BVerfG zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlage nach Art. 20a GG: Großer Erfolg oder doch nur ein bescheidener Teilerfolg?
„… Ein großer Wurf ist diese Entscheidung also nicht. Sie ist vor allem Ergebnis eines unabweisbaren Drucks der Bewegung für ein lebenswerte Umwelt in Deutschland, aber auch international. Interessant ist weniger die Kernaussage der Entscheidung (s.o.); schon weil sie ja bereits nahezu wörtlich im Grundgesetz steht. Zwar ist erfreulich, dass der Erste Senat dem Gesetzgeber durchaus auch eine Aufgabe zuweist. Was die Lösung der Aufgabe und deren verfassungsrechtliche Einbettung durch den Senat betrifft, ist jedoch ein genaues Studium der Interpretation von Art. 20a GG durch den Ersten Senat wichtig. Beispielsweise sollte beachtet werden, dass der Senat nur natürliche Personen eine Klagerecht zuerkennt und nicht den Umweltorganisationen. Dies erscheint schon deshalb kritikwürdig, weil sog. „juristische Personen“ wie umweltschädigende Unternehmen sich auch weiterhin gegen demokratisch erlassene gesetzliche Einschränkungen zum Umweltschutz mit Verfassungsbeschwerde wehren können (…) Eines zeigt der Beschluss sicher: Wichtig ist Widerstand, vor allem außerparlamentarisch. Desto machtvoller, umso erfolgreicher – auch juristisch.“ Versuch einer angemessenen rechtlichen Einordnung von Armin Kammrad vom 3. Mai 2021 – wir danken!
BVerfG zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlage nach Art. 20a GG: Großer Erfolg oder doch nur ein bescheidener Teilerfolg?
Versuch einer angemessenen rechtlichen Einordnung von Armin Kammrad vom 3. Mai 2021
Mit der BVerfG-Pressemitteilung Nr. 31/2021 vom 29. April 2021 zum Beschluss 1 BvR 2656/18 vom 24. März 2021 wurde in der Tat nur ein Teilerfolg errungen, wie es in der Überschrift – „teilweise erfolgreich“ – der Pressemitteilung heißt. So ist die Feststellung in der PM, „dass die Regelungen des Klimaschutzgesetzes vom 12. Dezember 2019 (…) über die nationalen Klimaschutzziele und die bis zum Jahr 2030 zulässigen Jahresemissionsmengen insofern mit Grundrechten unvereinbar sind, als hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031 fehlen“, wahrlich kein großer Wurf, heißt es doch bereits wörtlich in Art. 20a GG: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generation die natürlichen Lebensgrundlagen…“. Was bedeutet aber der Nachsatz: „Im Übrigen wurden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen“?
„Tatsächlich handelt es sich bei dem Beschluss erstmal nur um einen kleinen Erfolg für den Klimaschutz. Die praktischen Auswirkungen des Beschlusses auf das Klimaschutzgesetz und die deutsche Klimapolitik sind momentan gering“, stellt Andreas Buser am Anfang seiner ausführlichen Analyse beim Verfassungsblog am 30. April fest. Tatsächlich gibt das Gericht vor allem seine verfassungsrechtliche Auslegung und gewünschte rechtliche Handhabung von Art. 20a GG ausführlich zum Besten. So auch die durchaus kritisierbare Haltung, dass der Gesetzgeber beim Klimaschutzgesetz mit seiner Festlegung, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2030 um 55 % gegenüber 1990 zu mindern, nicht „gegen seine grundrechtlichen Schutzpflichten, die Beschwerdeführenden vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen, oder gegen das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG verstoßen hat“ (BVerfG-PM). Hier beschwört der Senat einen, dem Gesetzgeber zukommenden Handlungsspielraum, der anbetracht der Umweltbelastungen durchaus in Frage gestellt werden kann, weil er schlichtweg klimatisch nicht mehr besteht.
