Gleichheitsgrundsatz auch für Nachtschichtzuschläge? Erste Verfahren vor BAG gewonnen
„Der Gleichheitsgrundsatz gilt auch für Nachtschichtzuschläge. Das hat der 10. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) heute in zwei Verfahren – gegen die Brauerei Carlsberg (Manteltarifvertrag Brauereien Hamburg/Schleswig-Holstein) – entschieden. Das BAG hält die Differenzierung bei den Zuschlägen für Nachtarbeit im regelmäßigen Schichtbetrieb und bei unregelmäßiger Nachtarbeit für unzulässig. Freddy Adjan, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG): „Das BAG hat unseren klagenden Mitgliedern höhere Nachtschichtzuschläge zugesprochen. Das ist ein erstes wegweisendes Urteil und ein Etappensieg, denn alle Arbeits- und Landesarbeitsgerichte, die über entsprechende Klagen zu diesem Manteltarifvertrag entscheiden, müssen sich an das Urteil des BAG halten.“ (…) Bundesweit sind noch tausende Verfahren im Rahmen von Tarifverträgen der NGG mit Arbeitgeberverbänden der Ernährungsindustrie bei Arbeits- und Landesarbeitsgerichten anhängig. Die Auswirkungen auf andere Tarifverträge können erst eingeschätzt werden, wenn die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt.“ NGG-Pressemitteilung vom 9. Dezember 2020
, siehe ein weiteres BAG-Urteil gegen Coca-Cola:
- Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Arbeitgeber wehren sich erfolgreich gegen höhere Nachtzuschläge
“… Im Streit über tarifliche Nachtzuschläge bei Schichtarbeit waren zwei Unternehmen vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich. Sie hatten sich mit Verfassungsbeschwerden gegen zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts (BAG) nach Karlsruhe gewandt. Die Erfurter Arbeitsrichter hatten sie zur Zahlung höherer als der tariflich vereinbarten Zuschläge für Nachtschichtarbeit verurteilt. Der Erste Senat in Karlsruhe hob die Urteile nun auf und verwies die Verfahren an das Bundesarbeitsgericht zurück (Aktenzeichen: 1 BvR 1109/21 und 1 BvR 1422/23). Im Streitfall ging es um Regelungen zu Nachtarbeitszuschlägen in den Manteltarifverträgen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Brauereien in Hamburg und Schleswig-Holstein sowie für die Arbeitnehmer der obst-, gemüse- und kartoffelverarbeitenden Industrie in Nordrhein-Westfalen. Die tariflichen Regelungen sahen einen Nachtarbeitszuschlag von 25 Prozent für regelmäßig nachts arbeitende Beschäftigte vor. Zudem gab es bezahlte Pausen und Schichtfreizeiten. Nachtarbeiter, die nicht im Schichtdienst arbeiteten, erhielten dagegen einen Nachtarbeitszuschlag von 50 Prozent. Zwei in Schichtarbeit tätige Arbeitnehmer forderten ebenfalls einen Zuschlag in Höhe von 50 Prozent. Die Ungleichbehandlung der tariflichen Regelungen sei nicht nachvollziehbar. Sie seien durch die Nachtarbeit in gleicher Weise belastet wie ihre Kolleginnen und Kollegen. Das Bundesarbeitsgericht gab ihnen recht (Aktenzeichen: 10 AZR 600/20 und 10 AZR 335/20). (…)
Der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes bilde »als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie«, so das BAG. Arbeitnehmer, die Nachtschichtarbeit oder sonstige Nachtarbeit leisten, seien miteinander vergleichbar und müssten daher auch gleichbehandelt werden. Nachtarbeit sei nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen für jeden Menschen gesundheitsschädlich. Es gebe daher keinen Grund, Nachtarbeitszuschläge, die dies ausgleichen sollen, unterschiedlich hoch auszugestalten. (…)
Dem widersprach nun das Bundesverfassungsgericht. Das BAG habe mit seinen Urteilen die Arbeitgeberinnen in ihrer grundgesetzlich geschützten Koalitionsfreiheit verletzt, so die Richterinnen und Richter aus Karlsruhe. Das BAG habe die Bedeutung der Tarifautonomie nicht ausreichend berücksichtigt, so die Verfassungsrichter. Dieses im Grundgesetz verankerte Recht erlaubt es Gewerkschaften und Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden, unabhängig vom Staat über Löhne, Arbeitszeiten und andere Arbeitsbedingungen zu verhandeln. Das Ergebnis dieser Verhandlungen sind Tarifverträge, die dann für bestimmte Branchen oder Betriebe gelten. Die Koalitionsfreiheit ist dabei die rechtliche Grundlage der Tarifautonomie. Sie ist in Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes verankert und garantiert, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber frei in Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden zusammenschließen dürfen, um ihre Interessen zu vertreten. Grundsätzlich müsse eine autonome Aushandlung von Tarifregelungen möglich sein, so das Bundesverfassungsgericht. Die Vergütung von Nachtarbeit liegt im Kernbereich der Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien. Zwar bewirkten die betroffenen Tarifverträge eine Ungleichbehandlung zwischen Nachtarbeitnehmern und Nachtschichtarbeitnehmern. Da den Gerichten hier aber lediglich eine Willkürkontrolle zustehe, sei die hier nicht zu beanstanden.“ Meldung vom 20. Februar 2025 im Spiegel online- Weitere Details dieser interessanten Entscheidung lässt sich der BVerfG-Pressemitteilung vom 19. Februar 2025
