Eine Wende in der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik? Die IGM-Tarifrunde und die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche
„Mitte Dezember haben die Verhandlungen in der Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie begonnen. Bereits im Sommer hatte der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann sich für die Einführung einer Vier-Tage-Woche mit Teillohnausgleich ausgesprochen. Kommt damit der kollektive Kampf um kürzere Arbeitszeiten zurück auf die gewerkschaftliche Tagesordnung? Stephan Krull rückt das Bild zurecht. (…) Es geht dabei nicht nur um Vollzeitbeschäftigte in der Metallindustrie, auch um die Erwerbslosen, die prekär Beschäftigten, die schlecht entlohnten Beschäftigten, überwiegend Frauen, in vielen Dienstleistungsbereichen, im Bildungs- und Gesundheitswesen. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung auf durchschnittlich vier Tage pro Woche, eine faire Verteilung der Arbeit verbessert die Verhandlungs- und Machtposition der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften in allen Wirtschaftsbereichen. Es geht auch nicht nur um Arbeit, sondern gleichermaßen um unsere Umwelt, um den Output unserer Arbeit. Industrielles Wachstum und ständige Produktivitätssteigerungen führen in unserer endlichen Welt zur Erschöpfung der Ressourcen und zu einer Überlastung der Natur einschließlich des Klimas. Nicht alles kann und muss weiter wachsen. Ein gutes Leben für alle erfordert nicht mehr Produkte, sondern mehr frei verfügbare Zeit….“ Artikel von Stephan Krull, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 01/2021:
Eine Wende in der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik?
Die IGM-Tarifrunde und die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche – von Stephan Krull
Mitte Dezember haben die Verhandlungen in der Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie begonnen. Bereits im Sommer hatte der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann sich für die Einführung einer Vier-Tage-Woche mit Teillohnausgleich ausgesprochen. Kommt damit der kollektive Kampf um kürzere Arbeitszeiten zurück auf die gewerkschaftliche Tagesordnung? Stephan Krull rückt das Bild zurecht.
Die Ausgangslage
Die Konjunktur für die exportorientierte Metall-, Elektro- und Autoindustrieindustrie ist auf dem Tiefpunkt angelangt. »Unsere Industrie befand sich schon vor Corona in der Rezession«, erklärt der Chef der bayerischen Metallarbeitgeber (Zeit online, 16. Dezember 2020) und kündigt den Abbau von zehntausenden Arbeitsplätzen im Verlaufe des Jahres 2021 an. Soweit es nicht um Verlagerungen von Produktion zwecks Senkung der Lohnkosten in osteuropäische oder asiatische Länder geht, sind es die sinkende Nachfrage auf dem Weltmarkt, der neue Protektionismus, die Finanzspekulationen und sinkende Investitionen, die zu diesen Einbrüchen führen. Bundesregierung und EU unterstützen solches Treiben: Daimler investiert in ein Werk im ungarischen Kecskemét ca. 150 Mio. Euro und bekommt fast ein Drittel davon (ca. 42 Mio. Euro) von der ungarischen Regierung als Subvention – und das zur gleichen Zeit, zu der das traditionsreiche Werk in Berlin geschlossen werden soll. Zu den Grenzen des neoliberalen Weltlabors kommt das Bewusstsein von immer mehr Menschen hinzu, dass die Begrenzung des Klimawandels im globalen Norden eine andere Lebensweise und in allen Industrieländern eine andere Produktionsweise erfordert.
Und die IG Metall? Vergessen das Jahr 2018, als ein tarifliches Zusatzgeld von 27,5 Prozent eines Monatslohns erkämpft wurde, auf das aber zugunsten von arbeitsfreier Zeit verzichtet werden kann? Fast alle nehmen Freizeit statt Geld. Vergessen die Ergebnisse der jüngsten Beschäftigtenbefragung? [1] Für 2/3 der Befragten ist in der anlaufenden Tarifrunde die Vier-Tage-Woche von besonderer Bedeutung.
