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„Die Situation ist äußerst fragil“. Der Kampf um Griechenlands Hochschulen geht weiter

Polizeiaufmarsch gegen Anarchisten in Athen - Anfang August 2019„…Geplant ist eine Verschärfung der Zugangsbeschränkungen, ein Disziplinar- und Überwachungssystem, das kulturelle und politische Aktivitäten von Studierenden massiv beschränkt, und die Zwangsexmatrikulation derjenigen, die die Regelstudienzeit überschreiten. Das trifft vor allem Studierende aus ärmeren Familien, die unter ohnehin prekären Bedingungen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen. Zudem sollen die privaten Kollegs den öffentlichen Hochschulen gleichgestellt werden. Es handelt sich um einen Generalangriff auf das öffentliche Bildungssystem und die damit verbundenen Rechte. [Gibt es Widerstand dagegen?] Ja, die Proteste waren bisher entsprechend massiv. Neben Schülern und Studierenden beteiligen sich auch Gewerkschaften, linke Parteien und zahlreiche Professoren am Widerstand gegen die Regierungsvorlage, selbst die Hochschulleitungen sind gegen das nach der Bildungsministerin benannten „Kerameos-Gesetz“. Allerdings findet dieser Frontalangriff auf das Bildungssystem vor dem Hintergrund der staatlichen Pandemiebekämpfung statt. Die Gelegenheit zur Durchsetzung einschneidender Maßnahmen ist unter den Bedingungen einer Ausgangssperre ideal. Die Hochschulen sind seit gut einem Jahr geschlossen. Alle Vorlesungen finden digital statt. Die Studierenden waren also in einer äußerst schwierigen Situation, überhaupt Widerstand zu entwickeln. Für weite Teile des öffentlichen Lebens gilt zudem ein rigider Lockdown. Demonstrationen zählen nicht zu den triftigen Gründen, um das Haus verlassen zu dürfen.Da sich viele Menschen dennoch nicht davon abhalten lassen, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen, sollen Hunderte von ihnen Bußgeld zahlen. Es werden mehr Strafen wegen eines Verstoßes gegen die Ausgangsbeschränkungen verhängt als CoViD-19-Tests durchgeführt. Angesichts der dramatischen sozialen Lage ist ein Bußgeld von 300 Euro für die meisten eine existenzielle Bedrohung. Mittlerweile gibt es eine breite Solidaritätsbewegung, die für eine Rücknahme der Bußgeldbescheide kämpft…“ aus dem Interview „»Angriff auf das öffentliche Bildungssystem«“ von Andreas Schuchardt mit Gregor Kritidis (ursprünglich in gekürzter Fassung am 16. Februar 2021 in der jungen Welt, hier in Vollfassung, wofür wir dem Autor danken!). Siehe dazu die Dokumentation des ganzen Interviews und auch den Hinweis auf unseren ersten Beitrag zum Widerstand gegen die reaktionäre Hochschulreform in Griechenland:

„Die Situation ist äußerst fragil“

(Ein Gespräch mit Gregor Kritidis über Universitätspolizei, Bildungsreform, Bußgeld und soziale Frontalangriffe in Zeiten der Pandemie in Griechenland. Dr. Gregor Kritidis ist seit vielen Jahren in der deutschen Griechenland-Solidarität aktiv. Interview: Andreas Schuchardt)

Die konservative Regierung von Kyriakos Mitsotakis will in Griechenland eine spezielle Universitätspolizei einführen. Was ist der Hintergrund?

Mit der Universitätspolizei soll ein aus Sicht der Regierung chronisches Problem gelöst werden: Die Hochschulen als Ort sozialer Unruhe sollen autoritär befriedet werden. Es ist bezeichnend, dass der Gesetzentwurf gemeinsam von der zuständigen Bildungsministerin und dem Minister für innere Sicherheit vorgestellt wurde. Es geht aber nicht nur um die Aufstellung einer zusätzlichen Polizeitruppe. Der Gesetzentwurf muss im unmittelbaren Zusammenhang mit den Veränderungen im Bildungssektor gesehen werden, die in den letzten Jahren von verschiedenen Regierungen vorangetrieben wurden. Seit den frühen 1990er Jahren lautet das zentrale Versprechen, dass jeder durch individuelle Bildung den sozialen Aufstieg schaffen kann. Tatsächlich ist aber der Zugang insbesondere zur Hochschulbildung immer weiter erschwert worden. Das hat immer wieder zu massiven Auseinandersetzungen geführt.

Wie sollen die Hochschulen der Zukunft aussehen?

Geplant ist eine Verschärfung der Zugangsbeschränkungen, ein Disziplinar- und Überwachungssystem, das kulturelle und politische Aktivitäten von Studierenden massiv beschränkt, und die Zwangsexmatrikulation derjenigen, die die Regelstudienzeit überschreiten. Das trifft vor allem Studierende aus ärmeren Familien, die unter ohnehin prekären Bedingungen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen. Zudem sollen die privaten Kollegs den öffentlichen Hochschulen gleichgestellt werden. Es handelt sich um einen Generalangriff auf das öffentliche Bildungssystem und die damit verbundenen Rechte.

