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Die Bilanz der brasilianischen Kommunalwahlen im November 2020: „And the winner is“ – keinesfalls die Linke. Aber auch schon gar nicht Bolsonaro

Brasiliens Präsident Bolsonaro in Galauniform: Zur Feier des Jahrestag des Militärputsches 1964, die er angeordnet hatNoch selten haben Kommunalwahlen in einem Land so viel internationale Beachtung gefunden, wie die in Brasilien im November 2020. Auch in der BRD waren die Medien voll von Bewertungen und Analysen dazu, weitaus mehr etwa, als zum nahezu gleichzeitigen Generalstreik in Indien. Was natürlich vor allem damit zu tun hat, dass es die erste Wahl war, die nach Bolsonaros Wahlsieg 2018 stattfand. Trotz vieler Bemühungen, die Ergebnisse dieser Wahl – die aufgrund der wie immer zahlreichen seltsamen Koalitionen vor Ort in meistens personalisierter Zuspitzung ohnehin „bedingt aussagekräftig“ ist- mit Zeichen der Hoffnung zu versehen, ist das Ergebnis eindeutig: Es gibt zwei Verlierer. Bolsonaro, dem es nicht gelang, die Rechte zu einigen – und die Linke, die gerade mal in einer einzigen Landeshauptstadt gewinnen konnte und das PT-Wahldesaster von 2016 fortgeschrieben sehen muss. Eine PT, die Randergebnisse hochjubeln muss – und hinnehmen, dass ihre zentrale Rolle in der Linken in Frage gestellt ist. Und ein Bolsonaro – dessen persönlich empfohlene Kandidaten durch die Bank krass verloren – der hinnehmen muss, dass jene traditionellen rechten Kräfte, die den legalen Putsch von 2016 betrieben haben, die eigentlichen Wahlsieger 2020 sind. Siehe die Reaktionen auf diese Ergebnisse in kommentierten fünf aktuellen Beiträgen:

  • „Balance de Joao Pedro Stedile de las elecciones municipales“ am 02. Dezember 2020 bei Resumen Latinoamericano externer Link dokumentiert die (spanisch übersetzte) Stellungnahme des langjährigen Sprechers der Landlosenbewegung MST zur Wahl. Die sich von vielen anderen dadurch unterscheidet, dass er die Rahmenbedingungen nicht „übersieht“. Sprich: Die massive Wahlenthaltung weit über den üblichen Anteil hinaus, trotz Wahlpflicht und den oftmals extrem fragwürdigen lokalen Koalitionen sowie den Bedingungen der Epidemie. Trotz dieser Differenzierungen kommt er zu dem nicht eben naheliegenden Schluss, die Linke gehe gestärkt aus diesen Wahlen hervor, weil sie es geschafft habe, vereinigter aufzutreten, als vom Bürgertum erwartet. Von dieser Einschätzung ausgehend – die bei einem Wahlsieg in 26 Hauptstädten sehr gewagt ist – betont er das landesweite Echo auf einige unterlegene Kandidaturen von Aktiven, die nunmehr nationale Ausstrahlung hätten und übergeht deren jeweilige Parteizugehörigkeit erst recht, wenn man in seiner Aufzählung Größe und Bedeutung der jeweiligen Städte genauer betrachtet…
  • „Esquerda e centro-esquerda elegem 11 prefeitos no 2º turno; veja lista de cidades“ am 29. November 2020 bei Brasil de Fato externer Link ist (im inoffiziellen „Zentralorgan des PT-Geleitzuges“) eine Analyse, die versucht, zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Die PT – zuerst erwähnt – habe in vier der 100 größten Städte die Bürgermeisterwahl gewonnen. Wobei weder erwähnt wird, dass sie in Sao Paulo eine Randerscheinung geworden ist, noch die abermalige Bestätigung ihrer katastrophalen Schlappe im einst roten Industriegürtel ABC (wo die neoliberalen Sieger der Wahlen von 2016 – in der Regel von der PSDB – jeweils mit rund 70% der Stimmen wiedergewählt wurden) irgendwie beachtet wird. Stattdessen wird vermeldet, Links und Mitte-Links hätten in 12 Großstädten gewonnen. Was insofern „mutig“ ist, als dabei die Wahlerfolge von PSB und PDT mitgezählt werden, die Parteien sind, die zumindest Fraktionen haben, die sich aktiv am Putsch von 2016 beteiligten…
  • „Niederlagen für Bolsonaro und Arbeiterpartei bei den Kommunalwahlen in Brasilien“ von Mario Schenk am 01. Dezember 2020 bei amerika21.de externer Link fasst die Bedeutung der Ergebnisse wesentlich eindeutiger und zutreffender zusammen: „… Dementsprechend wertete Boulos den Wahlausgang als Hoffnungsschimmer für einen demokratischen Wandel im ganzen Land. „Was uns in São Paulo gelang, weil wir Linke zusammenstanden, sollte uns als Vorbild für ganz Brasilien dienen, um den Rückschritt und Autoritarismus zu besiegen“. Auch PSOL-Chef Juliano Medeiros begründete den Erfolg damit, dass in der Stichwahl „alle linken Parteien zusammen hinter Boulos standen und die realistische Möglichkeit eines transformativen Bündnisses aufgezeigt hatten“. Solch eine Koalition linker Parteien hatte bei der Stichwahl in der Millionenstadt Belém im Bundesstaat Pará zum Sieg des PSOL-Kandidaten Edmilson Rodrigues geführt. Während die größte linke Partei, die Arbeiterpartei (PT), vielerorts noch die Führungsposition unter den linken Parteien beanspruchte, hatte sie in Belém von Anfang den PSOL-Mann unterstützt und