Zinssätze einzudämmen, obwohl das nicht der beste Weg ist, um Arbeitenden zu helfen, die unter der Inflation leiden. Denn das erhöht auch die Kosten auf verschiedene Weise. Die Begrenzung der Preiserhöhungen, die Unternehmen vornehmen können, das Einfrieren von Preiserhöhungen wäre ein alternativer Ansatz, um die Unternehmen daran zu hindern, ihre Kosten auf andere Art und Weise zu erhöhen oder ihre Gewinne zu beschränken. Viele Unternehmen beklagen sich gleichzeitig über die Kosten, verzeichnen aber auch Rekordgewinne. In der Hähnchenindustrie in den USA zum Beispiel hat Tyson, einer der großen Hähnchen-Verarbeiter, die Kosten für Hähnchen erhöht. Sie machen Gewinne und sagen gleichzeitig: „Oh, wir können uns diese höheren Kosten nicht leisten!“

Ich denke, die kurze Antwort lautet, dass die Arbeiter:innen unter den höheren Kosten leiden. Es gibt eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten, zu denen in den USA bisher nur selten die Forderung nach Lohnerhöhungen gehört, weil Streiks so selten sind. Wenn die Gewerkschaften jedoch Verträge aushandeln, ist dies in der Regel das Hauptproblem, auch wenn dies in einer nicht-inflationären Zeit das Hauptproblem ist.

  1. Du bist Arbeitshistoriker, hast du das schonmal in der Geschichte der USA gesehen, dass die Frage des Arbeitskräftemangels und der Inflation zusammenkommen wie zwei Züge, die ineinander krachen?

P.C.: Das ist eine gute Frage. Wenn wir die Inflation in den USA mit der Inflation Anfang der 1980er und Mitte bis Ende der 1970er Jahre vergleichen, gab es damals keinen Arbeitskräftemangel. Das heißt, die Arbeitslosigkeit war Mitte bis Ende der 1970er und Anfang der 80er Jahre hoch. Jetzt haben wir Inflation, aber niedrige Arbeitslosigkeit. Viele Menschen verstehen, dass eine niedrige Arbeitslosigkeit besser für die Arbeitenden ist. Deshalb glaube ich, dass wir immer noch eine hohe Fluktuation in den USA erleben, die so genannte große Resignation, die vor einem Jahr oder mehr begann. Die Menschen sind von ihren miesen Jobs frustriert und nutzen daher die Knappheit auf dem Arbeitsmarkt aus. Die individuelle Reaktion auf diese Bedingungen ist, zu kündigen und einen anderen Job zu finden. Und das ist heute einfacher als in den frühen 80er oder späten 70er Jahren. Die kollektive Reaktion könnte darin bestehen, dass Sie Ihre Arbeitskolleg:innen in einer Gewerkschaft organisieren oder streiken. Auch das ist möglich.

Meiner Meinung nach sind die Arbeiter:innen sehr gut darin, diesen Moment zu nutzen. Die Situation ist nicht ganz neu. Sie besteht schon seit mehr als einem Jahr und wird wahrscheinlich auch in absehbarer Zukunft anhalten. Es hängt natürlich von der Zeit, dem Ort und dem Sektor ab. Aber dies könnte die beste Gelegenheit für die Arbeitenden sein, ihre Arbeitgeber auf diese wichtige Weise unter Druck zu setzen – wegen der niedrigen Arbeitslosigkeit. Eine derart niedrige Arbeitslosenquote haben wir in den letzten Jahren nicht erlebt. Im Hinblick auf historische Vergleiche, es handelt sich momentan um niedrige Arbeitslosigkeit und hohe Inflation, aber auch um sehr hohe Gewinnspannen für viele verschiedene Unternehmen in allen Sektoren. Ich denke, in den USA, wo so viele Arbeiter:innen nicht als erstes an Gewerkschaften denken, handeln sie individuell. Sie sehen sich nach anderen Arbeitsplätzen um, sie finden einen anderen Job, sie kündigen ihren derzeitigen Job oder sie kündigen in dem Wissen, dass sie relativ leicht einen anderen Job finden können.

