Du bist „systemrelevant“, wenn Dein Lohn nicht steigt, aber Dein Streik – mal wieder – verboten werden soll – weltweiter Überblick
Dossier
„Der Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Rainer Dulger, hatte sich am Mittwoch abend vor Pressevertretern in Berlin weit vorgewagt. Und Gedankenspiele angestrengt – dieses etwa: Vielleicht brauche man in der Energiekrise hierzulande einen »nationalen Notstand«. Warum? Arbeitskämpfe wie Streiks ließen sich damit besser brechen. Er sei aber auf keinen Fall dafür, das Streikrecht einzuschränken. Eine Relativierung, die wenig glaubhaft klingt…“ So beginnt der Artikel von Oliver Rast in der jungen Welt vom 02.07.2022 („Affront mit Kalkül“), einer von vielen zum Vorstoß anläßlich des Warnstreiks bei der Abfertigung von Container- und Frachtschiffen, worin auch der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke zitiert wird, der Dulger unterstellt, offenbar träume dieser davon, »dass es einen autoritären Staat gibt, der Arbeitnehmerrechte niederknüppelt«… Als Vertreter seiner Klasse muss er aber nicht nur davon träumen, sondern auch die Grenzen dahin verschieben – wie er es in seiner Firma ProMinent übt). Die erstaunte Aufregung hat uns zu einem Dossier angeregt, in dem die neuesten Angriffe lediglich den aktuelle Anlaß liefern für eine Rückschau im nun 25jährigen Fundus des LabourNet Germany, um aufzuzeigen, wie alt und weltweit verbreitet sie sind… Siehe den Überblick der Angriffe in Deutschland und in fast allen Ländern der Welt, aber auch Beispiele der Gegenwehr:
- Das Streikrecht ist weltweit einer neuen Welle von Angriffen ausgesetzt – braucht es einen Weltgeneralstreik?
„Das Streikrecht ist ein wesentlicher Bestandteil der Vereinigungsfreiheit. Es ist zwar das letzte Mittel, aber ohne es haben Arbeitende und Gewerkschaften nicht die Macht, ihre Positionen gegen die wirtschaftliche und politische Macht der Arbeitgeber zu verteidigen. Das Streikrecht wird in vielen Ländern angegriffen und die Gewerkschaften wehren sich dagegen. Im Jahr 2015 stellten die Internationale Arbeitsorganisation (IAO), Arbeitgeberverbände und einige Regierungen das IAO-Übereinkommen 87 über die Vereinigungsfreiheit in Frage, das von 153 Ländern ratifiziert wurde und das Streikrecht hochhält. Gewerkschaften auf der ganzen Welt protestierten, um dieses Grundrecht zu schützen. Trotz dieses Übereinkommens ist das Streikrecht immer noch auf der ganzen Welt bedroht.
In Großbritannien versucht die Regierung, Gesetze durchzusetzen, die Streiks für berechtigte Lohnforderungen einschränken, obwohl die Löhne der britischen Arbeitenden sinken. Die neue Anti-Streik-Gesetzgebung, die vom Premierminister der Konservativen Partei, Rishi Sunak, angeführt wird, soll ein Mindestmaß an Dienstleistungen während eines Streiks durchsetzen. Diese Gesetze werden in wichtigen öffentlichen Sektoren wie dem Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) und dem Bildungswesen durchgesetzt. Die Arbeitgeber in diesen Sektoren können die Gewerkschaften verklagen und Beschäftigte entlassen, wenn die Mindestanforderungen nicht erfüllt werden. Die britischen Gewerkschaften haben dieses neue Streikgesetz als einen Frontalangriff auf die Arbeitnehmerrechte und die Gewerkschaften bezeichnet. Die Gewerkschaften haben deutlich gemacht, dass sie die Beschäftigten trotz der neuen Regelungen der Regierung verteidigen werden.
