Theorie und Arztpraxis. In einer Poliklinik im Hamburger Stadtteil Veddel werden Krankheiten nicht nur behandelt – es geht auch um ihre sozialen Ursachen
Dossier
„… „Wenn jemand mit Kopfschmerzen in die Klinik kommt und es stellt sich heraus, dass die Person Schimmel in der Wohnung hat, dann wollen wir nicht nur den Kopfschmerz behandeln, sondern gemeinsam mit der betroffenen Person überlegen, wie wir mit dem Vermieter in Kontakt treten und eine Verbesserung der Wohnsituation erwirken können.“ Ein Fall, den es tatsächlich in der Klinik gab – und der zur Gründung einer „Schimmel-AG“ führte. Das Kollektiv der Poliklinik, dem 25 Ärztinnen, Psychologen, Sozialarbeiterinnen, Hebammen und Pfleger angehören, soll nicht nur medizinisch versorgen, sondern Menschen auch dazu ermächtigen, für die eigenen Rechte einzutreten. (…) Auch wer nicht krankenversichert ist, wird behandelt. (…) Stress wegen der Arbeit, der Wohnsituation, dem Jobcenter – da ist sie wieder, die Theorie der sozialen Determinanten von Gesundheit. Eine Theorie, der sich auch weitere Projekte verpflichtet fühlen: In Leipzig, Dresden, Halle, Köln und Berlin befinden sich Gesundheitskollektive im Aufbau…“ Reportage von Nelli Tügel vom 10.11.2020 im Freitag online (Ausgabe 45/2020) über die Poliklinik Veddel – siehe auch:
- Poliklinik Veddel: »Wir haben es gemacht, weil es sonst keiner gemacht hat«. Beschäftigte berichten von ihrer Arbeit während der Pandemie
„… Mittlerweile ist vielfach wissenschaftlich belegt worden, was wir auf der Veddel als unterprivilegiertem Stadtteil erlebt haben und noch erleben: Die Covid-19-Pandemie verstärkt die Belastungen auf vielen Ebenen: die beengten Wohnverhältnisse, die Überlastung durch Homeschooling – insbesondere, wenn man das Gefühl hat, seine Kinder gar nicht ausreichend anleiten zu können -, wenig Homeofficemöglichkeiten, Arbeitsplatzverlust – dies trifft besonders Leute in prekären Beschäftigungsverhältnissen ohne Recht auf Transferleistungen -, kein Anrecht auf Kurzarbeit bei unangemeldeten, inoffiziellen Arbeitsverhältnissen, die es hier viel gibt. Hinzu kommt, dass die medizinische Versorgungsqualität nicht nur im stationären, sondern auch im ambulanten Sektor enorm unter dem Management der Pandemie leidet: Wir sind für die ganz normale hausärztliche Versorgung in einem Stadtteil zuständig, in dem die Leute ohnehin überdurchschnittlich jung schon überdurchschnittlich krank sind. (…) Wir arbeiteten im Akkord, machen immer noch viele Überstunden, versuchen nach Möglichkeit, Personal aufzustocken und sind faktisch trotzdem nicht mehr telefonisch erreichbar, was dazu führt, dass noch mehr Leute vorbeikommen, um ihre Anliegen direkt zu besprechen. Wir können sehr viel weniger Termine zur regulären Versorgung anbieten, weil unentwegt das Telefon klingelt und gleichzeitig vor der Tür eine Schlange von manchmal über 30 kranken Menschen steht. Noch ist nicht absehbar, wie stark sich dieses schlechtere Versorgungsangebot auf den Gesundheitszustand etwa von chronisch kranken Menschen auswirkt. Aus unserer Sicht war es ein enormer Fehler, die Covid-19-bezogenen Aufgaben wie PCR-Testung, Aufklärung und Impfung in die hausärztliche Versorgungsstruktur zu verlegen. Dies trifft erneut unterprivilegierte Stadtteile härter als andere, weil hier angesichts der kaum vorhandenen Privatpatient*innen ohnehin weniger Praxen sind, die