Betriebsbegehung: Beteiligung statt Freistellung

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitBR-Vertretungen im Betrieb nehmen ab. Nicht erst seit den abermaligen Korruptionsvorwürfen gegenüber BR-Vorsitzenden namhafter großer deutscher Autokonzerne gibt es eine Debatte um die Verselbständigung freigestellter ›BR-Fürsten‹, die den Kontakt zur Belegschaft verlieren und ihre Vorstellung von Stellvertreterpolitik irgendwann auf eine expertokratisch bemäntelte Selbstvertretung reduzieren – mit drastischen Folgen für die Demokratie im Betrieb und nicht zuletzt die Mobilisierungsfähigkeit von Belegschaften. Gemeinhin wird angenommen: Freigestellte Betriebsräte sind diejenigen, die ›rund um die Uhr‹ für die betriebliche Interessenvertretung arbeiten. Die anderen Mitglieder des Gremiums werden nur zu ausgewählten Anlässen von der Arbeit freigestellt und verbringen daher deutlich weniger Zeit mit der Amtsausübung – das ist zwar verbreitete Praxis, muss aber nicht so sein. Metall-Betriebsrat Tobias Salin erklärt im Interview, wie er auch ohne dauerhafte Freistellung einen Großteil seiner Arbeitszeit als Interessenvertreter aktiv ist – und dabei deutlich beteiligungsorientierter vorgeht als manch freigestellter BR…“ Interview von Stefan Schoppengerd mit Tobias Salin über BR-Arbeit erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 10/2021:

Betriebsbegehung

Beteiligung statt Freistellung – ein Gespräch mit Tobias Salin über BR-Arbeit

BR-Vertretungen im Betrieb nehmen ab. Nicht erst seit den abermaligen Korruptionsvorwürfen gegenüber BR-Vorsitzenden namhafter großer deutscher Autokonzerne gibt es eine Debatte um die Verselbständigung freigestellter ›BR-Für­sten‹, die den Kontakt zur Belegschaft verlieren und ihre Vorstellung von Stellvertreter­politik irgendwann auf eine expertokratisch bemäntelte Selbstvertretung reduzieren – mit drastischen Folgen für die Demokratie im Betrieb und nicht zuletzt die Mobi­lisierungsfähigkeit von Belegschaften (siehe den Beitrag von René Kluge in dieser Aus­gabe). Gemeinhin wird angenommen: Freigestellte Betriebsräte sind diejenigen, die ›rund um die Uhr‹ für die betriebliche Interessenvertretung arbeiten. Die anderen Mitglie­der des Gremiums werden nur zu ausgewählten Anlässen von der Arbeit freige­stellt und verbringen daher deutlich weniger Zeit mit der Amtsausübung – das ist zwar verbreitete Praxis, muss aber nicht so sein. Metall-Betriebsrat Tobias Salin erklärt im Interview, wie er auch ohne dauerhafte Freistellung einen Großteil seiner Arbeitszeit als Interessenvertreter aktiv ist – und dabei deutlich beteiligungsorientierter vorgeht als manch freigestellter BR.

Du bist BR in einem Betrieb der Metallindustrie mit ca. 1.000 Beschäftigten. Obwohl Du nicht freigestellt bist, verbringst Du Deine Arbeitszeit nahezu ausschließlich mit Betriebsratsarbeit. Gibt die Betriebsverfassung das her? Was unterscheidet Dich dann noch von einem freigestellten BR-Mitglied?

Tobias Salin: Alle Betriebsratsmitglieder haben laut Betriebsverfassungsgesetz (§ 37.2) die Möglichkeit, sich für die ordnungsgemäße Durchführung ihrer Aufgaben von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts freizustellen. Steigt man ein biss­chen tiefer in die Aufgaben des Betriebsrats ein, merkt man schnell, dass die Fülle der Aufgaben niemals allein von den so genannten »freigestellten Betriebsräten« (§ 38) erledigt werden könnte. Bei 1.000 Mitarbeiter:innen hat man Anspruch auf 15 ordentlich gewählte Betriebsräte, wovon drei laut BetrVG komplett freigestellt sind. Das bedeutet, die drei müssen dem Unternehmen keine Rechenschaft über ihre Betriebsratsarbeit ablegen und nicht begründen, warum die Betriebsratsarbeit gerade erforderlich ist. Die restlichen zwölf müssen sich immer bei ihren Vorgesetzten für die Betriebsratsarbeit abmelden und das Unternehmen kann auch in Frage stellen, ob die Betriebsratsarbeit gerade erforderlich ist oder nicht. Das kann dazu führen, dass die Freigestellten versuchen, alle Themen zu bearbeiten und die restlichen Betriebsratsmitglieder nur zu den Betriebsratssitzungen kommen. Dort wird eigentlich nur noch das, was die Freigestellten vorbereitet haben, diskutiert und abgestimmt. Meiner Meinung nach ist gute Betriebsratsarbeit so gar nicht möglich. Ich habe mich seit meiner Wahl zunächst zwei bis drei komplette Tage pro Woche für Betriebsratsarbeit freistellen lassen, um mich mit den Themen und Meinungen der Kolleg:innen und auch meinen Aufgaben als Betriebsrat vertraut zu machen und so auf einer vernünftigen Basis im Betriebsrat Entscheidungen treffen zu können. Mit der Zeit hat die Fülle meiner Aufgaben es erforderlich gemacht, dass ich mich 35 Stunden in der Woche für Betriebsratsarbeit freistellen lasse. Der Unterschied zu den freigestellten Betriebsräten ist, dass ich mich immer wieder in meiner Abteilung von der beruflichen Tätigkeit abmelden muss und das auch immer mal wieder zu Diskussionen mit Vertretern des Kapitals führt.