In Simbabwe wurden die IAO-Übereinkommen 87 und 98 über das Vereinigungsrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen ratifiziert, doch die Regierung hat zwei Gesetze verabschiedet, die gegen diese Übereinkommen verstoßen. Eines der beiden verabschiedeten Gesetze, das Health Services Amendment Act, besagt, dass Streiks im öffentlichen Gesundheitssektor nicht länger als 72 Stunden dauern dürfen. Wenn sich die Gewerkschaften nicht daran halten, werden die Organisatoren zu einer Geldstrafe und drei Jahren Gefängnis verurteilt. Darüber hinaus wird das Gesetz zur Änderung des Strafrechts die Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung von Personen ermöglichen, die vorsätzlich die staatliche Souveränität und die nationalen Interessen Simbabwes verletzen. Die Gewerkschaften in Simbabwe fordern die Regierung auf, die Gesetze zu ändern oder aufzuheben.
In der Türkei nutzte ein Unternehmen einen Regierungserlass, der sich auf die „nationale Sicherheit“ bezog, als Strategie, um einen Streik einzuschränken. Beschäftigte und Gewerkschaften lehnten dies ab und erhielten schließlich eine Lohnerhöhung…“ Stellungnahme von IndustriAll vom 20. Februar 2023 („The right to strike protects workers“)
1. Angriffe auf das Streikrecht in Deutschland sind keine Besonderheit, schon gar nicht in Branchen kritischer Infrastruktur
- Forderung des BDA nach „Regulierung“ des Streikrechts bei der Tarifrunde öffentlicher Dienst 2023
- Aktuelle (erfolglose) Klagen der Uniklinik Bonn gegen den Notruf-Streik
- versuchter Streikverbot bei Vivantes, auch bei Vivantes-Töchtern während der Berliner Krankenhausbewegung 2021
- September 2021: Der GDL-Streik kommt passend: CDU-Mittelstandsvereinigung will allen wichtigen Berufen das Streikrecht rasieren
- BDSW will Schutz kritischer Infrastruktur durch Streikverbot für verschiedene Sektoren der Sicherheitsbranche (März 2021)
- Dossier zum Kampf um das Streikrecht bei Ryanair 2019
- Die juristische Auseinandersetzung um den Pilotenstreik bei der Lufthansa 2017 oder der FlugbegleiterInnen bei der Lufthansa 2016
- August 2016: Aktuelle Forderungen nach Einschränkung des Streikrechts: eine Entgegnung in empirischer Perspektive
- Februar 2016: Streikrecht: Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesverkehrsminister fordert Gesetzesverschärfungen
- Januar 2016: Arbeitgeber: Tarifeinheitsgesetz war der Auftakt – jetzt muss der Gesetzgeber das Arbeitskampfrecht „nachdrücklich regeln“ (BDA-Geschäftsbericht 2015)
- Juli 2015: Beschluss des Kabinetts: Bayern will Streikrecht [bei der Bahn] einschränken
- Dossier von 2015: GDL-Streik als Steilvorlage gegen das Streikrecht!?
- Januar 2015: Umkämpftes Streikrecht. Das repressive deutsche Streikrecht soll weiter eingeschränkt werden.