Im Jahr 2020, während der ersten Phase der Pandemie, hat die IG Metall den Arbeitgebern ein Stillhalteabkommen (Moratorium) angeboten, das diese gerne angenommen und den abgeschlossenen »Solidartarifvertrag« schnell gebrochen haben. Es gab keine Lohnerhöhungen – dafür aber massenhaft angekündigten und teils umgesetzten Stellenabbau. Es schien ein Wettbewerb ausgebrochen, wer am meisten Personal abbauen will: Daimler, Volkswagen, Bosch oder Conti – unter 15.000 hat es niemand gemacht. Der Verzicht ohne Gegenleistung musste scheitern und wirkt nun als Last auf den Schultern der Beschäftigten, die jetzt in die nächste Tarifrunde ziehen.
In der Krise verstärkt sich die Ungerechtigkeit: Für fast 50 Prozent der Männer wird Kurzarbeitergeld aufgestockt, jedoch nur für 36 Prozent der Frauen (dritte Erwerbspersonenbefragung der Böckler-Stiftung, November 2020).
Forderungen und Gegenforderungen
Die IG Metall fordert einen »Zukunftspakt«, um Beschäftigung zu sichern und Einkommen zu stärken. »Vom Betrieb aus denken« heißt in diesem Kontext: Die Gewerkschaft muss Rücksicht nehmen, weil die Unternehmen die Digitalisierung, den Klimawandel und den Umstieg auf E-Mobilität bewältigen müssen – als seien das Dinge, die schicksalhaft auf die Betriebe einprasseln. Der Vorstand der IG Metall geht von lang anhaltender Stagnation aus, in der Kurzarbeit nicht zur Überbrückung ausreicht. Deshalb schlägt die IGM eine Vier-Tage-Woche mit teilweisem Lohnausgleich vor – nicht kollektiv und für alle, sondern als Wahlmöglichkeit für Betriebe oder gar einzelne Abteilungen. Damit könne »bei Auftragsmangel« das geringere Arbeitsvolumen auf die Beschäftigten verteilt und Personalabbau vermieden werden.
Die IG Metall hebt hervor: Die Arbeitgeber hätten von der Arbeitszeitabsenkung Vorteile. Sie müssen nicht entlassen, sparen sich Abfindungen und können ihre Fachkräfte für bessere Zeiten halten, statt sie dann wieder »mühsam« auf dem Arbeitsmarkt zu suchen. [2]
Weiter will die IG Metall »passgenau, Betrieb für Betrieb« Zukunftsinvestitionen in Technik und Qualifikation vereinbaren. Das alles mit einer Forderung im Volumen von nicht mehr als vier Prozent – die Preissteigerung und die Produktivitätsentwicklung (darum geht es ja bei der Digitalisierung) schon eingerechnet. So wenig auf dieser Basis der »Kampf um jeden Arbeitsplatz« gewonnen werden kann, so wenig können auf dieser Basis die Einkommen gestärkt werden. Und damit stellt sich die Frage, ob die IG Metall das wirklich will, was sie ankündigt.
Seit Langem erleben wir, dass der Klassenkampf von oben gegen die Beschäftigten und gegen die Gewerkschaften geführt wird. In kleineren und größeren Abwehrkämpfen werden soziale Standards mit Zähnen und Klauen verteidigt – oft nicht erfolgreich. Von geplanter Arbeitsplatzvernichtung bei Bosch, Conti, Daimler, MAN und BMW berichtet mit Empörung die Januar-Ausgabe der Gewerkschaftszeitung: »Um ihr Sparprogramm durchzuboxen, hat die Konzernleitung von MAN (immerhin eine Tochter des VW-Konzerns) ihren Standort- und Beschäftigungssicherungsvertrag, der eigentlich bis 2030 vereinbart ist, einfach aufgekündigt.« Sie schließen Werke, weil sie es können. Sie können es, weil Tarifverträge das nicht wirklich ausschließen, weil das bürgerliche Recht auf ihrer Seite ist, weil sie die Macht dazu haben und weil die Abwehrkämpfe nur »Betrieb für Betrieb« geführt werden, aber nicht koordiniert. Lakonisch ist in der Metall-Zeitung zu BMW zu lesen: »Klar verlangt das Management Gegenleistungen: mehr Flexibilität, geringere Kosten. Und für das neue E-Antriebszentrum haben die Beschäftigten in Dingolfing auf ihre fünf Minuten bezahlte Brotzeit verzichtet.« Die Gewerkschaften, die anderen Industriegewerkschaften und ver.di eingeschlossen, haben es bisher nicht fertig gebracht, den Generalangriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen mit einem gemeinsamen Widerstand zu beantworten. Dem DGB als Dachverband wird von den großen Gewerkschaften fast keine Rolle mehr zugebilligt, weshalb er der Deregulierung des Arbeitsmarktes nichts entgegensetzen, nicht einmal die Rückzugsgefechte koordinieren und synchronisieren kann.