zum Beschluss vom Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21
entnehmen
- Weitere Details dieser interessanten Entscheidung lässt sich der BVerfG-Pressemitteilung vom 19. Februar 2025
- BAG-Begründungen für eine finanzielle Gleichbehandlung von Nachschichten
Erfreulicherweise entschied das BAG am 9. Dezember 2020 gleich in zwei Streitfällen, dass ein Gleichheitsgrundsatz bei Nachtschichtzulagen gilt. Zu beiden Verfahren liegt nun die ausführliche Urteilsbegründung vor. Was den Rechtstreit bei der Brauerei Carlsberg (Az. 10 AZR 334/20Parallelentscheidung zu Az. 10 AZR 335/20
) betrifft, erklärt das Gericht , dass eine „Regelung in einem Tarifvertrag, nach der sich der Zuschlag für Nachtarbeit halbiert, wenn sie innerhalb eines Schichtsystems geleistet wird, (…) gegen das allgemeine Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 verstoßen“ kann (Leitsatz). Was den zweiten Fall, einen Unternehmenstarifvertrag bei Coca-Cola European Partners Deutschland (Az. 10 AZR 332/20
) betrifft, wendet sich das BAG an den EuGH mit der Bitte um eine Vorabentscheidung (nach Art. 267 AEUV) mit der Frage: „Kann es gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 20 Charta der Grundrechte der Europäischen Union iVm. Vorgaben der Arbeitzeitrichtlinie 2003/88/EG verstoßen, wenn ein Tarifvertrag für regelmäßige Nachtarbeit geringere Zuschläge vorsieht als für unregelmäßige Nachtarbeit?“ (Leitsatz).
Die Haltung des BAG zu dieser, bereits aus gesundheitlichen Gründen unsinnigen Unterscheidung, ist also ziemlich eindeutig am Gleichheitsgrundsatz orientiert (Art. 3 GG sowie Art. 20 EU-GRCh), und damit auf alle vergleichbaren betrieblichen Fallkonstellationen übertragbar. Gewerkschaften, Betriebsräte aber auch allen Einzelbetroffenen sei deshalb nach Lektüre beider Entscheidungen der Klageweg empfohlen, damit aus Einzelentscheidungen Rechtsgründsätze werden. Die Instanzengerichte können nicht mehr vom BAG abweichen. Siehe: - [BAG zum Verfahren gegen Coca-Cola] Schicht oder nicht? Unterschiedliche Nachtzuschläge werden zum Fall für den EuGH
„Sind tarifvertragliche Regelungen, die unterschiedliche Nachtzuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit vorsehen, rechtens? Oder verstoßen sie gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Grundgesetzes, wie eine Klägerin glaubt? Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat diese Fragen vorerst nicht beantwortet, sondern sich an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) gewandt (Az.: 10 AZR 332/20 (A)). Auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin ist der Manteltarifvertrag der Erfrischungsgetränke-Industrie anzuwenden. Er sieht einen Zuschlag von 20 Prozent der Stundenvergütung für regelmäßige und von 50 Prozent für unregelmäßige Nachtarbeit vor. Die Angestellte arbeitete nachts in einem Schichtmodell und erhielt dafür den geringeren Zuschlag von 20 Prozent. Sie klagte, weil sie der Ansicht ist, dass die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge gegen den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Artikel 3 des Grundgesetzes verstößt. Nachtarbeiter würden in sachlich nicht gerechtfertigter Weise gegenüber Arbeitnehmern benachteiligt, die unregelmäßig Nachtarbeit leisten. Daher verlangt sie den höheren Zuschlag. Der Arbeitgeber hält eine etwaige Ungleichbehandlung im konkreten Fall für sachlich gerechtfertigt und verweist auf den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien. Das Arbeitsgericht (ArbG) wies die Klage ab, das Landesarbeitsgericht (LAG) gab ihr teilweise statt. Die Richter am BAG ersuchen nun den EuGH um Beantwortung zweier Fragen zur Auslegung des Unionsrechts. Sie wollen zum einen wissen, ob tarifvertragliche Regelungen der EU-Arbeitszeitrichtlinie entsprechen, wenn sie unterschiedlich hohe Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit enthalten. Außerdem ist fraglich, ob eine tarifvertragliche Regelung, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Zuschlag vorsieht, gleichbehandlungswidrig ist, wenn damit neben den gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch Nachtarbeit auch Belastungen wegen der schlechteren Planbarkeit der Arbeitszeit ausgeglichen werden sollen.“ Beitrag von David Schahinian vom 10. Dezember 2020 bei BetriebsratsPraxis24.de
Siehe auch unser Dossier: [Schichtzulagen] Ärger bei Daimler (in Bremen) über Tarifabschluss