- Januar 2015: Es geht ums ganze Streikrecht. ILO-Konventionen unter Beschuss
- April 2014: Pilotenstreik bei der Lufthansa: CDU-Politiker will Streikrecht einschränken
- Dezember 2014: ifo: „Streiks im Nahverkehr haben einschneidende Folgen für die Allgemeinheit“ oder
- der Streik bei der Bahn 2014
- September 2012: Streikverbot für Vorfeldkontrolleure bei der Gewerkschaft der Flugsicherung (GDF) am Flughafen Frankfurt 2012
- September 2012: Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes – Dienstleistungsfreiheit steht über nationalen Arbeitnehmerrechten
- 2007: Rubrik im LabourNet-Archiv: Streikrechtdebatte am Beispiel des GDL-Bahn-Konfliktes 2007
- und darin z.B. Warum das gerichtliche Streikverbot gegen die Lokführer rechtswidrig ist. Ein Kommentar von Armin Kammrad vom 08.08.2007
Regelmässige Angriffe gab/gibt es in Deutschland bei den Piloten, Fluglotsen, Sicherheitsbeschäftigten am Flughafen sowie Sicherheitsgewerbe allgemein und im ÖPNV (mehrfach) oder BewacherInnen von kerntechnischen Anlagen (und z.B. bei Neupack Hamburg)…
2. International betrachtet sind Streikverbote eher die Regel als Ausnahme (nur Beispiele):
- Ägypten: Allianz gegen Gewerkschaftsgesetz 35/1976 gebildet (2012) und dann Grundsätzliches Streikverbot im öffentlichen Dienst (2015)
- Algerien: Neues Arbeitsgesetz: Adieu, Streikrecht? (2014)
- Australien: Streikverbot für Pflegekräfte (Februar 2022) und Eisenbahner (2018)
- Belgien: Kampagne zur Abschaffung des Streikrechts auch in Belgien eröffnet (2013) und Belgien ist in der EU, also: Vorstoß gegen Gewerkschaftsrechte (2014)
- Benin: Streikverbot im öffentlichen Dienst (2020) – Streikverbot für die Beschäftigten der Gesundheitsversorgung und des Justizwesens von 2017 wurde 2018 verfassungsgerichttlich gekippt
- Brasilien: Verbot des Streik der Ölarbeiter (2020) und auch bereits 2018 sowie der Busfahrer von Porto Alegre (2014)
- Dänemark: Streikverbot für Pflegekräfte (November 2021)
- Dubai: Premiere in Dubai: Arbeitsniederlegung von Deliveroo-Essensliefer:innen erfolgreich – mutiger Vorstoß gegen Streikverbot – jetzt auch bei Talabat (Delivery Hero) (Mai 2022)
- Frankreich: Kämpfe gegen Angriffe auf Streikrecht in 2014, Widerstand gegen das neue Arbeitsgesetz 2016 (Rubrik) oder Widerstand gegen Macrons „Loi travail 2“ 2017 (Rubrik) und 2020
- Georgien: Streikverbot für Metro-Fahrer in Tiflis (2018)
- Griechenland: Streikverbot bei Cosco (2018), Streikverbot für Müllwerker (2017) oder für LehrerInnen und Athener Metro und Busse – beide 2013 und da auch allgemein: So wird die EU streikfrei – wieder Notstandsdekret in Griechenland oder 2014: Troika will „die Macht der Gewerkschaften brechen“ – Aussperrungsverbot aufheben u.v.a., zuletzt: Griechische Kraftwerke sollen auch privatisiert werden, das Streikrecht auf Verlangen der EU eingeschränkt – beides ruft Widerstand hervor
- Großbritannien: Antigewerkschaftliche Offensive der britischen Regierung (2015), „Selbstverständlich“ gibt es in der britischen Demokratie das Streikrecht: Nur darf es nicht wahrgenommen werden. Beispielsweise bei der Royal Mail (2019), Streikverbot im Verkehrswesen (2020) – oder ganz aktuell: Kampf um Streikrecht in Großbritannien: RMT mobilisierte einen Bahnstreik zum 70. Thron-Jubiläum der Queen gegen geplante ‚Bahnreform‘ – Regierung will Streik einschränken und #RightToStrike: Britische Regierung feuert die Streikverbot-Streikwelle-Spirale an