jetzt noch weniger Kapazitäten haben, weil sie die Aufgaben einfach nicht bewältigen können. (…) Aus unserer Sicht ist ein sozialgesetzbuchübergreifendes, bedarfsgerechtes Kostendeckungsprinzip, wie es im stationären Sektor bis in die 1990er Jahre üblich war, für Stadtteilgesundheitszentren dringend notwendig. Nur so können wir langfristig auf die komplexen, gesundheitsbelastenden Problemlagen vieler Menschen reagieren. (…) Fallpauschalen oder neue finanzielle Anreizmodelle wie Pay for Performance sind dagegen Modelle der Ökonomisierung. Sie erhöhen Fehlanreize und den Konkurrenzdruck. Die Bereitschaft, das Präventionsengagement in besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen auszubauen, ist nicht zuletzt angesichts der Auswirkungen der Pandemie dringend notwendig. In Bezug auf die Etablierung von Gesundheitsregionen durch bevölkerungsbezogene Versorgungsverträge wird es sehr stark auf die konkrete Ausgestaltung ankommen: Wir sehen in Gesundheitsregionen in kommunaler Trägerschaft eine Chance, Gesundheitsversorgung neu zu denken. Werden sie allerdings – wie ebenfalls häufig diskutiert – durch private Equity-Gesellschaften realisiert, bedeutet dies eine Kommerzialisierung von Gesundheitsdienstleistungen in bislang hierzulande unbekanntem Ausmaß.“ Irina Wibmer und Milli Schroeder im Gespräch mit Gaston Kirsche am 29. April 2022 in Neues Deutschland online - Eine Poliklinik für Veddel – Gesundheit ist politisch: In einem Hamburger Ärztehaus werden auch Menschen ohne Papiere behandelt
„Für Ibrahim war es die Rettung. Mit seinem schmerzenden Auge konnte er als Geflüchteter ohne Papiere unmöglich zu einem »normalen« Arzt in Hamburg gehen. Über Freunde hatte der 28-Jährige jedoch von der Poliklinik auf der Veddel gehört. Er fuhr hin und ihm konnte schnell geholfen werden. »Es war zum Glück nichts Schlimmes und ich brauchte nur eine Salbe«, erzählt der junge Mann, der vor acht Jahren aus Gambia nach Hamburg kam. Er gehört zu den rund zehn Prozent der Patienten, die in der Poliklinik behandelt werden, obwohl sie keine Papiere oder keine Krankenversicherung haben. Moment mal. Eine Poliklinik? Sind diese Ärztehäuser nicht mit dem Ende der DDR verschwunden? (…) Die Poliklinik ist nicht allein: Sie ist seit ihrer Gründung Teil des Poliklinik Syndikat. In Berlin, Leipzig, Köln und Dresden gibt es ähnliche Projekte, die sich darin zusammengeschlossen haben. Einige Projekte laufen bereits, andere sind noch im Planungsstatus. Allen gemeinsam ist neben einem schier unbändigen Idealismus die noch recht wackelige Finanzierung. Denn trotz aller Ansprüche sind auch die Polikliniken gezwungenermaßen Teil des durchökonomisierten Gesundheitssektors. »Wir bekommen im Augenblick neben den bei den Krankenkassen abgerechneten Leistungen Gelder aus Töpfen von Stiftungen und weiteren Drittmitteln«, erklärt Filmar. Da bleibt es nicht aus, dass sich alle Beteiligten auch ein Stück weit selbst ausbeuten. Denn die allermeisten, die in die Poliklinik kommen, sind Kassenpatiente*innen – neben den erwähnten rund zehn Prozent, die über gar keine Krankenversicherung verfügen. Wegen des deutschen Gesundheitssystems droht hier eine Schieflage, weil eben Privatpatient*innen fehlen, die zur »Querfinanzierung« von Praxen gebraucht werden. Die findet man auf der Veddel so gut wie gar nicht. So bleibt unterm Strich nur die Hoffnung, dass auch