LAG-Urteil gegen Lieferando: Kuriere müssen nicht eigenes Fahrrad und Handy nutzen

[Petition] Desinfektionsmittel, Schutzkleidung und bessere Arbeitsbedingungen für Lieferando-Fahrer! [Und Betriebsratswahlen]Angestellte Fahrradboten müssen ihre Ausrüstung nicht zwingend selbst mitbringen. Das hat das Landesarbeitsgericht Frankfurt im Fall von zwei Kurieren entschieden: Sie hatten vom Essens-Lieferdienst Lieferando gefordert, dass er dienstliche Fahrräder und Smartphones bereitstellt. Die Plattform hatte in den Verträgen vorgesehen, dass Arbeitnehmer ihre eigenen Geräte und das entsprechende Datenvolumen für ihre Arbeit nutzen. Das Landgericht Frankfurt urteilte jetzt: Die Plattform muss den Klägern jeweils ein Fahrrad und ein Smartphone zur Verfügung stellen. Betriebsmittel und deren Kosten seien grundsätzlich vom Arbeitgeber zu stellen. Er sei auch für die Verkehrssicherheit verantwortlich. Die Entscheidung ist aber nicht rechtskräftig, weil wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision beim Bundesarbeitsgericht in Erfurt zugelassen wurde…“ Meldung vom 24.06.21 bei hessenschau.de externer Link, siehe dazu umfangreicher:

  • [LAG-Urteil nun rechtskräftig] Urteil des Bundearbeitsgerichts: Lieferando muss Ridern Rad und Handy stellen New
    Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat heute entschieden, dass Fahrradlieferanten (sogenannte Rider‘), die Speisen und Getränke ausliefern und ihre Aufträge über eine Smartphone-App erhalten, Anspruch darauf haben, dass der Arbeitgeber ihnen Arbeitsmittel wie ein verkehrstüchtiges Fahrrad und ein internetfähiges Mobiltelefon zur Verfügung stellt. „Das ist ein starkes und wegweisendes Signal, um faire und gleiche Arbeitsbedingungen in der Branche herzustellen“, sagt Freddy Adjan, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Zuvor hatte bereits das Landesarbeitsgericht Hessen geurteilt, dass Betriebsmittel und deren Kosten grundsätzlich vom Arbeitgeber zu stellen seien. Er sei auch für die Verkehrssicherheit zuständig. Diese Entscheidung ist mit dem heutigen Urteil des BAG rechtskräftig…“ NGG-Pressemitteilung vom 10. November 2021 externer Link, siehe dazu:

    • BAG: Arbeitgeber muss Fahrradlieferanten Fahrrad und Mobiltelefon als notwendige Arbeitsmittel zur Verfügung stellen
      „Fahrradlieferanten (sogenannte „Rider“), die Speisen und Getränke ausliefern und ihre Aufträge über eine Smartphone-App erhalten, haben Anspruch darauf, dass der Arbeitgeber ihnen die für die Ausübung ihrer Tätigkeit essentiellen Arbeitsmittel zur Verfügung stellt. Dazu gehören ein verkehrstüchtiges Fahrrad und ein geeignetes internetfähiges Mobiltelefon. Von diesem Grundsatz können vertraglich Abweichungen vereinbart werden. Geschieht dies in Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Arbeitgebers, sind diese nur dann wirksam, wenn dem Arbeitnehmer für die Nutzung des eigenen Fahrrads und Mobiltelefons eine angemessene finanzielle Kompensationsleistung zusagt wird. (…) Das Landesarbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die von ihm zugelassene Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbarte Nutzung des eigenen Fahrrads und Mobiltelefons benachteiligt den Kläger unangemessen iSv. § 307 Abs. 2 Nr. 1 iVm Abs. 1 Satz 1 BGB und ist daher unwirksam. Die Beklagte wird durch diese Regelung von entsprechenden Anschaffungs- und Betriebskosten entlastet und trägt nicht das Risiko, für Verschleiß, Wertverfall, Verlust oder Beschädigung der essentiellen Arbeitsmittel einstehen zu müssen. Dieses liegt vielmehr beim Kläger. Das widerspricht dem gesetzlichen Grundgedanken des Arbeitsverhältnisses, wonach der Arbeitgeber die für die Ausübung der vereinbarten Tätigkeit wesentlichen Arbeitsmittel zu stellen und für deren Funktionsfähigkeit zu sorgen hat. Eine ausreichende Kompensation dieses Nachteils ist nicht erfolgt. Die von Gesetzes wegen bestehende Möglichkeit, über § 670 BGB Aufwendungsersatz verlangen zu können, stellt keine angemessene Kompensation dar. Es fehlt insoweit an einer gesonderten vertraglichen Vereinbarung. Zudem würde auch eine Klausel, die nur die ohnehin geltende Rechtslage wiederholt, keinen angemessenen Ausgleich schaffen. Die Höhe des dem Kläger zur Verfügung gestellten Reparaturbudgets orientiert sich nicht an der Fahrleistung, sondern an der damit nur mittelbar zusammenhängenden Arbeitszeit. Der Kläger kann über das Budget auch nicht frei verfügen, sondern es nur bei einem vom Arbeitgeber bestimmten Unternehmen einlösen. In der Wahl der Werkstatt ist er nicht frei. Für die Nutzung des Mobiltelefons ist überhaupt kein finanzieller Ausgleich vorgesehen. Der Kläger kann deshalb von der Beklagten nach § 611a Abs. 1 BGB verlangen, dass diese ihm die für die vereinbarte Tätigkeit als „Rider“ notwendigen essentiellen Arbeitsmittel – ein geeignetes verkehrstüchtiges Fahrrad und ein geeignetes Mobiltelefon, auf das die Lieferaufträge und -adressen mit der hierfür verwendeten App übermittelt werden – bereitstellt. Er kann nicht auf nachgelagerte Ansprüche wie Aufwendungsersatz oder Annahmeverzugslohn verwiesen werden.“ BAG-Pressemitteilung 28/21 zum Urteil vom 10. November 2021 mit Az. 5 AZR 334/21 externer Link
    • BAG zu Pflichten des Arbeitgebers Rad und Smart­phone für Fahrradkuriere
      „… Eine Hintertür verbleibt allerdings insoweit, als dass sich das Urteil nur auf den kompensationslosen Ausschluss der Stellung von Betriebsmitteln bezog. Pauschale Abgeltungsvereinbarungen sind möglich. Die Rechtsprechung akzeptiert derartige Regelungen, wenn dem Arbeitnehmer hierfür ein – auch pauschal bemessener – Ausgleich gewährt wird. Gutschriften für Fahrradreparaturen in geringem Umfang reichen dafür nicht.  Ob die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn dem Fahrradkurier eine monatliche Pauschale von beispielsweise 30 Euro für den Einsatz des eigenen Drahtesels und des Smartphones gewährt worden wäre, ist damit nicht entschieden. Insoweit ist davon auszugehen, dass die besagten Arbeitsverträge unternehmensseitig zeitnah angepasst werden und sich dann vermutlich erneut einer gerichtlichen Überprüfung unterziehen dürften.