Wie Astrid Epiney bereits 2005 im „Kommentar zum Grundgesetz“ (herausg. von v.Mangoldt, Klein, Starck, Verlag Franz Vahlen, 5. Aufl., Band 2, S.175) betonte, sind „die Interessen künftiger Generationen als Handlungsmaßstab schon von der heute lebenden Generation einzubeziehen“. Diese Kausalität ist also nicht neu und grundsätzlich auch dem Ersten Senat klar. Nur anders wie Epiney sieht er nirgends aktuell „irreversible() Entscheidungen und damit nicht wiedergutzumachende() Umweltschäden“, zumindest keine, welche man aus nationaler Sicht als Verstoß des Gesetzgebers gegen Art. 20a GG betrachten kann. Warum diese Inkonsequenz? Dazu sollte man sich von der Vorstellung lösen, dass das BVerfG hier eine wegweisenden Beitrag zum Klimaschutz leistet. Angemessen ist viel mehr, dass das Gericht hier reagiert, bzw. aufgrund von Protest reagieren muss und sich nun um eine ihm angemessen erscheinende verfassungs- und völkerrechtliche Einordnung bemüht bzw. bemühen muss. Immerhin läuft da außerhalb der deutschen Naivität und Inkonsequenz schon einiges, wie z.B. die erfolgreichen Klimaklagen in Irland, Frankreich und den Niederlanden zeigen.
Für Matthias Goldmann besteht deshalb die Besonderheit der Entscheidung des Ersten Senats in einer geschickten Verflechtung von Völker- mit Verfassungsrecht, die er zu einem „Postcolonial Turn in Constitutional Law“ stilisiert, der von der bisherigen, eher national orientierten, Haltung des Zweiten Senats abweicht, und als „The Duty to be a Good Global Citizen“ (zu dt.: „Die Pflicht, ein guter Weltbürger zu sein“) sogar Konsequenzen für den nationalen Umgang mit so etwas wie der globalen Corona-Pandemie haben soll. Und tatsächlich gibt der Erste Senat auch der Beschwerde von jungen Menschen aus Nepal und Bangladesch vor einem deutschen Gericht teilweise (!) Recht – wenn auch ohne unmittelbare Auswirkungen auf die deutsche oder internationale Klimapolitik. Die geringen aktuellen praktischen Konsequenzen sind, mit Ausnahme einer gesetzlichen (nicht auf den Verordnungsweg beschränkten) Regelung für die Zeit nach 2030, eine Art „Markenzeichen“ der jetzigen Entscheidung. Aber immerhin behindert der Erste Senat nicht die aktuellen Kämpfe um eine höhere Senkung der industriellen und sonstigen Belastungen der Umwelt, wenngleich er z.B. im weiter fortschreitenden Braunkohleabbau keine Verstoß gegen Art. 20a GG sieht. Schön, dass der Senat für eine grundrechtsschonende Klimapolitik ist (anders wie beim Infektionsschutz zurzeit). Aber woher weiß er, dass dies auch im Zeitraum bis 2030 noch möglich ist? Die Hoffnung stirbt als letztes – trotz aller Umweltzerstörung bereits jetzt.
Sehr anschaulich macht das praktische Problem Max Steinbeis vom Verfassungsblog in seinem Newsletter vom 1. Mai deutlich: „Hat hier das Verfassungsgerichte mal wieder übergriffig die Gestaltungsspielräume der Politik eng gemacht? Hat es sich wieder einmal als Ersatzgesetzgeber und Philosophenkönig aufgespielt? Mir scheint, das Gegenteil ist der Fall.“ Steinbeis hält (wie Buser) für das dogmatisches Kernstück der Entscheidung die Aussage: „Der Gesetzgeber hat hingegen Grundrechte verletzt, weil er keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen hat, die – wegen der gesetzlich bis 2030 zugelassenen Emissionen in späteren Zeiträumen möglicherweise sehr hohen -Emissionsminderungspflichten grundrechtsschonend zu bewältigen.“ (Beschluss Rdnr. 182). Zu dem „Wie“ stellt Steinbeis allerdings nur fest, dass der klimapolitische Gesetzgeber „sich gegenüber denen, die nach 2030 die Folgen seines heutigen Handelns zu tragen haben werden, rechtfertigen [muss]. Das ist es, was Verfassung tut: Sie öffnet den Raum für die Vielfalt politischer Meinungen und Interessen, indem sie Verfahren und Institutionen bereit stellt, mittels derer diese dann miteinander um Kompromisse und Mehrheiten ringen können“. Die Frage des „Wies“ soll also im demokratischen Meinungsaustausch ausgehandelt werden; anders gesagt: Die jetzige Entscheidung behindert diesen Meinungsfindungsprozess nicht, ersetzt ihn aber auch nicht.