- Indien: Wachsende Proteste gegen regelmässige Illegalisierung von Streiks in Indien (2013) und Streikverbot an Universitäten und höheren Schulen (2018)
- Italien: Notstandsregime gegen die Beschäftigten der Fluglinien inklusive Streikverbot (2021) und auch 2020: Der Ausnahmezustand in Italien: Notstandsregime gegen die Beschäftigten der Fluglinien inklusive Streikverbot; Gleich zwei Streiks von der italienischen Polizei angegriffen: Penny und Bormioli. Der jüngste Baustein in der EU weiten Offensive gegen das Streikrecht (2016), Streikverbot bei der Eisenbahn (2015) – begonnen mit der Monti-II-Verordnung 2012 – in der Rubrik Arbeitskämpfe in Italien finden sich viele Beispiele für Streikverbote im Verkehrswesen
- Iran sowieso, siehe die Gewerkschafts-Rubrik, auch im Archiv…
- Island: Die Streikbewegung in Island 2015 – für die Krankenschwestern beendet per Gesetz (2015)
- Jordanien: Streikverbot an öffentlichen Schulen (2019)
- Kanada: Sondergesetz gegen den Bauarbeiterstreik (2017) und Kanada droht streikenden Postmitarbeitern mit Zwang (2018)
- Kroatien: Streikverbot bei kroatischer Fluggesellschaft (2018)
- Litauen: Streikverbot während eines Notstands (März 2022)
- Marokko: Die marokkanische Regierung will ein neues Streikrecht. Warum sollte ausgerechnet sie die einzige weltweit sein, die damit mehr Rechte meint? (2016)
- Mexiko: CNTE – Die Opposition in der Lehrergewerkschaft Mexikos seit Mai 2016 im Kampf gegen Privatisierung – eine ganze Rubrik muss als Beispiel für viele Angriffe reichen…
- Myanmar: Die Gewerkschaften in Myanmar kämpfen während des Militärputsches für den Schutz der Arbeitnehmerrechte – auch durch internationale Konzerne
- Norwegen: Streikverbot: Norwegen stoppt Arbeitskampf bei Öl und Gas (2012)
- Philippinen: Kriegsrecht samt Streikverbot (2017)
- Portugal hat angesichts der Epidemie das Streikrecht „suspendiert“ (2020) und 2019 den Streik bei Ryanair und in den Krankenhäusern verboten
- Schweden : Bildet sich im Kampf zur Verteidigung des Streikrechts eine stärkere Gemeinsamkeit oppositioneller gewerkschaftlicher Strömungen in Schweden heraus? (2018)
- Serbien: In Serbien (wie in anderen Staaten der Region) sind die neuen Arbeitsgesetze so, wie sie die EU diktiert hat – der Widerstand nicht (2017)
- Südafrika: Einschränkung des Streikrechts (2018), Streikverbot beim Elektrounternehmen Eskom (2014) und ANC will Streikrecht für Lehrer einschränken (2013)
- Spanien: 21 Gewerkschaften aus mehreren Länder fordern Rajoy auf, das Streikrecht nicht anzutasten (2014), Erklärung zum Antistreik-Paragraphen im spanischen Strafgesetz (Juni 2015), Streikverbot und Zwangsschlichtung beim Streik der Gepäckkontrolleure am Flughafen Barcelona (2017) und 2015 international: Am 18. Februar für Streikrecht: In Spanien besonders nötig – unvergessen die Airbus 8
- Sri Lanka: Streikverbot auf Beschäftigte im Gesundheitswesen und anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes (Februar 2022), Verbot des Eisenbahner-Streiks 2017
- Südkorea: Südkoreanische Gewerkschaften nun in der Maikampagne gegen neue Arbeitsgesetze (2015) und Die Streikwelle in Südkorea geht weiter – Regierung will Streikverbote (Unternehmen erst recht) (2016)
- Türkei: Streikverbot in der Energiebranche (2021) oder in einer Fabrik der Soda Industry Corporation (2020) oder für Metallarbeiter (2020) – Verfassungsgericht der Türkei urteilt allerdings 2018: Das Streikverbot der AKP-Regierung gegen den Metallerstreik 2015 war verfassungswidrig; Streik in türkischer Mineralwasserfabrik wegen Bedrohung nationaler Sicherheit verboten (2018): Streikverbot für Glasarbeiter (2017) und auch bereits 2014 …
