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Armenjagd in der Schweiz: Verwaltet, schikaniert, ausgewiesen
Dossier
„Ob auf Postkarten oder in 1.-August-Reden: Die Schweiz wird gerne als Idyll dargestellt. Vielen geht es gut hier, und jährlich kürt ein Wirtschaftsmagazin mit goldenem Einband die 300 Reichsten. Doch auch in der Schweiz ist Armut weitverbreitet. 2019 waren über 700 000 Menschen von Armut betroffen, 1,3 Millionen gelten als armutsgefährdet. Die Armut passt nicht ins Bild der Schweiz, wohl auch deshalb wird sie verfolgt. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit findet eine Jagd auf die Armen statt. Wir beschreiben die erbarmungslosen Mechanismen und die ideologischen Konzepte dahinter. Und fragen, wie die Jagd gestoppt werden könnte. Die rechtliche Schlechterstellung von Migrant:innen führt auch dazu, dass sie leichter ausgebeutet werden können. Wir besuchen eine der vielen Betreuer:innen, die in Schweizer Haushalten kranke und alte Menschen pflegen. Das Alter selbst wiederum ist ein wichtiger Grund für Armut. Zum Schluss fragen wir deshalb, warum im Land der AHV viele Pensionierte nur Geld für das Allernötigste haben...“ Editorial zum Dossier in der WoZ vom 25.11.2021 , siehe zu dem, was sich in der Schweiz „Sozialpolitik“ nennt:
- Caritas warnt: Mehr Druck auf Working Poor – eine «sozialpolitische Zeitbombe»
„Die höheren Lebenshaltungskosten werden vor allem für Working Poor zur Belastung. Die Caritas spricht von einer sozialpolitischen Zeitbombe, die im nächsten Frühling zu explodieren droht. Zahle ich nun Rechnungen oder kaufe ich Lebensmittel – vor dieser Frage stehen immer mehr Menschen in der Schweiz, erzählt Lorenz Bertsch, Sozial- und Budgetberater bei Caritas. Vor allem Working Poor, die weder Anrecht auf Sozialhilfe noch Ergänzungsleistungen haben, geraten in Bedrängnis. «Wenn eine vierköpfige Familie jetzt schon von einem Lohn von 3700 Franken leben muss und nun die Kosten für Strom, Heizung, Lebensmittel und Krankenkassen steigen beziehungsweise Mehrkosten von 200 bis 300 Franken pro Monat verursachen, dann bleiben noch 250 Franken für Lebensmittel übrig, rechnet Lorenz Bertsch vor. «Das kann nicht aufgehen.» Schon jetzt ist die Nachfrage nach Beratungen bei der Caritas um 20 Prozent gestiegen. Viele davon sind Working Poor. Sie wüssten schlicht nicht mehr, wo sie noch sparen sollten. Denn schon jetzt drehen sie jeden Franken um. Extras, Ferien, Kino – das sind Dinge, die sich Working Poor sowieso nicht leisten können. (…) In der Schweiz lebten im Jahr 2020 gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) 722’000 von Armut betroffene Menschen. Etwa 1.3 Millionen galten als armutsgefährdet. Die Caritas geht etwa von 500’000 bis 600’000 Working-Poor-Betroffenen aus. Eine steigende Nachfrage registriert auch die Organisation «Essen für alle», die jeden Samstag gratis Lebensmittel an Bedürftige abgibt. Seit Mitte Oktober hätten sie noch mehr Zulauf, berichtet Amine Diare Conde, der das Hilfswerk gegründet hat. (…) Auch unter den Helfenden bei «Essen für Alle» sind Schweizerinnen und Schweizer, auch Working Poor. Sie sind hier, um zu helfen, aber sie sind auch froh darüber, dass sie abends nach ihrem Einsatz Lebensmittel mit nach Hause nehmen dürfen. (…) Auch