Ich sollte auch anmerken, dass es in den USA in den Niedriglohnsektoren von dem Bundesstaat abhängt, in dem man lebt, weil es einen Mindestlohn gibt. Aber der Mindestlohn liegt seit 2009 bei 7,25 Dollar, was schockierend ist. Es bedarf eines Bundesgesetzes, um den Mindestlohn anzuheben. Er ist nicht an die Inflation oder die Lebenshaltungskosten gekoppelt, wie es in einigen Branchen und Staaten der Fall ist. In den USA gibt es auf der Ebene der Bundesstaaten und in einigen Städten, die liberaler sind, Gesetze zur Erhöhung des Mindestlohns. In einigen Städten und Bundesstaaten kann der Mindestlohn beispielsweise 12, 13 oder 14 Dollar pro Stunde betragen.

Die Gewerkschaften waren sehr wichtig, um Staaten und Städte dazu zu bewegen, dies zu tun. Dies ist ein Beispiel dafür, wie die Gewerkschaften Arbeitenden helfen, die im Allgemeinen nicht gewerkschaftlich organisiert sind, denn die meisten Gewerkschaftsmitglieder erhalten einen Lohn, der über dem Mindestlohn liegt oder ihn sogar übertrifft. Aber Gewerkschaftsvorsitzende sind nicht immer dumm! Also tun sie manchmal Dinge, die zum Wohle anderer sind, aber auch den Gewerkschaften zugute kommen, denn wenn man nur Niedriglohnarbeiter:innen um sich herum hat, haben die Arbeitgeber einen Anreiz zu versuchen, im Wesentlichen auf nicht gewerkschaftlich organisierte schlecht bezahlte Kolleg:innen auszuweichen. Der von den Gewerkschaften finanzierte „Fight for 15“, wie er in den USA genannt wird, ist ein Beispiel für eine erfolgreiche Kampagne, von der viele Leute, wie ich glaube, nicht einmal wissen, dass sie in liberalen Staaten und liberalen Städten wie L.A., New York oder Chicago oft von den Gewerkschaften finanziert und organisiert wurde. Und so kann es Arbeitende in Missouri geben, die acht Dollar pro Stunde verdienen. Aber in Illinois verdienen die Arbeitende in der Stadt Chicago jetzt mindestens 12 Dollar pro Stunde und mehr. Statistiken zeigen, dass es in den Vereinigten Staaten keine Stadt gibt, in der man es sich leisten kann zu leben, wenn man Vollzeit für einen Mindestlohn arbeitet. Das bedeutet, dass Sie möglicherweise immer noch 50 % Ihres Verdienstes für die Miete ausgeben müssen, wobei 25 % als Obergrenze für ein angemessenes Leben gelten. Aber die Wohnkosten sind, wie in vielen Städten der Welt, dramatisch angestiegen. Ein höherer Prozentsatz des Einkommens wird für das Wohnen aufgewendet. Es ist eine Kombination aus Löhnen und anderen Kosten.

  1. Wir wollen noch einen Aspekt hinzufügen, der sich mit dem zu Inflation und Arbeitskräftemangel überschneidet, nämlich der der Überarbeitung während der Corona-Zeit. Die Arbeitenden wurden oft übermäßig eingesetzt, wie du das bereits für die Lokführer:innen erläutert hast. Spielt das auch eine Rolle bei Arbeitenden in anderen Sektoren, die sagen, „wir haben genug“?

P.C.: Ja, das ist real. Natürlich ist das überall auf der Welt der Fall. Ich glaube nicht, dass wir das im Sommer 2022 in den USA als Teil der Erzählung sehen. Aber es kommt darauf an. Lehrkräfte zum Beispiel, die sich ab März 2020 wirklich damit auseinandersetzen mussten, Lehrer:innen auf allen Ebenen, aber vor allem vom Kindergarten bis zur 12ten Klasse, was wir die öffentliche Schule nennen. Sie wurden in vielerlei Hinsicht unter Druck gesetzt. Viele Schulbezirke sind nicht in der Lage, den Online-Unterricht wirklich zu unterstützen. Natürlich leiden viele Schüler:innen und Familien darunter. Aber aus der Sicht der Arbeitenden ist es unglaublich schwer, denn sie bekommen oft nur sehr wenig Unterstützung und haben keine Ausbildung in diesen Bereichen. Natürlich haben viele Schüler:innen nicht einmal die Mittel, um effektiv online zu lernen. Aber dann kam das Schuljahr 20/20, 20/21, dann das Schuljahr 21/22. In den USA beginnt die Schule Ende August, Anfang September wieder, und es gibt bereits eine Menge Berichte über den Lehrerkräftemangel. Viele Lehrer:innen haben einfach gekündigt.