Welche Betriebsrats-Aufgaben sind es, die Dich den ganzen Tag auf Trab halten?

TB: Ich versuche regelmäßige Rundgänge zu machen und wirklich mit allen knapp 200 Personen in meiner Abteilung zu reden und mir den Arbeitsplatz anzugucken. Auch das ist vom BetrVG gedeckt (§ 85 Beschwerderecht und § 86a Vorschlagsrecht der Arbeitnehmer). Oft haben Leute dann auch Fragen zu einer Betriebsvereinbarung oder einem Tarifvertrag, zu ihrem Urlaub, ihrem Entgelt oder sie haben gesundheitliche Probleme aufgrund des Arbeits­platzes. Dann recherchiere ich, wie wir das Problem lösen können. Dabei versuche ich nicht stellvertretend, sondern mit meinen Kolleg:innen gemeinsam zu handeln und mit ihnen gemeinsam unsere Rechte, die richtigen Ansprechpersonen und gute Druckmittel ausfindig zu machen, um gemeinsam handlungsfähig zu werden. Beispielsweise werden Schichten ab und an kurzfristig wegen Fehlplanungen oder Materialmangels abgesagt und die Leute direkt nach Schichtbeginn wieder nach Hause geschickt. Im Manteltarifvertrag ist geregelt, dass in so einem Fall das Unternehmen für die ausgefallenen Arbeitsstunden aufkommen muss. Diesen Passus habe ich einmal allen Kolleg:innen in einer betroffenen Abteilung ausgedruckt und verteilt. Das hat dazu geführt, dass die Leute dann darauf bestanden haben, keine Arbeitszeit mehr abgezogen zu bekommen, wenn sie aufgrund einer Betriebsstörung nach Hause geschickt werden.

Aber ich biete z.B. auch Sprechstunden (§ 39) zu verschiedenen Themen an. Seit 2018 gibt es einen Tarifvertrag, der es ermöglicht, eine Sonderzahlung in acht Tage mehr Urlaub umzuwandeln und die regelmäßige individuelle Arbeitszeit zeitweise abzusenken und so bspw. eine Vier-Tage-Woche für zwei Jahre zu haben und danach wieder zur alten Arbeitszeit zurückzukehren. Zu diesem neuen Tarifvertrag biete ich jedes Jahr Sprechstunden an, von denen auch jährlich über 100 Kolleg:innen Gebrauch machen.

Außerdem versuchen wir Willkommensrunden für alle neuen Kolleg:innen zu organisieren und sie in diesen über ihre Rechte zu informieren, ihnen zu erklären, welche Tarifverträge für sie gelten, wer ihre Ansprechpersonen aus dem Betriebsrat sind und welche Rolle Gewerk­schaften spielen. Auch diese Runden benötigen Vor- und Nachbereitungszeit. Sie werden sehr gut angenommen und man merkt, dass man mit den Kolleg:innen, die in einer Will­kommensrunde waren, viel schneller und besser ins Gespräch kommt als mit anderen neuen Personen im Betrieb.