die Caritas schaut mit sorgenvollem Blick nach vorne. Lorenz Bertsch rechnet damit, dass sich im nächsten Frühling die Situation noch einmal verschärft, wenn die Prämienrechnungen der Krankenkassen reinflattern. «Die sprengen das Budget endgültig», ist Bertsch überzeugt. Da ticke eine «sozialpolitische Zeitbombe», die dringend entschärft werden müsse. Als grossen Hebel sieht Bertsch eine Verbilligung der Krankenkassenprämien. Vor allem sei es an der Zeit, dass der Bund sich endlich um die Gruppe der Working Poor kümmere, eine Gruppe, die schlicht vernachlässigt werde, sagt er.“ Artikel von Andrea Vetsch vom 26.12.2022 bei SRF - [Schweiz] Sozialhilfe: Bundesrat schneidet Löcher ins «letzte Netz»
„… Sie gilt als «das letzte Netz»: Sozialhilfe erhält, wer zu wenig zum Leben hat und auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld und Leistungen anderer Sozialversicherungen hat. Damit soll auch ärmeren Menschen ein würdiges Leben ermöglicht werden. Doch seit Jahren werden immer wieder haarsträubende Fälle publik, in denen Gemeinden oder Kantone ihre SozialhilfebezügerInnen mit willkürlichen Auflagen drangsalieren oder sie ganz offenkundig loswerden wollen (…) Trotzdem lehnt es der Bundesrat seit jeher ab, ein nationales Rahmengesetz zu schaffen. Er rechtfertigt das Nichtstun dabei stets mit der Wichtigkeit des Föderalismus. (…) Das stimmt so nicht ganz, wie sich kürzlich zeigte. Ganz im Gegenteil lotete die Landesregierung jede erdenkliche Möglichkeit aus, um Löcher ins letzte Netz zu schneiden. Sie präsentierte 20 «Handlungsoptionen», um die Sozialhilfeleistungen für Personen aus Drittstaaten zu kürzen. (…) Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) kritisiert, dass der Bundesrat mit der Vorlage gleich zwei Verfassungsgrundsätze verletze: die Rechtsgleichheit aller Menschen sowie die Hilfe in Notlagen. Wozu also das Ganze? Der Bundesrat möchte mit den Kürzungen für Personen aus Drittstaaten «Anreize für eine stärkere Erwerbstätigkeit für diese Personengruppe setzen», wie er die Massnahmen begründete. Dass Integration über Kürzungen von Sozialleistungen erreicht wird, ist eine alte, allerdings nicht sehr glaubhafte Leier. Der SGB bezeichnet das Argument als zynisch: «Arbeitsintegration ist nicht bloss eine Frage des guten Willens der Betroffenen, es braucht vor allem einen Arbeitsmarkt, zu dem Menschen ohne Schweizer Pass Zugang haben.» In seiner Mitteilung erwähnte der Bundesrat denn auch noch einen zweiten Grund für die Kürzungen: Der Anstieg der Sozialhilfekosten bei Kantonen und Gemeinden könne so «wenn möglich etwas gebremst werden.» Durch die geplanten Kürzungen könnten bei den Ärmsten 5 Millionen Franken eingespart werden, wie die Wochenzeitung ausgerechnet hat. Zum Vergleich: Mit der Abschaffung der Stempelsteuer, über die am Sonntag abgestimmt wird, sollen Schweizer Grossunternehmen 250 Millionen Franken geschenkt werden – Abgaben, die derzeit auf die Aufnahme von viel Eigenkapital anfallen. Der Bundesrat kämpft mit dem Argument der Standortattraktivität aktiv für die Vorlage. Die Mindereinnahmen, obwohl das 50-fache der geplanten Kürzungen in der Sozialhilfe, hält er für «verkraftbar.»“ Beitrag von Andres Eberhard vom 10. Februar 2022 bei Infosperber.ch - [Schweiz] Sozialhilfe: Reiche entlasten, Arme jagen