Der Bildungssektor ist einer der am stärksten gewerkschaftlich organisierten Sektoren in den USA, was vielen Lehrer:innen zugute kommt. Aber viele wollen einfach nicht mehr dort arbeiten. Im Allgemeinen werden sie für ihr Bildungsniveau nicht sehr gut bezahlt. Viele haben nicht nur einen Master-Abschluss, sondern werden von vielen Corona-Skeptikern oder Trumpisten für die Probleme der Online-Ausbildung verantwortlich gemacht. Die Sympathie für Lehrende und andere Schulangestellte ist vielerorts deprimierend gering. Es gibt seit einigen Jahren einen großen Mangel an Schulbusfahrer:innen. Oft handelt es sich um Teilzeitarbeit, die nicht unbedingt gut bezahlt wird. Aber wie in den USA, wo der öffentliche Personennahverkehr sehr schwach ist, sind vielerorts die einzigen Busse, die die Menschen überhaupt benutzen, Kinder, die mit dem Bus zur Schule fahren. Schulbusse sind privatisiert oder ausgelagert worden. Früher gehörten die Angestellten zu den Schulbezirken, aber jetzt gibt es Unternehmen, die im Grunde Verträge mit den Schulbezirken abschließen. Und so ist es in vielen Bereichen und in vielen Ländern. Der Sommer ist noch nicht vorbei, aber es wird bereits vorhergesagt, dass dies ein weiteres hartes Jahr für die öffentlichen Schulen, für die Kinder wie für die Lehrkräfte werden wird. Hinzu kommen in den USA, anders als in Deutschland und Europa, die Schießereien an den Schulen, die furchtbar sind. Das ist ein ganz anderes Thema, das ist ein Thema am Arbeitsplatz. Mehrere Lehrer:innen wurden im Süden von Texas getötet, während Hunderte von Polizeibeamte vor der Schule standen und auf irgendetwas warteten. Wer weiß, worauf? Währenddessen haben die Lehrer:innen die Kinder beschützt und wurden dabei erschossen. Ich meine, es gibt so viele verschiedene Möglichkeiten, wie Lehrkräfte betroffen sein können, darunter natürlich auch die Ansteckung mit Corona durch die Schüler:innen. Durch die Maskenpflicht und die Impfpflicht, die in den USA vielerorts umstritten ist, ist es nicht einfach, Lehrer:in zu sein. Noch schlimmer ist es, wenn man nicht sehr gut bezahlt wird oder sogar angegriffen wird. Einige Leute haben Lehrer:innen und Bibliothekar:innen angegriffen, weil sie gegen Rassismus sind. Solche Eltern sagen zum Beispiel ‚wir wollen nicht, dass unsere Kinder etwas über Sklaverei lernen. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder im Unterricht mit dem Völkermord an den Indigenen konfrontiert werden!‘ Es gibt so viele verschiedene Arten, wie Lehrer:innen unter Druck gesetzt werden. Ich arbeite an einer Universität, die ursprünglich gegründet wurde, um Lehrkräfte auszubilden. Und sie bildet noch immer viele zukünftige Lehrer:innen aus, darunter auch einige, die zukünftige Geschichtslehrer:innen sind. Dies ist ein Problem, das in den gesamten USA für mehrere Millionen Menschen, die als Lehrkräfte arbeiten, sehr real ist, was jede Gemeinde und oft auch jede Familie betrifft. Es ist eines, das vielleicht sogar eine übergroße Bedeutung hat, aber auch die komplizierten Probleme offenbart. Ob es um Corona, Schulschießerei, Rassismus oder Inflation geht, das alles kommt zusammen, wenn es um Lehrpersonal an öffentlichen Schulen geht, die von vornherein nicht ausreichend bezahlt wurden.

  1. Du recherchierst historische Arbeiterkämpfe in den USA, insbesondere in Bezug auf die Gewerkschaften, die Rassismus, Sexismus, Transphobie usw. bekämpfen. Wie werden Kämpfe gegen andere Formen von Unterdrückung in der aktuellen Organisierungs-Bewegung sichtbar?