      Als Trostpflaster aber bleibt: Das LAG weist in seiner Entscheidung berechtigterweise darauf hin, dass Fahrradlieferanten „typischerweise keinen Arbeitsverdienst erzielen, bei dem das von ihnen verlangte Vermögensopfer nicht ins Gewicht fiele“. Insoweit dürfte die Beschäftigtengruppe der Fahrradkuriere jedenfalls von der geplanten Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro brutto je Stunde profitieren, die sich als Kernaussage im Sondierungspapier der mutmaßlich künftigen Regierungsfraktionen von SPD, FDP und Bündnis 90 / Die Grünen wiederfindet. 
      Zudem: Fahrradkuriere, die nach Maßgabe einer App Essen abholen und dies nach detaillierter Vorgabe zu den Kundinnen und Kunden liefern, sind in die betriebliche Struktur des Unternehmens eingebunden und weisungsabhängig. Anderweitigen Gestaltungsmöglichkeiten der Beschäftigung von Fahrradlieferanten – etwa in Form freier Mitarbeit – dürfte spätestens seit dem sog. Crowdworker-Urteil des BAG (Urt. v. 1.12.2020, Az. 9 AZR 102/20) der Boden entzogen sein.
      Mit besagter Entscheidung hatte das BAG einen über eine Internetplattform („Crowd“) kleinteilige Aufträge zur Abarbeitung annehmenden, vermeintlich selbständigen Auftragnehmer („Crowdworker“) als Arbeitnehmer qualifiziert. Fahrradkuriere, die in Dienstkleidung nach den Vorgaben des die Essenslieferungen vermittelnden und koordinierenden Unternehmens Essen und Getränke ausliefern, sind damit Arbeitnehmer. Dadurch kommen Sie in den Genuss der gesamten Bandbreite des Arbeitnehmerschutzes, etwa bezahltem Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und Kündigungsschutz. Sie dürften auch einen Betriebsrat gründen.“ Bewertung von Prof. Dr. Michael Fuhlrott am 10.11.2021 bei LTO externer Link
  • Lieferando-Fahrer müssen nicht ihr eigenes Handy und Fahrrad nutzen
    Das Landesarbeitsgericht Hessen entschied über die Klage zweier Fahrradkurierfahrer, die Essen und Getränke an Kunden auslieferten. Der Arbeitgeber weigerte sich dagegen, seine Angestellten mit den erforderlichen Arbeitsmitteln auszustatten. Die beiden Kläger, die für Lieferando arbeiteten, haben sich dagegen gewehrt, dass sie darauf angewiesen waren, ihr eigenes Rad und ihr eigenes Mobiltelefon zu verwenden. Um den Job auszuführen, musste eine spezielle App verwendet werden, für die mobiles Internet notwendig war. Die Kuriere mussten dafür das mobile Internet ihres eigenen Vertrages nutzen. Das Landesarbeitsgericht Hessen entschied nun zugunsten der Kläger (Urteil vom 19.02.2021 – 14 Sa 306/20, 14 Sa 1158/20 externer Link). (…) Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main gab zunächst dem Arbeitgeber recht. Dieser behauptete, der Arbeitnehmer habe sich konkludent darauf eingelassen, sein eigenes Rad und sein eigenes Mobiltelefon für die Arbeit zu nutzen. Dies ergäbe sich daraus, dass der Arbeitnehmer ja gesehen habe, dass unter dem verfügbaren Equipment weder ein Fahrrad noch ein Handy war. Trotzdem habe er den Vertrag unterschrieben. Vor dem jetzt gültigen Arbeitsvertrag war zwischen den Vertragsparteien mündlich vereinbart worden, dass Handy und Fahrrad vom Arbeitgeber nicht gestellt werden. Die Kläger gingen daraufhin in Berufung und bekam vor dem Landesarbeitsgericht Hessen recht. Rechtsgrundlage des Arbeitsverhältnisses ist der wirksame schriftliche Vertrag. Dieser schließt mündliche Nebenabreden aus, sodass es nicht darauf ankommt, ob vor Vertragsschluss etwas anderes vereinbart wurde. Das Landesarbeitsgericht entschied somit, dass der Arbeitgeber in diesem Fall dazu verpflichtet ist, ein Fahrrad und ein Handy, mit ausreichend mobilem Internet, zur Verfügung zu stellen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.“ Beitrag von Hanna Hillnhütter vom 20. Oktober 2021 im Logistik-Watchblog externer Link

Siehe zu den Arbeitsbedingungen bei Lieferando unser Dossier: [Petition] Desinfektionsmittel, Schutzkleidung und bessere Arbeitsbedingungen für Lieferando-Fahrer! [Und Betriebsratswahlen]

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=191230
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