- Ungarn: Streikverbot unter dem Vorwand der COVID-19-Pandemie (2021) und Ziviler Ungehorsam für das Streikrecht in Ungarn: Lehrergewerkschaft verteidigt die Rechte ihrer Mitglieder – und nimmt ukrainische Flüchtlinge auf (2022) – nur um die neuesten zu nennen
- USA: Verbot des Streiks der LehrerInnen in Arizona (2018) und des Streiks bei Boeing (2017) – nur als Beispiele
Nochmals: Dies sind nur einige Beispiele, wir haben ja fast alle Länder der Welt unter Beobachtung – wie schlecht es weltweit um Gewerkschaftsrechte allgemein und das Steikrecht insbesondere steht, kann ganz aktuelle dem Globalen Rechtsindex des IGB 2022 entnommen werden: Die zehn schlimmsten Länder für erwerbstätige Menschen und insgesamt massive Zunahme von Gewalt und Angriffen…
3. Die „weichen“ Waffen unterhalb eines Streikverbots reichen oft genug aus…
Dabei hat das Kapital auch so einen Fächer von Mitteln um das aktuelle Streikrecht zu unterlaufen – siehe auch eine kleine Auswahl aus unseren Beiträgen über Angriffe auf das Streikrecht nach Branchen und Berufsgruppen und Keulen:
- Fluglotsen, ÖPNV, Lehrkräfte , Beamte sowieso wie auch Kirchen-Angestellte, aber auch Beamte als Streikbrecher , Gewerkschaftsbeschäftigte (!) und sogar gegen den Klimastreik oder den Frauenstreik
- aber auch die Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen das Verbot des Einsatzes von (Leiharbeitern als) Streikbrechern
- und ersatzweise Subunternehmen
- oder mit Streikbruchprämien und Schadensersatzzahlungen
- sowie nicht zuletzt die Zwangsschlichtung als Keule
- Nicht zu vergessen das Tarifeinheitsgesetz, dem wir eine ganze eigene Rubrik widmen
- besondere Empfehlung in diesem Zusammenhang: Das Streikrecht im Fadenkreuz von Kapital, Politik und Justiz – zum Beispiel beim Tarifeinheitsgesetz
- und das Dossier zur Initiative „Hände weg vom Streikrecht“
- Interessant auch: Der lange Hebel. Macht und Machtressourcen von Unternehmen und Arbeitgeberverbänden im Arbeitskampf (April 2022)
- Und die Hilfestellung: Wenn Lokführer oder Piloten streiken. In Streikzeiten tendieren die Medien zur Arbeitgeberseite, sagt eine Studie (vom April 2017)
4. Dagegen hilft nur das offensive Anwenden aus den Debatten über Umgehungsstrategien des restriktiven (deutschen) Streikrechts – die dringend fortgeführt werden müssen
Hierzu nur eine kleine und heterogene Auswahl aus dem Fundus, die Anregungen liefern könnte für eine dringende Fortsetzung einer aktuellen Debatte über – möglichst von der Rechtssprechung unabhängige – Strategien des Kampfes:
- Dossier von 2021/22: Mythos wilder Streik + Illegalität. Neue Debatte zum Grundrecht auf Streik am Bsp. Gorillas
- Care-Streik jetzt!? Chancen eines Streiks für bessere Bedingungen von unbezahlter Erziehungs- und Sorgearbeit (2021)
- [Buch] »Where have all the Rebels gone?« Perspektiven auf Klassenkampf und Gegenmacht (2020)
- Haben oder nicht haben. Gegenüber Arbeitsrechten besteht ein weltweites Rollback. Artikel von Helmut Weiss und Mag Wompel vom April 2018
- Sie könnten auch anders: Gewerkschaften reizen das restriktive deutsche Streikrecht nicht aus (März 2018)
- Neue Front für Streiks: Logistik. Kim Moody über moderne Möglichkeiten gewerkschaftlicher Organisierung (Februar 2018)
- Wie viel Macht haben Gewerkschaften noch? [Und werden sie es mal testen?] (2017)
- Dossier von 2016/2017: [Sickout am Beispiel TUI Fly] Krank oder Streik? Krankheit als Kampfmittel?