Gibt es Widerstand dagegen?

Ja, die Proteste waren bisher entsprechend massiv. Neben Schülern und Studierenden beteiligen sich auch Gewerkschaften, linke Parteien und zahlreiche Professoren am Widerstand gegen die Regierungsvorlage, selbst die Hochschulleitungen sind gegen das nach der Bildungsministerin benannten „Kerameos-Gesetz“. Allerdings findet dieser Frontalangriff auf das Bildungssystem vor dem Hintergrund der staatlichen Pandemiebekämpfung statt. Die Gelegenheit zur Durchsetzung einschneidender Maßnahmen ist unter den Bedingungen einer Ausgangssperre ideal. Die Hochschulen sind seit gut einem Jahr geschlossen. Alle Vorlesungen finden digital statt. Die Studierenden waren also in einer äußerst schwierigen Situation, überhaupt Widerstand zu entwickeln. Für weite Teile des öffentlichen Lebens gilt zudem ein rigider Lockdown. Demonstrationen zählen nicht zu den triftigen Gründen, um das Haus verlassen zu dürfen. Da sich viele Menschen dennoch nicht davon abhalten lassen, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen, sollen Hunderte von ihnen Bußgeld zahlen. Es werden mehr Strafen wegen eines Verstoßes gegen die Ausgangsbeschränkungen verhängt als CoViD-19-Tests durchgeführt. Angesichts der dramatischen sozialen Lage ist ein Bußgeld von 300 Euro für die meisten eine existenzielle Bedrohung. Mittlerweile gibt es eine breite Solidaritätsbewegung, die für eine Rücknahme der Bußgeldbescheide kämpft.

Kommt Griechenland mit der Corona-Pandemie zurecht?

Die Regierung appelliert immer wieder an die individuelle Verantwortung bei der Eindämmung der Pandemie, unternimmt aber keinerlei Initiativen, den Gesundheitssektor zu stärken. Das Gegenteil ist der Fall, die Privatisierung der Gesundheitsversorgung wird vorangetrieben, während der öffentliche Gesundheitssektor die zusätzliche Last durch die an CoViD-19-Erkrankten tragen muss. Angesichts fehlender Ressourcen findet eine weitere Einschränkung der Gesundheitsversorgung statt, viele Menschen werden schlicht und einfach nicht mehr behandelt. In der ersten Phase der Pandemie haben viele Menschen in Griechenland angesichts des desaströsen Zustandes des Gesundheitssystems die Politik der Regierung mitgetragen. Mittlerweile ist aber vielen deutlich geworden, dass die Regierung und die hinter ihr stehenden Interessengruppen gar keine besondere Priorität auf die Pandemiebekämpfung legen, sondern die Pandemie als Vorwand für den Abbau der öffentlichen Infrastruktur und die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse nutzen.

Seit Anfang Januar gibt es mit Makis Voridis einen neuen Innenminister. Welche Veränderungen sind von ihm in Bezug auf Grundrechte und Flüchtlingspolitik zu erwarten?

Die Rechte von Flüchtlingen, wenn man davon überhaupt noch im positiven Sinne – und nicht vielmehr von einem rechtlosen Zustand – reden kann, fallen teilweise in Voridis Zuständigkeitsbereich, teilweise in den des Ministeriums für Migration und Asyl. Voridis gehört zum nationalistischen Flügel der Nea Dimokratia, der in der Tradition faschistischer Strömungen steht. Er war in den 1980er Jahren Nachfolger von Nikos Michaloliakos, dem „Führer“ der Goldenen Morgendämmerung, und Vorsitzender der faschistischen EPEN. Die Staatssekretärin des liberalen Migrationsministers Sofia Vouletpsi hat die Menschen auf der Flucht als „unbewaffnete Invasoren, eine Waffe in den Händen der Türkei“ bezeichnet. Damit ist bereits alles Wesentliche gesagt: Es wird auch zukünftig eine Politik der Abschreckung betrieben, indem weiterhin Tausende von Flüchtlingen in Lagern vor allem auf den Inseln der östlichen Ägäis interniert bleiben. Die Menschen, die aus den Kriegs- und Krisengebieten dort gestrandet sind, werden aller elementaren Rechte beraubt, übrigens mit voller Billigung aller Staaten der Europäischen Union. Im Zuge der Pandemie-Politik ist die Situation für die Migrantinnen und Migranten weiter verschärft worden, ein Verlassen der Lager nur noch in Einzelfällen möglich, gleichzeitig mangelt es an einer elementaren sanitären Versorgung.                                   