P.C.: Wenn wir ins Jahr 2016 zurückgehen, hat die erste Präsidentschaftskampagne von Bernie Sanders viele Menschen begeistert, vor allem junge Menschen, obwohl er schon sehr alt ist. Er kandidierte 2020 erneut und hatte eine ähnliche Energie, vor allem bei jüngeren Menschen, die in Bernie Sanders im Grunde jemanden sahen, der sich für Prinzipien einsetzte und kein Heuchler zu sein schien, wie es so viele Politiker:innen und Führungspersönlichkeiten sein können. Natürlich sind wir alle auf irgendeiner Ebene Heuchler, aber es ist besonders ärgerlich, wenn Menschen, die behaupten, uns zu vertreten, das eine sagen, aber dann das andere tun. Bernie Sanders hat eine lange Geschichte des Engagements für die Kämpfe der Arbeitenden und die Gleichberechtigung auf verschiedene Weise. Darüber hinaus löste die Ermordung von George Floyd und Breonna Taylor und anderen im Jahr 2020 diese riesige Protestwelle nicht nur in den USA, sondern weltweit aus, es waren die zahlenmäßig größten Proteste gegen Rassismus in der Geschichte der USA, und es waren unverhältnismäßig viele junge Menschen auf der Straße. Interessant ist auch, dass, obwohl sie oft von Schwarzen angeführt wurden, die Beteiligung sehr multirassisch war. Anders als bei der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren, die zwar von Schwarzen angeführt wurde, aber auch weitgehend von Schwarzen bevölkert war. Ich denke, ein Unterschied zwischen den George-Floyd-Protesten und dem Bürgerrechtsaktivismus der sechziger Jahre besteht darin, dass es mehr weiße Verbündete gibt, aber auch in der Diversifizierung der USA – viele asiatische Amerikaner:innen, viele mexikanische Amerikaner:innen und andere waren beteiligt.

Arbeiter:innen in diesen Branchen, von denen viele von den aufkommenden politischen Herausforderungen an das System, der Bernie-Kampagne, inspiriert sind, und die von antirassistischem Aktivismus gegen Polizeibrutalität betroffen sind und sich vielleicht daran beteiligen. Diese Themen sind in den Köpfen und, wie ich glaube, auch im Leben vieler Menschen verankert und tragen zu dem bei, was jetzt geschieht. Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil beispielsweise Unternehmen wie Starbucks oft als fortschrittlich betrachtet werden, und weil es die Leute einstellt, die es einstellt. Jüngere Mitarbeiter:innen werden schlechter bezahlt. Aber die Belegschaft ist sehr vielfältig, was die ethnische Zugehörigkeit, aber auch die Sexualität betrifft. Es ist sehr bekannt, dass viele Starbucks-Mitarbeitende, eine unverhältnismäßig große Zahl, schwul, LGBTQ usw. sind. Außerdem wird das Unternehmen oft als sehr schwulenfreundlich angesehen. Starbucks hat also eine sehr vielfältige Belegschaft, eine junge Belegschaft, eine Belegschaft, die wie Lehrer von Corona unter Druck gesetzt wurde, aber nicht einmal für eine edle Sache wie die Unterrichtung der zukünftigen Generationen, sondern eigentlich nur, damit jemand eine Tasse Kaffee bekommt.

In den USA im Jahr 2022 organisieren sich Branchen, in denen es traditionell keine Gewerkschaften gab, aber wo auch viele jüngere Menschen arbeiten, die eine Hochschulausbildung haben. Sie arbeiten im Einzelhandel, in Niedriglohnjobs, weil das die einzigen verfügbaren Arbeitsplätze sind. Es gibt Menschen mit Hochschulbildung, die nicht traditionell aus der Arbeiterklasse kommen und in Niedriglohnjobs arbeiten, die von einer Art Antirassismus angetrieben werden, die sich aber auch gegen Homophobie, Transphobie und Fremdenfeindlichkeit wehren und die plötzlich in den Gewerkschaften einen Ort sehen, an dem sie sich organisieren können, nicht nur in anderen sozialen Bewegungen. In den USA haben einige Menschen, vor allem junge Leute, keine Erfahrung mit Gewerkschaften. Sie kennen niemanden in der Gewerkschaft. Das war früher nicht der Fall, aber jetzt ist es der Fall, weil der gewerkschaftliche Organisationsgrad einfach geringer ist. Sie sehen die Gewerkschaften oft als ein Problem an. Das geht auf die 1960er Jahre zurück, als die AFL-CIO den Vietnamkrieg unterstützte, obwohl viele junge Leute dagegen waren. Aber auch, dass für manche Menschen die erste Gewerkschaft, die ihnen in den Sinn kommt, die Polizeigewerkschaft ist.