Arbeitgeber und ihre Verbände sehen die Zeit gekommen, selbst Forderungen zur »Kostensenkung« zu stellen: Personalabbau, Lohnsenkungen, Intensivierung der Arbeit und extensive Arbeitszeitverlängerung. Bei der Leichtmetallgießerei KSM Castings Group GmbH mit vier Standorten in Hildesheim, Wernigerode, Wuppertal und Radevormwald und insgesamt 1.800 Beschäftigten wurden Strategie und Ziel in der jüngsten Auseinandersetzung beispielhaft sichtbar. Mit Androhung von hunderten Entlassungen und massiven Lohnsenkungen ging eine Unternehmensberatung – die, die bei Wirecard schon falsch testiert hat – in die Verhandlung mit der IG Metall: Das sei die Voraussetzung für zukunftsträchtige Investitionen. Die vier Standorte wurden ständig gegeneinander ausgespielt. Wirklich erfolgreich waren Verhandlungen und weitgehend gemeinsamer Widerstand jedoch nicht: 20 Prozent der Arbeitsplätze werden in eine Transfergesellschaft überführt und verschwinden aus den Personalkosten des Unternehmens, die Lohnminderung wird, etwas abgeschwächt, in den westdeutschen Standorten umgesetzt – dafür wird im ostdeutschen Wernigerode drei Stunden länger pro Woche gearbeitet.
Die Perspektive 2021
Es ist absehbar, dass spätestens nach der Bundestagswahl die Situation vieler Betriebe und Beschäftigter sehr schwierig sein wird. Kurzarbeit, Personalabbau, Betriebsschließungen und Insolvenzen werden die Gesellschaft vor der Bundestagswahl 2021 beschäftigen. Ohne breite gesellschaftliche Unterstützung wird die Gewerkschaft ihre Ziele nicht durchsetzen können. Die wichtigste Forderung wäre die nach Einführung der Vier-Tage-Woche. Es ist aber seltsam still um diese Forderung – obgleich wir gerade ganz ungeplant ein gesellschaftliches Großexperiment mit Arbeitszeitverkürzung erleben. Kurzarbeit ist schnell, unbürokratisch und relativ großzügig bemessen eingesetzt worden, um Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Damit wird an die Erfahrungen mit der Kurzarbeit in der Finanzkrise 2008-2010 angeknüpft, als diese Maßnahme dazu geführt hat, dass bei einem Rückgang des BIP um 5,6 Prozent ein Zuwachs der Arbeitslosigkeit um nur 1 Prozent zu verzeichnen war.
Die auch von Gewerkschaften geäußerte Kritik, dass die Höhe des Kurzarbeitergeldes von 60 bzw. 67 Prozent des letzten Nettogehalts für Beschäftigte in den unteren und mittleren Lohngruppen zu niedrig ist, und ihre Forderung, das Kurzarbeitergeld auf 90 Prozent des letzten Netto anzuheben, verweisen auf die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, mindestens für die unteren Einkommensgruppen. In der Kurzarbeit liegt doch eine Möglichkeit, in eine kollektive Arbeitszeitverkürzung einzusteigen.