„Sie schafft Not. Noch schlimmer: Sie tut es ohne jede Not. Als gäbe es nichts Wichtigeres in diesem reichen Land, in einer für viele schwierigen Zeit. Am Mittwoch, 26. Januar, schlug Justizministerin Karin Keller-Sutter (FDP) dem Bundesrat vor, die Sozialhilfe für alle Menschen aus Drittstaaten zu kürzen, wenn sie diese in den ersten drei Jahren nach Erteilung ihrer Aufenthaltsbewilligung beziehen. Damit verschärft sich die Armenjagd weiter, die sich in der Tiefe des Schweizer Sozialstaats abspielt. Im Visier: Menschen ohne Schweizer Pass, die auf Fürsorge angewiesen sind. Das Mittel: die Verknüpfung von Migrations- und Sozialhilferecht. So kann bei Sozialhilfebezug die Aufenthaltsbewilligung entzogen werden. Zuvorderst an der Hatz beteiligt: die Freisinnig-Demokratische Partei. Der neuste Vorschlag wurde noch vom früheren FDP-Präsidenten Philipp Müller in die Wege geleitet (…).Gemäss Caritas deckt der Grundbedarf schon heute das Existenzminimum kaum. Wird er noch gekürzt, werden sie die Armut kaum je hinter sich lassen können. Für den Staat ist der Betrag ein Klacks. Man muss das im Verhältnis sehen: Die FDP setzt sich gerade dafür ein, dass Grosskonzerne mit der Abschaffung der Stempelsteuer jährlich mit 250 Millionen Franken weniger besteuert werden. Den Ärmsten der Armen will die FDP-Bundesrätin gleichzeitig aus Spargründen 5 Millionen Franken wegnehmen. Der einst grosse Schweizer Freisinn – er ist moralisch korrumpiert. Und im Bundesrat definitiv übervertreten. Keller-Sutter liess zwanzig «Handlungsoptionen» prüfen, um den Armen das Leben zu erschweren. Die meisten erwiesen sich als in der Realität untauglich. Vor allem aber, das ist das Positive, hat der Widerstand zugenommen: im Bundeshaus, wo selbst Bürgerliche Verschärfungen zurücknehmen wollen, wie die Reaktionen auf den Vorstoss «Armut ist kein Verbrechen» von SP-Nationalrätin Samira Marti zeigen; bei Kantonen und Gemeinden, die sich nicht länger vom Bund restriktive Vorschriften machen lassen wollen. Die Einführung einer wirtschaftlichen Basishilfe in der Stadt Zürich steht als Protest dafür. Der Widerstand zeigt sich auch bei Anwälten und Sozialarbeiterinnen, die täglich mit den Folgen der unseligen Verknüpfung von Migrations- und Sozialhilferecht konfrontiert sind. Wie dringend eine Umkehr bei der Fürsorge ist, zeigt auch die schikanöse Behandlung von Sozialhilfebezüger:innen in Dübendorf, zu der letzte Woche der Untersuchungsbericht erschienen ist. Er macht deutlich, dass es keine Gängelung von Armutsbetroffenen durch den Bund braucht. Nötig sind stattdessen eine Politik, die ihre Rechte stärkt, sowie eine ausreichende soziale Unterstützung für alle, die hier leben.“ Kommentar von Kaspar Surber vom 3. Februar 2022 aus der WOZ Nr. 05/2022 - Wer arm ist, fliegt raus Wie sich die Schweiz ihrer Bedürftigen entledigt. Der Bauplan einer unheimlichen Maschine.
„Erika Schilling hatte einmal einen Traum. Es war kein angenehmer, sondern ein kafkaesker Traum. Das Wartezimmer der Beratungsstelle für Migrationsrecht (Mirsah) in Zürich, für die Schilling als Juristin arbeitet, war voller Menschen. Alle streckten ihr einen Brief mit dem gleichen Inhalt entgegen: Er handelte vom Entzug der Aufenthaltsbewilligung wegen Sozialhilfebezugs.