Diese Starbucks-Beschäftigten, aber auch Beschäftigte in anderen Einzelhandelsbranchen, sehen die Gewerkschaften jetzt als positive Kraft. Statistiken besagen, dass im Moment vielleicht sieben von zehn Amerikaner:innen eine positive Einstellung zu Gewerkschaften haben. Das wären vor einigen Jahren noch fünf von zehn gewesen. Diese Entwicklung wird vor allem von der jungen Generation, der Generation Z, vorangetrieben, den Millennials, der Generation X, Leuten aus den Achtzigern und Neunzigern. Meine Generation hat es nicht geschafft, das Ausbluten der Arbeit zu stoppen. Diese Generation scheint eine viel positivere Sicht auf die Gewerkschaften zu haben, aber auch tatsächlich Gewerkschaften zu organisieren, das ist für diejenigen von uns, die für die Gewerkschaften sind, ein positives Zeichen. Sie bringen ihre Kritik an Ungleichheit, sei es Rassismus oder Homophobie, mit, die immer mehr in den Mittelpunkt der Gewerkschaftsarbeit rückt. Das letzte Thema könnte das Urteil des Obersten Gerichtshofs gegen das Recht auf Abtreibung und Roe v Wade sein, das in diesem Fall gekippt wurde. Dies ist ein weiteres Beispiel. Wie werden die Gewerkschaften auf einen Angriff auf die Frauen, aber auch auf die Arbeiter:innen reagieren? Denn wenn sie, sagen wir, in New York arbeiten, ist alles in Ordnung. Aber was ist, wenn man arbeitet und eine Frau ist und in Texas lebt? Dort hat man kein Recht mehr auf eine Abtreibung. Ist das eine Frage des Arbeitsplatzes? Das sollte es sein. Eine Gewerkschaft sollte die Rechte der Arbeiter:innen verteidigen. Es kann sein, dass jemand für dasselbe Unternehmen in zwei verschiedenen Staaten arbeitet und unterschiedliche Schutzbestimmungen hat. Ich glaube also, dass es vor allem bei den jüngeren Generationen ein Bestreben gibt, diese verschiedenen Kämpfe in den Gewerkschaften miteinander zu verbinden. Das ist ungewöhnlich und irgendwie neu.