- Andere Streikformen gesucht: Arbeitskampf mit mehr Druck (Juni 2016)
- Buch: Ein Streik steht, wenn mensch ihn selber macht. Arbeitskämpfe nach dem Ende der großen Fabriken (Mai 2016)
- »Schutzschild« gegen Arbeitsniederlegungen. Wie können Beschäftigte in sozialen Berufen streiken? (Februar 2013)
- Partizipative Arbeitskämpfe, neue Streikformen, höhere Streikfähigkeit? (Februar 2013)
- Einen Generalstreik in Europa auch für Deutschland – ein zentrales Thema vor dem 14. November! (2012) und Kein Generalstreik ist auch keine Lösung. Wie sich die Bedeutung von Arbeitskämpfen global wandelt (2013)
- Hoch die internationale Wettbewerbsfähigkeit? Artikel von Mag Wompel (2013)
- Dossier zu den Konferenzen „Erneuerung durch Streik“ – nun „Aus unseren kämpfen lernen“
- aber auch: Soziale und ökologische Ziele zusammendenken – Auseinandersetzungen im Zeichen der Klimakrise: Arbeitskämpfe und Umweltaktivismus sind kein Widerspruch und Klimastreik am 20. September 2019 – ökologische Notwendigkeit und gewerkschaftliche Debatte (um das Streikrecht) (siehe dazu in den USA z.B.: Klimastreik-Beteiligung: Bei Amazon, Microsoft und Google machen das die Belegschaften selbst – und rufen andere auch zur Teilnahme auf)(alle 2019)
- Ausbruch aus der Normale – retour à la normale? Ein Gespräch über Unsagbares und Unsägliches bei Opel Bochum mit Manfred Strobel 2004
- und grundsätzlich unsere Rubrik Politischer Streik in Deutschland?
- sowie bereits im LabourNet-Archiv die Rubrik neue Kampfformen der Gewerkschaftsbewegung
- [Buch] Die neuen Streiks. Geschichte. Gegenwart. Zukunft.
- Artikel „Sabotage im Alltag! Plädoyer für antizyklische, aber alltägliche Blockade der Unternehmens- und Wirtschaftsziele“ von Mag Wompel in Graswurzelrevolution vom April 2009
- Vom Protest zur Revolte? Artikel von Mag Wompel 2006
- Streik in Zeiten von 1-Euro-Jobs. Kommentar von Mag Wompel von 2006 und vorerst zuletzt:
- streiks: wild und politisch oder wirkungslos wie ein lauer Herbst. Artikel von Mag Wompel in prager frühling vom Februar 2011 – leider nicht mehr verfügbar, daher hier:
Streiks: Wild und politisch oder wirkungslos wie ein lauer Herbst
Das Streikrecht stellte schon immer eine Machtfrage dar. In Zeiten des Klassenkampfes von oben durch abnehmenden Bedarf an menschlicher Arbeitskraft (also ungefähr seit zwanzig Jahren) konstatieren wir auch die abnehmende Bereitschaft des Kapitals – da auch minimale Notwendigkeit – zu Kompromissen fest. Anders ausgedrückt: Die Androhung von Streiks kann ein Kapital, das unter (selbst erzeugten) Überkapazitäten leidet, kaum schrecken, wodurch die Gewerkschaften entweder immer mehr Konzessionen machen müssen oder immer häufiger vor die Frage des Streiks gestellt werden.
Dies alles spielt sich vor dem Hintergrund einer extremen Verrechtlichung des Arbeitskampfrechts in Deutschland, quasi betonierter Klassenkompromiss. Die Akzeptanz des „Streiks als absolut letzten Mittels“ durch die Gewerkschaftsführungen – aus untertäniger Rechtstaatlichkeit, aber auch Wettbewerbskorporatismus heraus – führte dazu, dass Streiks in ihrer ritualisierten Form längst zu einer Parodie der Arbeiterbewegung verkommen sind. Während also die Lohnabhängigen angesichts der zunehmenden Lohnabhängigkeit die ganze Bäckerei fordern müssen/müssten, um auch nur einen Krümmel der Torte zu erhaschen und Schlimmstes zu verhindern, fordert die Wirtschaft aktuell gar ein Streikverbot.