Mit ihrer Arbeit auf der Beratungsstelle begann Schilling vor elf Jahren. «Als ich zum ersten Mal eine Verwarnung wegen Sozialhilfebezugs sah, bin ich erschrocken», erinnert sie sich. «Heute ist das Thema der absolute Schwerpunkt unserer Beratungen.» Jede zweite Person suche Rat wegen eines Fragenkatalogs, einer Verwarnung, einer Rückstufung oder einer Wegweisung bezüglich Sozialhilfe. «Für uns erscheint das alles wie eine gewaltige Maschinerie, die konstant eine Flut von Schreiben produziert», sagt Schilling. «Etwas ist in Schieflage geraten.» (…) Die hohe Zahl der Menschen, die über eine Aufenthaltsbewilligung verfügen und während einer Pandemie trotzdem in einer Schlange um Essen anstehen, wirft brisante Fragen auf: Trauen sich diese Leute etwa nicht, Sozialhilfe zu beziehen, die ihnen rechtmässig zustehen würde? Und falls ja: Warum ist das so? Wer diesen Fragen nachgeht, landet beim wohl grössten Versagen des Schweizer Sozialstaats der Gegenwart. Es geht dabei nicht um ein strukturelles Versagen, aufgrund fehlenden Bewusstseins oder mangelnder finanzieller Mittel etwa, sondern um ein absichtliches Versagen, herbeigeführt von Politik, Behörden und Justiz. Es gibt dafür nur ein zutreffendes Wort: Armenjagd. Die Hatz ist nicht erst seit der Pandemie im Gang. Corona hat sie wie so vieles bloss sichtbar gemacht. Ruft man bei Anwältinnen und Beratern an, um Betroffene zu finden, die von ihrem Schicksal erzählen, dann wehren sie die Anfragen ab. Häufig befänden sich die Betroffenen in juristischen Verfahren oder möchten nicht über ihre Erfahrungen Auskunft geben. Aus Scham oder Unsicherheit auch, dass sie nach einem Erfolg gleich wieder in ein Verfahren geraten könnten. (…) 60 000 Menschen also. Das sind weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Gegen sie richtet sich die Armenjagd konkret. Die Gesetze halten aber auch viele weitere davon ab, überhaupt Sozialhilfe zu beziehen. Eine aktuelle Studie der Berner Fachhochschule geht davon aus, dass mehr als 35 Prozent der Menschen, die rechnerisch Anspruch auf Sozialhilfe hätten, auf diese verzichten. Ein wichtiges Motiv: die Angst, ausgewiesen zu werden. Die Verknüpfung von Migrations- und Sozialhilferecht gibt es in dieser Form schon lange. Doch erst kürzlich kam es zu entscheidenden Verschärfungen. 2019 wurde das neue Ausländer- und Integrationsgesetz erlassen. Damit fiel eine Schutzfrist bei der C-Bewilligung: Wer bisher länger als fünfzehn Jahre in der Schweiz lebte, durfte nicht mehr aufgrund von Sozialhilfebezug ausgewiesen werden. Das ist neu möglich. Und mehr noch: Wer eine Niederlassungsbewilligung C hat, die grundsätzlich unbefristet gilt, kann auf eine Aufenthaltsbewilligung B zurückgestuft werden, die nur ein Jahr läuft. Die Verschärfungen passierten im Windschatten der grossen SVP-Kampagnen gegen «kriminelle Ausländer», gegen «Scheininvalide», gegen «Sozialschmarotzer». (…) Am entschiedensten benennt die Caritas das Problem: Der Bezug von Sozialhilfe dürfe schlicht keine Auswirkungen auf den Aufenthaltsstatus mehr haben, fordert das Hilfswerk. Andreas Lustenberger, bei der Caritas für die politische Arbeit zuständig, verweist auf die Bundesverfassung: «Darin ist schliesslich als Prinzip festgehalten, dass die soziale Sicherheit für alle zu gelten hat – und nicht bloss für Schweizer:innen.» Das Migrationsrecht und die Sozialhilfe entkoppeln: Tatsächlich wäre nur ein einfacher Griff in die Maschine nötig, um sie zum Stillstand zu bringen.“ Artikel von Kaspar Surber in der WoZ vom 25.11.2021 - Siehe auch vom November 2020: Sozialhilfe als Zwang und Diskriminierung: «Diese widerliche Inszenierung von Wohltätigkeit»