  1. Was sind die Herausforderungen für diese Bewegungen im Moment? Was könnten die Hindernisse oder Probleme sein?

P.C.: Nun, eines ist, dass das US-Arbeitsrecht sehr arbeiterfeindlich ist. Es ist tatsächlich sehr schwer, Gewerkschaften zu organisieren. Für Arbeitgeber ist es sehr einfach, gegen das Gesetz zu verstoßen, ohne jemals bestraft zu werden. Das Arbeitsministerium und das National Labor Relations Board verfügen nicht einmal über genügend Personal. Unter der Trump-Administration blieben beispielsweise viele offene Stellen unbesetzt. Und jetzt gibt es diese Welle der gewerkschaftlichen Organisierung. Und es gibt buchstäblich nicht genug Beschäftigte, um die Wahlen zu leiten, aber auch, um all den Klagen über Gesetzesverstöße der Arbeitgeber nachzugehen, die in mindestens 15 bis 20 Prozent der Gewerkschaftskampagnen vorkommen. In den Vereinigten Staaten verstoßen die Arbeitgeber regelmäßig gegen das Gesetz. Sie entlassen Beschäftigte, was bei der Organisierung von Gewerkschaften oder Streiks illegal ist. Außerdem schüchtern sie die Beschäftigten ein, indem sie ihnen mit Entlassung oder Verlegung des Standorts drohen. Starbucks hat in der Tat Geschäfte geschlossen, die ihm gehören und in denen sich Gewerkschaften organisiert haben, was illegal ist. Aber es ist nur dann illegal, wenn die Regierung die Unternehmen bestraft und sie ihre Praktiken ändern. Aber nicht wenn die Geldstrafen so niedrig sind, dass es für den Arbeitgeber billiger ist, die Geldstrafe zu zahlen. Es gibt diese große Herausforderung, die der Tatsache vorausgeht, dass das Gesetz in den USA sehr gegen die Organisierung von Arbeitenden eingestellt ist. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Gewerkschaften zurückgegangen sind. Die Unternehmen versuchen daher ganz unverhohlen und unverfroren, die gewerkschaftliche Organisierung zu verhindern. Das Nationale Arbeitsbeziehungsgesetz, mit dem die Gewerkschaften 1935 anerkannt wurden, besagt, dass die Regierung eine aktive Verpflichtung hat, die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiter:innen zu schützen und zu unterstützen. Aber der Eigentümer oder der Chef von Starbucks und der Gründer sagen offen, dass sie gewerkschaftsfeindlich sind. Das ist eigentlich illegal. Was der Starbucks CEO Howard Schultz eigentlich sagen müsste, ist, dass die Arbeiter:innen das Recht haben, sich an ihrem Arbeitsplatz gewerkschaftlich zu organisieren. Aber wie in vielen anderen Sektoren sind die Rechten schon so lange ermutigt worden, dass sie damit durchkommen, ständig gegen das Gesetz zu verstoßen, auch unter den Arbeiter:innen selbst. Viele Arbeiter:innen haben keine Erfahrung mit Gewerkschaften und sind mit ihnen nicht vertraut. Das ist also ein Hindernis.

Die Gewerkschaften selbst sind nach wie vor gespalten. Das ist ein weiteres Hindernis. Der AFL-CIO hat beispielsweise kürzlich seinen Kongress abgehalten und angekündigt, dass er in den nächsten fünf Jahren eine Million Arbeiter:innen organisieren will. Aber wenn man das Wachstum der Bevölkerung und der Arbeitskräfte berücksichtigt, bedeutet das keinen Wachstum. Was den gewerkschaftlichen Organisationsgrad anbelangt, so könnten sie damit werben oder ankündigen, dass sie fünf oder zehn Millionen Beschäftigte organisieren werden. Mit anderen Worten, die Ziele des führenden Gewerkschaftsverbands in den USA sind unglaublich bescheiden. Und der Geldbetrag, den sie für die Organisierung neuer Arbeiter:innen aufwenden, ist im Verhältnis zu den Mitteln, die der AFL-CIO hat, gering. Sie sitzen auf einer Menge Geld und sind sehr konservativ, was die Verwendung der Gelder der Gewerkschaftsmitglieder angeht. Was sie tun könnten, wie es Mitte der 1930er Jahre gemacht wurde, ist im Wesentlichen eine höhere Anzahl von neuen Gewerkschaften. Die Organisator:innen stellen 100.000 neue Gewerkschaftsorganizer ein und setzen sie in den Betrieben ein, um mehr zu organisieren. Das wäre eine kühne Strategie. Aber die meisten US-Gewerkschaften in der Vergangenheit und heute sind nicht mutig. Das ist einer der Gründe für den Niedergang der Gewerkschaften. Das gilt nicht nur für die USA, aber es ist real und ein großes Hindernis.

Der letzte Faktor könnte sein, dass Amerika sehr gespalten ist, nach Ethnie, nach Politik, nach Geschlecht, nach Alter. Amerika ist sehr vielfältig. Das kann eine Stärke sein, aber viele Menschen sehen die Vielfalt nicht als Stärke, sondern als Quelle der Spaltung. Die Gewerkschaften haben in der Vergangenheit recht gute Arbeit bei der Überwindung dieser Spaltungen geleistet, aber das ist nicht selbstverständlich. Eines meiner Forschungsprojekte befasst sich mit Gewerkschaften in den USA, die offen oder unverhohlen antirassistisch und antisexistisch sind. Mehr Gewerkschaften sollten sich darum bemühen, dies zu tun. Ich denke, dass einige Gewerkschaften eine gute Erfolgsbilanz vorweisen können, aber viele Gewerkschaften könnten es noch viel besser machen, auch wenn sie besser sind als die meisten anderen Institutionen in den USA, sind sie immer noch vorsichtiger. All diese Faktoren werden dazu beitragen, auf der Makroebene zu bestimmen, wie die gewerkschaftliche Organisierung in den USA in den Jahren 2022 und 2023 aussehen wird, denke ich.