Außenpolitisch war das vergangene Jahr durch heftige Spannungen mit der Türkei über die jeweiligen Gebietsansprüche in der Ägäis gekennzeichnet. Nun soll es Gespräche geben. Stehen die Zeichen also auf Entspannung?

Ich denke, dass sich die Phasen der Entspannung und Konfrontation weiter abwechseln werden. Entscheidend ist dabei nicht nur die innenpolitische Situation in Griechenland und der Türkei, sondern vor allem die Positionierungen der Groß- und Regionalmächte. So ist zum Beispiel die Position der EU in dieser Frage gespalten. Während die Bundesregierung an ihrer langfristigen Kooperation mit der Türkei festhält, unterstützt die Regierung Macron die griechische Regierung. Es wird ein komplizierter Prozess, die unterschiedlichen Interessen in der Balance zu halten und wenn möglich zu einem Ausgleich zu bringen, wobei schon kleinere Zwischenfälle zu einer militärischen Auseinandersetzung eskalieren können. Die Linke in Griechenland und der Türkei steht vor der Aufgabe, die jeweiligen Regierungen durch nachdrückliche Friedensaktionen daran zu erinnern, dass eine militärische Aktion massiven Widerstand auslösen würde.

Athens Militärausgaben sollen kräftig steigen. Hat das Land trotz Corona-Pandemie, hoher Staatsverschuldung und enormer Arbeitslosigkeit tatsächlich so viel Geld übrig?

Die Staatverschuldung ist 2020 auf rund 350 Milliarden Euro gestiegen. Das sind mehr als 200 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts. Zum Vergleich: Bei Ausbruch der Staatsschuldenkrise lag sie 2010 noch bei 146 Prozent bzw. 330 Mrd. Euro. Aus Sicht der Investoren in Staatsanleihen ist das aber kein Problem, solange der Schuldendienst gewährleistet bleibt. Deshalb wird immer auf den sogenannten Primärüberschuss im Staatshaushalt, also den Überschuss vor Schuldendienst, geachtet. Da die griechischen Regierungen seit 2010 massiv an der Steuerschraube gedreht und die staatlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit, Sozialleistungen, Katastrophenschutz etc. extrem zusammengestrichen haben, gab es diesen Primärüberschuss. Die zusätzlichen Ausgaben für die Aufrüstung im zweistelligen Milliardenbereich in den nächsten fünf Jahren bedeuten, dass die Austeritätspolitik weiter verschärft wird – zumal, aufgrund der durch die Lockdowns verursachten ökonomischen Turbulenzen, mit erheblichen Steuerausfällen zu rechnen ist. Die aggressive Politik der Regierung gegen große Teile der Bevölkerung hat also starke ökonomische Motive. 

Welche Folgen hat das für die Basis der Regierung Mitsotakis in der Bevölkerung?

Die Stimmung der Bevölkerung ist sehr schwer einzuschätzen. Die Regierung in Athen hat enorm von der ersten Phase der Corona-Pandemie profitiert. Die allgemeine Panikmache in den regierungsfreundlichen Medien ließ kritische Stimmen weitgehend verstummen. Es war kaum möglich, die Fragen nach einer realistischen Risikoeinschätzung oder nach der Angemessenheit einzelner Maßnahmen überhaupt zu diskutieren. Mit dem Vorhaben, die Demonstrationen zum 1. Mai 2020 zu verschieben, hat die Exekutive den Bogen dann aber überspannt. Eine breite Mehrheit der linken und gewerkschaftlichen Organisationen hat sehr diszipliniert demonstriert und sich nicht von den Drohungen der Regierung einschüchtern lassen. Mittlerweile lassen sich die sozialen und politischen Widersprüche nicht mehr einfach beiseite wischen. Die Arbeitslosigkeit ist im Oktober auf rund 17 Prozent gestiegen, bei den Jüngeren bis 25 Jahre beträgt sie 35 Prozent. Die Zahl derjenigen, welche die mit maximal 534 Euro sehr kärglich bemessene Unterstützung wegen Kurzarbeit oder Verdienstausfall erhalten sollen, liegt mit rund 660.000 Berechtigten bei ebenfalls 17 Prozent. Das sind – wohlgemerkt – nur die offiziellen Zahlen. Tatsächlich leben sehr viel mehr Menschen unter prekären Bedingungen und sind auf Suppenküchen und andere Formen solidarischer Hilfe angewiesen. Oberflächlich betrachtet hat die Regierung Mitsotakis einiges getan, um die sozialen Folgen von Pandemie und Lockdown abzufedern. Faktisch findet jedoch ein Angriff auf das Lohnniveau und das Arbeitsrecht statt, etwa durch die Aushebelung der Arbeitszeitbeschränkung. Inwieweit die abhängig Beschäftigten in der Lage sind, diese Angriffe zurückzuschlagen und es zu neuen Allianzen und zu einer Neuorientierung der politischen Linken kommen wird, bleibt abzuwarten. Die Situation ist äußerst fragil.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=186684
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