sich mit dem Vize-Posten zufriedengegeben. Eigene Erfolge konnte die PT hingegen nicht verbuchen. In keiner der hundert größten Städte des Landes gewann sie ein Bürgermeisteramt. Die letzten Hoffnungen auf eine Landeshauptstadt zerschlugen sich in Recife (Pernambuco), wo die Kandidatin Marília Arraes vor einer Woche in den Umfragen noch führte, nach einer heftigen Gegen-Kampagne der evangelikalen Universal-Kirche aber mit 44 Prozent verlor. Auch in der Hauptstadt von Espírito Santo, Vitória, verdrängte ein 38-jähriger Polizist mit 59 Prozent den linken Amtsinhaber. Damit verpasste es die PT zum ersten Mal in ihrer Geschichte, das Bürgermeisteramt einer Landeshauptstadt zu besetzen. Auf ihrem Höhepunkt im Jahr 2004 hatte sie ganze neun der 32 Hauptstädte geholt. Die Wahlen bedeuteten auch einen Misserfolg von und für Frauen. Mit der Niederlage der Kommunistin Manuela d’Ávila (PCdoB) in Porto Alegre setzte sich keine Frau in einer größeren Stadt durch. Die Vize-Präsidentschaftskandidatin von 2018 scheiterte mit 45 Prozent relativ knapp gegen den konservativen Gegenkandidaten...“
  • „Doch kein Sozialist für São Paulo“ von Niklas Franzen am 30. November 2020 in der taz online externer Link zum Ergebnis in der wichtigsten Stadt des Landes unter anderem: „… Per Videobotschaft meldet sich der unterlegene Boulos noch am Abend aus seinem kleinen Haus im Randgebiet von São Paulo zu Wort. Seine Kampagne, erklärte der an Covid-19 erkrankte Politiker, habe einen Weg in die Zukunft gewiesen und gesiegt, obwohl die Wahl verloren ging. Und in der Tat: Alleine, dass der Sozialist die Stichwahl erreichte, war ein Erfolg. Seine Kampagne begeisterte viele junge Wähler*innen, er gelang ihm ein breites Bündnis zu schmieden, viele prominente Künstler*innen hatten ihn unterstützt. Und Boulos holte in vielen armen Stadtteilen die Mehrheit – dort, wo die Linke zuletzt Schwierigkeiten hatte zu punkten. Nicht wenige handeln den charismatischen 38-Jährigen als Präsidentschaftskandidat für die Wahl 2022. Am Sonntag waren Brasilianer*innen in 57 Städten zur Stichwahl für die Bürgermeister*innenposten aufgerufen. Am Ende eines langen Tages bestätigte sich die Tendenz der ersten Runde und insbesondere die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien konnten Siege verbuchen – also jene Kräfte, die bei der Präsidentschaftswahl 2018 abgestürzt waren. (…) In der nordbrasilianischen Stadt Belém feierte der PSOL-Kandidat Edmilson Rodrigues mit seinem Wahlsieg einen Achtungserfolg. Die sozialistische Partei, die 2004 von abtrünnigen Politiker*innen der Arbeiterpartei PT gegründet wurde, läuft der PT aber immer mehr den Rang ab. Bis auf einzelne Ausnahmen im Industriegürtel von São Paulo setzte diese ihren Abwärtstrend fort. Der Partei des populären Ex-Präsidenten Lula gewann zum ersten Mal seit der Re-Demokratisierung 1985 keine der 26 Landeshauptstädte. Ein Desaster für die Partei…“ wobei die erwähnte „Ausnahme Industriegürtel“ bei aller Differenzierung doch sehr mutig erscheint, betrachtet man den Kern des „ABC“…
  • „»Sozialistische Orientierung ist notwendig«“ am 03. Dezember 2020 in der jungen welt externer Link ist ein Gespräch von Torge Löding mit Valter Pomar, in dem der Repräsentant des wie auch immer linken PT-Flügels einen Rettungsversuch für die von ihm gewünschte (und vom Wahlergebnis, keineswegs vor allem von anderen politischen Strömungen in frage gestellten) „Hegemonie der PT“ der stets gescheiterten traditionellen Art versucht: „… Klipp und klar: PSB und PDT sind nicht links. In Recife und Fortaleza haben sie eine antikommunistische und frauenfeindliche Kampagne zu verantworten. Ihr Programm ist eines der Mitte, kein linkes. Das Ergebnis der PSOL indes ist in Hinblick auf Bürgermeister und Ratsmandate irrelevant. Die Bedeutung dieser Partei hat keine harten Zahlen als Grundlage. Im Jahr 2022 wird es sicherlich keine Allianz von Mitte-Links geben, eine linke Allianz womöglich schon. (…) Die »Mitte« sind PSB und PDT. Die erfolgreiche Rechte mag »moderater« erscheinen als Bolsonaro. Aber es ist genau diese angeblich »moderate« Rechte, die das Impeachment unterstützt hat, die Bolsonaro und das Gefängnis für Lula gewählt hat. Und die Bolsonaro wiederwählen kann. Zentrales Anliegen bei den Wahlen war es für diese Rechte, der PT eine Niederlage beizubringen. Dieses Ziel verfolgte auch das Zentrum und ein Teil der Linken. Das drückt sich auch in dem Versuch aus, die Hegemonie der PT auf der politischen Linken in Frage zu stellen. Das können wir nur verhindern, wenn es eine Veränderung der Strategie, des Programms und in der Alltagspraxis der Arbeiterpartei gibt. Wenn wir damit keinen Erfolg haben, dann erleidet nicht nur die PT eine Niederlage, sondern die gesamte Linke…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=182657
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