  1. Was sind die internen Strategien der Arbeiter:innen? Und wie kommen sie zu einer Entscheidung? Gibt es bestimmte unabhängige Gewerkschaften? Gibt es einen anderen Weg, demokratische Entscheidungen zu treffen? Gibt es einen Wandel in den Traditionen, wie sich Arbeiter organisieren?

P.C.: Ich denke, es gibt eine Reihe von Diskussionen in verschiedenen Gewerkschaften und verschiedenen politischen Organisationen, die den Gewerkschaften nahestehen oder sehr gewerkschaftsfreundlich sind. Ich meine, wir sehen das in der Starbucks-Kampagne, aber in einigen anderen Fällen treffen viele Arbeiter:innen, die diese gewerkschaftlichen Bemühungen anführen, im Grunde Entscheidungen außerhalb der Gewerkschaftsstrukturen. Sie wollen sich gewerkschaftlich organisieren und hoffen auf die Unterstützung der Gewerkschaften. Letztendlich brauchen sie eine gewisse gewerkschaftliche Unterstützung, aber sie fangen damit an, es alleine zu machen und beginnen dann, sich gegenseitig zu organisieren. Ein verwandtes Thema ist die Diskussion über das „Salting“, bei dem Beschäftigte einem Betrieb beitreten, um zu versuchen, ihn gewerkschaftlich zu organisieren. In der erfolgreichen Kampagne der Amazon-Gewerkschaft im Lagerhaus in Staten Island und in einigen Starbucks-Läden sehen wir Anzeichen dafür, dass erfolgreiche Gewerkschaftswahlen zustande kommen, zum Teil weil die Beschäftigten sagen: „Ich werde hier arbeiten und mich gewerkschaftlich organisieren“. Die Tatsache, dass es all diese Gespräche darüber gibt, bedeutet, dass es für jeden dokumentierten Fall wahrscheinlich zehn nicht dokumentierte Fälle gibt. Und so werden wir wahrscheinlich noch mehr davon sehen. Und ich habe das Gefühl, dass die Menschen zwischen Klimawandel, Trumpismus, Corona und Inflation in vielerlei Hinsicht unter Druck gesetzt werden. Ich denke, das führt dazu, dass einige Leute, die keineswegs die Mehrheit sind, aber eine „militante Minderheit“ wächst. Und dieser Begriff wird im Englischen auf verschiedene Weise verwendet, um zu beschreiben, wie man sich gewerkschaftlich organisiert, aber er könnte auch auf andere soziale Bewegungen zutreffen. Die meisten Menschen sitzen am Rande und sind vielleicht gewerkschaftsfreundlich, aber sie sind nervös oder unsicher. Was man aber braucht, sind Aktivist:innen, die den Stein ins Rollen bringen. Und davon sehen wir immer mehr. Und ich denke, wir brauchen mehr davon, denn viele junge Menschen sehen im Grunde keine rosige Zukunft. Sie sind eher bereit, Risiken einzugehen, und das könnte für sie und den Rest von uns von Vorteil sein. Wenn das so weitergeht und zunimmt.

Das National Labor Relations Board ist im Gegensatz zu den letzten Jahrzehnten ein Verbündeter neuer gewerkschaftlicher Organisierung. Die Behörde ist überlastet und unterbesetzt, aber sie übt im Allgemeinen scharfe Kritik an Verstößen von Arbeitgebern. Der führende Anwalt der Nationalen Arbeitsbeziehungsbehörde kritisiert offen Unternehmen wegen Arbeitsverstößen und fordert den Kongress auf, mehr Personal einzustellen. Das ist sehr interessant und in gewisser Weise auch neu.

  1. Was kann die europäische oder speziell die deutsche Gewerkschaftsbewegung von den aktuellen Veränderungen in den USA lernen?