Hinzu kommt dann noch das Tagesgeschäft. Ich bin im Betriebs-, Personal-, Öffent­lichkeits- und Ausbildungsausschuss. Hier fallen regelmäßige Sitzungen an und dann natürlich das Abarbeiten der Themen aus den Ausschüssen. Also bspw. regelmäßige Rück­sprachen mit den Ausbildern, der Jugend- und Auszubildendenvertretung und den Auszu­bildenden selbst, um eine gute Ausbildung abzusichern. Oder aber die Überprüfung von personellen Einzelmaßnahmen (§ 99) wie Neueinstellungen, Kündigungen, Versetzungen, Umgruppierungen für den Personalausschuss, bei denen der Betriebsrat Mitbestim­mungsrechte hat, oder die Planung und Durchführung von Betriebsversammlungen (§ 42), die einmal im Quartal stattfinden und zu denen alle Beschäftigten eingeladen werden müssen. Sie dienen dazu, dass der Betriebsrat Rechenschaft über seine Arbeit ablegt. Auf die Tagesordnung können auch tarif-, sozial- und umweltpolitische Themen gesetzt werden. Meine Arbeitswoche bekomme ich auf jeden Fall ohne Probleme gefüllt, ohne tatsächlich alle Möglichkeiten, die das Betriebsverfassungsgesetz bietet, ausschöpfen zu müssen. Was das Betriebsverfassungsgesetz aber auch für Hindernisse mit sich bringt, wäre nochmal ein eigenes Gespräch wert.

Arbeitnehmer:innen haben bei verschiedenen Anlässen das Recht, ein BR-Mitglied ihres Vertrauens hinzuzuziehen. Machst Du für diese Möglichkeit offensiv Reklame im Betrieb?

TB: Ich kläre die Arbeiter:innen schon über ihr Recht auf, immer einen Betriebsrat zu Gesprächen hinzuzuziehen. Aber ich mache da jetzt keine Reklame für mich als Person oder so. Also, ich sehe mich da nicht in Konkurrenz zu meinen Betriebsratskolleg:innen und freue mich, wenn wir als Betriebsratsgremium Hand in Hand arbeiten. Es gibt einfach Themen, in denen andere Betriebsräte fitter sind, und dann verweise ich meine Kolleg:innen auch an die.

Ich kann mir vorstellen, dass das Unternehmen und vielleicht auch die direkten Vorgesetzten das nicht witzig finden, wenn Du kaum an Deinem »eigentlichen« Arbeitsplatz bist. Wird da Druck auf Dich ausgeübt? Wie?

TB: Auf jeden Fall wird da Druck ausgeübt. Ich hatte schon einige Personalgespräche mit unterschiedlichen höheren Vorgesetzten, Vertretern der Personalabteilung und der Werks­leitung, in denen es um meine Betriebsratsarbeit ging. Die IG Metall und auch andere Betriebsratskolleg:innen haben mich bei diesen Gesprächen immer tatkräftig unterstützt und betont, warum meine Arbeit notwendig ist. Mit meinen direkten Vorgesetzten hatte ich deswegen nie Probleme, weil sie selbst wissen, wie wichtig Betriebsratsarbeit ist. Aber die Werksleitung hat sogar schon einmal ein Kündigungsverfahren gegen mich eingeleitet, sie wollte mich ernsthaft loswerden. Inwiefern dabei tatsächlich meine Betriebsratsarbeit oder mein politisches Engagement außerhalb des Betriebs oder andere Dinge Ursache des Versuchs waren, ist natürlich Interpretationssache. Aber ein Einschüchterungsversuch war es allemal und eine Zeit lang konnte ich das Werksgelände nur eingeschränkt betreten. Das hat meine Betriebsratsarbeit natürlich behindert. Aber letztendlich haben sich viele Leute aus dem Betrieb und auch darüber hinaus solidarisiert und wir haben vor Gericht gewonnen. Auch das wäre nochmal ein eigenes Kapitel.

Und die Kolleg:innen? Wirst Du von denen auch schief angeguckt, weil Du »nichts schaffst«?

TB: Am Anfang meiner Betriebsratsarbeit gab‘s das schon. Also solche Kommentare wie »Der soll erst mal richtig schaffen, bevor der sich für die Betriebsratsarbeit freistellen lässt«. oder »Was macht ihr da unten eigentlich den ganzen Tag? Kaffee saufen?« In den letzten Jahren habe ich aber öfter gehört, dass es ihnen viel mehr bringt, wenn ich Betriebsratsarbeit mache, als wenn ich an der Maschine stehe. Wir haben viel gemeinsam erreicht und konnten viele Fragen klären oder Probleme lösen. Solche Erfahrungen geben mir auf jeden Fall Kraft und zeigen mir, dass sich die stressige Arbeit lohnt. Am besten ist es aber, wenn sich Kolleg:innen für ihre Interessen einsetzen und sich z.B. für die Vertrauenskörperarbeit der IG Metall interessieren oder mir sagen, dass sie sich bei den nächsten Betriebsratswahlen auch selbst aufstellen lassen wollen.

* Das Interview führte Stefan Schoppengerd. Erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 10/2021

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