Bei vielen Menschen und Aktiven in den sozialen Bewegungen wurde durch die Ankündigung der Vier-Tage-Woche die Vorfreude auf eine Wende in der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik geweckt: die Abkehr von individuellen und einzelbetrieblichen Lösungen hin zu kollektiven Kämpfen und Ergebnissen. Tatsächlich zielt der Vorschlag nicht auf eine tariflich geregelte, kollektive Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Der Vorbereitungskreis »Offensive Gewerkschaftspolitik« schreibt dazu: »Er scheint darauf zu zielen, betrieblich und im Einvernehmen mit den Arbeitgebern – wenn Kurzarbeit nicht mehr möglich ist – im Wege einer Betriebsvereinbarung die Arbeitszeit weiter zu verkürzen.« [3]
Dann wäre der Vorschlag nicht mit einer außerbetrieblichen Kampagne verbunden. Es wäre die Chance vertan, andere Gewerkschaften und gesellschaftliche Kräfte in diese längst notwendige Kampagne einzubeziehen. Diesen Vorschlag durchzusetzen, braucht es aber diese große Kampagne, für die die Grundlagen schon gegeben sind: Parteien wie die SPD, Die LINKE und Die Grünen, auch der Arbeitnehmerflügel der CDU, treten für Arbeitszeitverkürzung ein. Die Forderung nach radikaler Arbeitszeitverkürzung wird unterstützt von kirchlichen ArbeitnehmerInnengruppen, von ArbeitsmedizinerInnen, kritischen WirtschaftswissenschaftlerInnen, Jugendverbänden, der Jugendbewegung Fridays for Future, Fraueninitiativen sowie der Umwelt- und Klimabewegung. [4]
Es geht dabei nicht nur um Vollzeitbeschäftigte in der Metallindustrie, auch um die Erwerbslosen, die prekär Beschäftigten, die schlecht entlohnten Beschäftigten, überwiegend Frauen, in vielen Dienstleistungsbereichen, im Bildungs- und Gesundheitswesen. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung auf durchschnittlich vier Tage pro Woche, eine faire Verteilung der Arbeit verbessert die Verhandlungs- und Machtposition der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften in allen Wirtschaftsbereichen.
Es geht auch nicht nur um Arbeit, sondern gleichermaßen um unsere Umwelt, um den Output unserer Arbeit. Industrielles Wachstum und ständige Produktivitätssteigerungen führen in unserer endlichen Welt zur Erschöpfung der Ressourcen und zu einer Überlastung der Natur einschließlich des Klimas. Nicht alles kann und muss weiter wachsen. Ein gutes Leben für alle erfordert nicht mehr Produkte, sondern mehr frei verfügbare Zeit.
Die IG Metall hat in der Krise etwa 250.000 Beschäftigte der Metall-, Elektro-, Stahl und Automobilindustrie gefragt, was ihnen wichtig ist. [5] Trotz persönlicher und finanzieller Einschränkungen haben fast 75 Prozent die Arbeitszeitverkürzung durch Kurzarbeit als Gewinn für sich und ihre Familien empfunden. Für sie ist in der Tarifrunde die Vier-Tage-Woche von besonderer Bedeutung. Diese Hoffnungen aufzugreifen und nicht zu enttäuschen, ist die Verantwortung der IG Metall. Bündnisse können geschmiedet werden, wenn gesellschaftliche Grundfragen gestellt werden. Die Forderung nach allgemeiner Arbeitszeitverkürzung auf durchschnittlich vier Tage in der Woche zur Arbeitsplatzsicherung, zum Abbau von Belastungen, zur fairen Teilung aller Arbeit, zum Schutz von Umwelt und Klima und für ein gutes Leben für alle wäre ein solcher Schritt. In der zitierten Befragung haben fast 75 Prozent gesagt: Wir müssen für unsere Rechte und Interessen gemeinsam kämpfen. Die IG Metall sollte diese Bereitschaft der Beschäftigten ernst nehmen.
Artikel von Stephan Krull, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit – 01/2021
Anmerkungen:
1 www.igmetall.de/im-betrieb/beschaeftigtenbefragung-2020
2 www.igmetall.de/tarif/tarifrunden/metall-und-elektro/faq-tarifbewegung-in-der-metall-und-elektroindustrie
3 https://offensive-gewerkschaftspolitik.de/index.php/ 2020/08/27/fuer-eine-offensive-tarifpolitik-2021/
4 Zum Beispiel die gemeinsame Erklärung von IGM und BUND: www.igmetall.de/presse/pressemitteilungen/ig-metall-und-bund-gegen-soziale-schieflage