P.C.: Nun, ich meine, die Frage geht natürlich in beide Richtungen, vor allem wenn man bedenkt, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Deutschland viel höher ist als in den USA. Und trotz aller Unzulänglichkeiten in Deutschland blicken viele US-Bürger:innen in gewisser Weise neidisch auf Deutschland. Zum Beispiel ein besseres Gesundheitssystem zu einem günstigeren Preis, eine drastisch billigere Universitätsausbildung. Es gibt Möglichkeiten, von denen die Deutschen lernen können, wenn ich hier in Deutschland bin. Es gibt eine Reihe von Dingen, von denen ich mir wünsche, dass sie in den Vereinigten Staaten mehr wie in Deutschland aussehen könnten. Aber was könnten die Deutschen von den USA lernen? Nun, ich denke, dass Amerika ein sehr vielfältiges Land ist. Deutschland wird immer vielfältiger, aber die USA sind diverser in Bezug auf Ethnizität, Race und Nationalität. So sehr ich Berlin auch liebe, aber es ist doch ein sehr weißer Ort. Aber wenn ihr in eine amerikanische Stadt kommt, werdet ihr eine ganz andere Bevölkerungsstruktur vorfinden. Das bedeutet, dass die amerikanischen Gewerkschaften antirassistisch, antifremdenfeindlich und antisexistisch sein müssen. Andernfalls wird es einfach unmöglich sein, sich zu organisieren. Das sind keine neuen Lektionen. Als die Industrial Workers of the World 1905 gegründet wurden und sagten, wir organisieren alle Arbeitenden, unabhängig von der Art des Arbeitsplatzes, der Hautfarbe, der Nationalität dieser Person, das war radikal! Traurigerweise wird es immer noch als radikal angesehen, aber es ist notwendig. Die Sozialist:innen haben das verstanden, aber 150 Jahre lang haben sie es in der Praxis oft nicht getan. Ich denke, die besten Teile der amerikanischen Arbeiter:innenbewegung sind wirklich fortschrittlich, wenn es um diese Fragen geht, indem sie Arbeiter:innen unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrer Nationalität oder ihrem legalen Status in den USA organisieren, wo es viele so genannte undokumentierte Arbeiter:innen gibt. Und ich denke, das ist etwas, was die deutschen Arbeitenden lernen könnten: Ihr müsst an vorderster Front in diesen anderen Kämpfen stehen. Ich weiß, dass der Begriff „intersektionell“ überstrapaziert und oft missverstanden wird, aber das war einer der Gründe für den Erfolg der Amazon Labor Union in Staten Island und dieser einen Kampagne, an der Afroamerikaner:innen, latino, afrikanische und arabische Einwander:innen beteiligt waren. Es ist eine sehr vielfältige Belegschaft. Die Amazon Labor Union hat sich nicht in einer der großen Gewerkschaften organisiert. Es handelt sich um eine unabhängige Gewerkschaft nach dem Vorbild der IWW. Die Logistikgewerkschaften haben jahrelang über eine Organisierung von Amazon gesprochen und sind gescheitert. Sie haben es gar nicht so sehr versucht. Jetzt reden sie wieder darüber. Es ist noch nicht klar, ob die Teamsters es wirklich ernst meinen, obwohl die Teamsters die Ressourcen haben, um Amazon anzugreifen. Ich glaube, sie haben Angst. Was haben also die militanten Arbeiter:innen gemacht? Sie haben es selbst getan, von unten. Aber das ist immer noch ein einziger Betrieb, wenn auch mit 8500 Beschäftigten. Aber angeblich wollen viele andere Amazon-Arbeiter:innen auch aktiv werden. Das ist auch eine interessante Kampagne, die man beobachten kann. Das ist der Grund, warum so viel Aufmerksamkeit darauf verwendet wird. Das wären also vielleicht einige Dinge, die deutsche Arbeiter:innen über die neuesten US-Organisationsmaßnahmen am Arbeitsplatz beachten könnten.

Wir danken!

*) Peter Cole ist Historiker mit Lehr- und Forschungsinteressen in der Geschichte der Vereinigten Staaten und Südafrikas. Er veröffentlichte kürzlich Ben Fletcher: The Life & Writings of a Black Wobbly (PM Press, 2021) und Dockworker Power: Race & Activism in Durban and the San Francisco Bay Area (University of Illinois Press, 2018).

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