die Stadt Hamburg erkennt, welche Vorteile ein Gesundheitszentrum hat, in dem nicht nur durch die Medizinerbrille auf Krankheit und Gesundheit geschaut wird. Ein bisschen Bewegung ist schon erkennbar: Der rot-grüne Senat setzt eigentlich seit Jahren auf interdisziplinäre Gesundheitszentren für benachteiligte Stadtteile. Doch bislang ist keines dieser Zentren realisiert worden. Es finden sich einfach keine Haus- und Kinderärzt*innen, die in ein solches Projekt einsteigen möchten. Gegenwind bekommt der Senat auch von der Hamburger Kassenärztlichen Vereinigung. Deren Chef Walter Plassmann betonte bereits, die KV werde die Pläne des Senats nicht unterstützen. So bleibt die Poliklinik wohl vorerst allein auf weiter Flur.“ Artikel von Guido Sprügel vom 8. Februar 2022 in neues Deutschland online - Gesundheit ist eine soziale Frage: Interdisziplinäre Primärversorgung und Prävention in der Poliklinik Veddel
„Eine Darstellung der Entstehung, Arbeitsweise und Ziele (Ausblick) der Poliklinik: „Gesunheit ist politisch“: Welches Gesundheitsverständnis liegt der Poliklinik zugrunde und welche Versorgungs- und Präventionsarbeit leitet sich daraus ab? Wie arbeiten wir aktuell auf der Veddel? Um mit diesem Versorgungskonzept in das deutsche Gesundheitswesen intervenieren zu können, ist die Poliklinik Veddel seit diesem Jahr mit anderen Gruppen als bundesweites Syndikat organisiert. Was fehlt, um die Potentiale dieser Struktur weiter ausschöpfen zu können? Die Poliklinik Veddel ist ein interdisziplinär versorgendes Stadtteilgesundheitszentrum auf der Veddel in Hamburg (poliklinik1.org). Derzeit leisten dort fünf Fachbereiche ambulante Primärversorgung. Es gibt einen Allgemeinarzt, die Sozial- und die psychologische Beratung, eine Community Health Nurse und eine Hebamme. Zudem leistet die Poliklinik Gemeinwesenarbeit, die eindeutig der Gesundheitsarbeit zugerechnet wird. Die Arbeit(sweise) der Poliklinik fußt auf dem Verständnis, dass Gesundheit ein soziale Frage ist. Wie bereits in den 70er Jahren erstmalig von der Weltgesundheitsorganisation formuliert, haben Lebensverhältnisse einen starken Einfluss auf die relative Gesundheit der Menschen. Arbeits- und Wohnverhältnisse, der Zugang zu Bildung oder das Erleben von Diskriminierung sind einige Beispiele der sogenannten Sozialen Determinanten von Gesundheit, die lebensverlängernden oder -verkürzenden Einfluss haben. Individuelles Verhalten, welches (nicht nur) in Gesundheitsfragen heutzutage hauptsächlich adressiert wird, passiert vor dem Hintergrund dieser Verhältnisse. Gerade in Stadtteilen und Regionen, die von prekären Lebensverhältnissen gekennzeichnet sind, weisen die Menschen eine überdurchschnittliche Krankheits- und Morbiditätsrate auf. Interdisziplinäre und partizipative Versorgung mit deutlichem Sozialraumbezug (hier der Stadtteil Veddel) aus einer Hand ist aus unserer Sicht die notwendige Antwort auf dieses Phänomen und die Versorgungsform der Zukunft. Wir verstehen die Poliklinik und unsere Arbeit als Modellprojekt und streben eine bundesweite Asuweitung dieser Versorgung an.“ Video des Vortrags von Tobias Filmar beim rC3-Kongress (Remote Chaos Experience) am 28.12.2020 (31 Min) - ein Interview bei youtube
Zu den Alternativen zur kapitalistischen Gesundheitspolitik siehe auch im LabourNet-Archiv unsere Rubrik Gesundheitswesen – sonstige Proteste und Gegenvorschläge