Ein großer Wurf ist diese Entscheidung also nicht. Sie ist vor allem Ergebnis eines unabweisbaren Drucks der Bewegung für ein lebenswerte Umwelt in Deutschland, aber auch international. Interessant ist weniger die Kernaussage der Entscheidung (s.o.); schon weil sie ja bereits nahezu wörtlich im Grundgesetz steht. Zwar ist erfreulich, dass der Erste Senat dem Gesetzgeber durchaus auch eine Aufgabe zuweist. Was die Lösung der Aufgabe und deren verfassungsrechtliche Einbettung durch den Senat betrifft, ist jedoch ein genaues Studium der Interpretation von Art. 20a GG durch den Ersten Senat wichtig. Beispielsweise sollte beachtet werden, dass der Senat nur natürliche Personen eine Klagerecht zuerkennt und nicht den Umweltorganisationen. Dies erscheint schon deshalb kritikwürdig, weil sog. „juristische Personen“ wie umweltschädigende Unternehmen sich auch weiterhin gegen demokratisch erlassene gesetzliche Einschränkungen zum Umweltschutz mit Verfassungsbeschwerde wehren können. Andreas Buser sieht noch andere kritische Punkte:
So lässt für Buser das Gericht die Frage „nach dem Bestehen eines „Grundrechts auf ein ökologisches Existenzminimum“ offen. „Das ist schade, hätte die Anerkennung eines solchen Rechts doch eine Übertragung der Grundsätze zum wirtschaftlichen und sozialen Existenzminimum (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) erlaubt. (…) Das Verfassungsgericht ist dagegen der Ansicht, ein solches Grundrecht greife erst dann, wenn eine Klimakatastrophe von solchem Ausmaß drohe, dass über Anpassungsmaßnahmen „zwar noch Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum, nicht aber die sonstigen Voraussetzungen sozialen, kulturellen und politischen Lebens gesichert werden könnten“ (Rn. 115). Die Abwendung eines solchen Zustands hält das Gericht „bei entsprechender Anstrengung“ immerhin für „möglich“, weswegen hier eine Beschwerdebefugnis abgelehnt wird.“ (…) Je nach Schwere des Eingriffs, der Möglichkeit, Schutzmaßnahmen zu ergreifen und der Wahrscheinlichkeit der drohenden Gefahr, kann dem Gesetzgeber auf diesem Wege ein, mal eng, mal weit gefasster Spielraum zugestanden werden. (…) Angesichts der Schwere der drohenden Gefahren des Klimawandels einerseits und der begrenzten außenpolitischen Möglichkeiten zur Beeinflussung des Treibhausgasausstoßes anderer Staaten andererseits, wäre zumindest eine Vertretbarkeitskontrolle angezeigt gewesen. Demgegenüber wertet das BVerfG die prognostischen Unsicherheiten im Hinblick auf die Eintrittswahrscheinlichkeit bestimmter mit dem Klimawandel verbundener Gefahren durchgängig zu Gunsten eines weiten Spielraums von Bundestag und Bundesregierung. (…) Ein weiterer Aspekt des Beschlusses betrifft Schutzpflichten der Bundesrepublik gegenüber Bewohner*innen des besonders vom Klimawandel betroffenen Globalen Südens. Das BVerfG lässt diese zentrale Frage klimapolitischer Gerechtigkeitsdiskurse leider offen. (…) Zudem hätte es auch hier auf der Hand gelegen, auf die besondere Schwere und hohe Wahrscheinlichkeit der drohenden Beeinträchtigungen für die Beschwerdeführenden aus Nepal und Bangladesch einzugehen…“ Ferner „bleibt letztlich offen, welches Restbudget Deutschland von Verfassung wegen noch emittieren darf. (…) Einen Grundrechtsverstoß mag das Gericht (…) erst in der fehlenden Festsetzung von Jahresemissionsmengen für die Jahre nach 2030 festzustellen (Rn. 243 ff.).“
Dies sind nur einige interessante kritische Anmerkungen von Buser, die jedoch deutlich machen, was wirklich in dem „epochalen“ Beschluss des Gerichts steckt und wo dessen Grenzen liegen. Für Buser ist das „letzte Wort in Sachen verfassungsrechtlichen Klimaschutzes“ mit dieser Entscheidung „sicherlich noch nicht gesprochen. Es bleibt abzuwarten, wie der EGMR mit bereits anhängigen „Klimaindividualbeschwerden“ (…) umgehen wird und ob er den Staaten möglicherweise nur einen engeren „margin of appreciation“ einräumt. Einige Prozessbevollmächtigte haben in Reaktion auf den Beschluss bereits die Prüfung eines Vorgehens vor dem EGMR angekündigt.“ Eines zeigt der Beschluss sicher: Wichtig ist Widerstand, vor allem außerparlamentarisch. Desto machtvoller, umso erfolgreicher – auch juristisch.