Eigentlich unnötig, denn gerade liegt ein gemeinsamer Vorstoß für gesetzliche Regelung gegen Spartengewerkschaften von DGB und BDA vor, wobei diese Partnerschaft in Sachen Tarifeinheit eindeutig auch das ohnehin rudimentäre Streikrecht einschränken wird. Während das Kapital hierbei das Gespenst der britischen Verhältnisse mit permanenten Streiks von Spartengewerkschaften an die Wand der nationalen Wettbewerbsfähigkeit malt, sind die Gewerkschaftsapparate zum Schutz vor kleinerer und kämpferischerer Konkurrenz von Spartengewerkschaften (lt. Michael Sommer „Zersplitterung der Tariflandschaft mit negativen Auswirkungen für Beschäftigte und Unternehmen“) bereit, blutig erkämpfte Errungenschaft der Arbeiterbewegung aufzugeben. Nicht die Gewerkschaften, sondern das Kapital hat den Klassenkompromiss aufgekündigt!
Wer unter den Lohnabhängigen bereit ist, die nationale Wettbewerbsfähigkeit und notfalls auch den eigenen Arbeitsplatz zu gefährden, diskutiert seit längerem neue Formen des Arbeitskampfes: Wie „Französisch lernen“, wie mit Verängstigten kämpfen, wie die Solidarität der betroffenen Bevölkerung erhalten? Hierfür stehen einige neue „Guerillataktiken im Arbeitskampf“ zur Verfügung: Ausgedehnte Betriebsversammlungen, Flashmobs, Betriebsbesetzungen, Blockaden, Boykott, Nicht-Streik… Noch ist die freie Wahl der Kampfmittel von der Verfassung geschützt! Und es passiert tatsächlich mehr in der letzten Zeit – sogar Hungerstreiks, Geiselnahmen, Selbstverbrennungen – in der Krise greifen Lohnabhängige weltweit zu spektakulären und oft verzweifelten Mitteln. Doch eben erst aus Verzweiflung angesichts drohender Erwerbslosigkeit, oft gegen die Gewerkschaften oder trotz ihnen und wenn gewerkschaftlich initiiert, dann meist für Sozialpläne, nicht gegen die Betriebsschließung…
Es ist offensichtlich, dass legale Arbeitskampfmittel nur legal sind, weil sie nicht wirken. Dass Streiks außerhalb der Tarifrituale wirkungsvoll sein können und zudem sanktionsfrei bleiben hat z.B. die Bochumer Opelbelegschaft 2004 gezeigt. Doch hilft dies zwar gegen allzu kompromissbereite Betriebsräte oder Gewerkschaftsapparate, wenn sich eine Belegschaft eigenmächtig widersetzt, bleibt aber wirkungslos gegen ökonomisch bedingte Entlassungen und Betriebsschließungen. Denn hier geht es um den Kampf um Lebensbedingungen. Wenn Hartz-Gesetze und Privatisierungen der Lebensvorsorge nicht vorhandene Arbeitsplätze alternativlos machen – und die Gewerkschaftsbewegung erpressbar – müssen die Lohnabhängigen (mit oder auch ohne die Gewerkschaftsapparate) ihre sonst zersplitterten Kämpfe zu gesellschaftlichen, politischen machen.
Als erste DGB-Gewerkschaft hat immerhin die IG BAU das Kampfmittel des Politischen Streiks in ihrer Satzung aufgenommen, doch politische Streiks werden nicht bei der Regierung erbettelt, sie werden einfach geführt und zu politischen gemacht. Denn Schadensersatzforderungen des Kapitals und den Ängsten der Lohnabhängigen vor Hartz IV und Entwürdigung kann nur mit dem politischen Streik gegen die Hartzgesetze und ein humanes Grundeinkommen begegnet werden. Wild und politisch – oder gar nicht.
Artikel von Mag Wompel in prager frühling vom Februar 2011