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Zwischen „Nachbarschaftsguerilla“, Großdemonstrationen und Generalstreik – gehen die Proteste in Belarus weiter
„… Die Abfalleimer aus Gussbeton rund um den Kinderspielplatz sind weiß-rot-weiß angepinselt. Ein kleines Zeichen des Widerstands gegen das Regime zwischen Hochhäusern im westlichen Stadtteil Kamennaja Gorka der belarussischen Hauptstadt Minsk. Die fünf riesigen Wohnblocks wurden alle vor rund zehn Jahren gebaut. In der Nachbarschaft steht ein großes Bürohaus, in dem sich auch westliche IT-Firmen eingemietet haben. Doch nun wird der Innenhof neu getauft: „Viertel der Solidarität“ heißt es nun in roten Lettern auf weißem Grund an einem Transformatorhäuschen. Jemand hat darunter ein Graffito der beiden Minsker DJs gesprüht, die es kurz vor der Präsidentschaftswahl gewagt hatten, auf einer Veranstaltung für den Amtsinhaber den sowjetischen Rocksong „Peremen“ (Wende) von Wiktor Tsoi aufzulegen. (…) Solche lokalen Märsche sind unspektakulär für die Medien, doch sie integrieren wie ein Stadtteilfest. Und dies in einem Land, in dem bisher fast alles von oben organisiert wurde. Derweil konzentriert sich das Hauptinteresse auf die Teilnehmerzahl der sonntäglichen Großdemonstrationen. In Kiew wurde der Maidan 2013/14 erst dann zu einer Gefahr für die Machthaber, als Sonntag für Sonntag immer mehr Bürger in die Hauptstadt fuhren, viele aus anderen Landesteilen. (…) Die Opposition wiederum mag vielen, vor allem ausländischen Experten zwar als führungslos erscheinen, doch ihre Forderungen sind seit Anfang der Proteste klar und immer die gleichen: Lukaschenkos Verzicht auf eine erneute Amtszeit, freie und faire Neuwahlen, ein Dialog der Machtstrukturen mit Tichanowskajas „Koordinationsrat“ und die Freilassung von allen politischen Gefangenen. Dazu kommt, dass die Opposition ihre Machtdemonstrationen auf der Straße auch ohne Führung ganz gut hinbekommt, und dies landesweit...“ – aus dem Beitrag „Revolution in den Innenhöfen“ von Paul Flückiger am 25. Oktober 2020 in der taz online über Aspekte der Demokratiebewegung, die nicht im Zentrum westeuropäischer Medien-Propaganda stehen. Siehe dazu auch einen Videobericht über die Demonstration in Minsk am 25. Oktober, eine Reportage über die Demonstration am 18. Oktober, einen Beitrag zum heutigen Generalstreik und den Hinweis auf den bisher letzten unserer Beiträge zur Demokratiebewegung in Belarus:
- „Zum 12. Mal in Folge, an einem Sonntag, gingen mehrere Zehntausende Menschen gegen Präsidenten Lukaschenko auf die Straße“ am 25. Oktober 2020 im Twitter-Kanal von BlxckMosquito ist ein Videobericht von der Demonstration am gestrigen Sonntag – der sehr deutlich macht, dass die Mobilisierung ungebrochen ist…
- „Belarus: “Wir glauben daran, wir können es, wir werden gewinnen!”“ von Kim Garcia am 23. Oktober 2020 im Lower Class Magazine ist eine Reportage über die Demonstration in Minsk vom 18. Oktober, worin unter anderem berichtet wird: „… Besonders an diesem Sonntag ist, dass das Regime die Erlaubnis gegeben hat, mit scharfer Munition auf Demonstrierende zu schießen. Außerdem stellte die Präsidentschaftskandidatin Svetlana Tikhanovskaya der Regierung ein Ultimatum. Wenn bis zum 26. Oktober Lukashenko nicht zurückgetreten ist, die Gewalt auf den Straßen nicht beendet und nicht alle politischen Gefangenen freigelassen wurden, soll es landesweite Streiks und Blockaden geben. Diese Ankündigung sorgt für angespannte Stimmung, obwohl sie in der Organisation der Proteste keine so führende Rolle einnimmt, wie teilweise in den westlichen Medien dargestellt. Dennoch bestimmt Tikhanovskaya politische Diskurse mit. Anders als sonst findet die Demo nicht im Zentrum sondern im Arbeiter*innenviertel statt. Vielleicht aus Solidarität mit den Arbeiter*innen und um den Gedanken des Streikens zu bestärken. Auf dem Weg zur Demo hupen uns immer wieder Autofahrer*innen zu, Passant*innen winken in Solidarität. Von allen Seiten laufen Gruppen in die gleiche Richtung, werden zu stetigen Strömen, bis wir die Partisanska-Allee, eine fast hundert Meter breite Straße, erreichen – der Anblick der Menschenmassen ist überwältigend. Die dominierenden Farben sind weiß und rot: die Farben der Nationalfahne bevor Belarus eine sowjetische Republik wurde. Als Symbol der Unabhängigkeit wird sie von der Opposition benutzt. Der beliebteste Spruch, „Lang lebe Belarus!“, unterstreicht den nationalistischen Charakter des Protests, welcher aber bei den allerwenigsten mit rechten Tendenzen einhergeht. Vielmehr geht es um die Erinnerung und Möglichkeit eines anderen Belarus, das nicht geprägt ist von der Sowjetunion und Lukashenkos Diktatur. Trotzdem fragen wir uns, inwiefern der Verweis auf die nationale Einigkeit die Klassenunterschiede zwischen den Protestierenden verschleiert. Zwar sind aktuell alle gegen das repressive Regime vereint, sobald dieses jedoch gestürzt ist, werden sich zwangsläufig verschiedene ökonomischen Interessen gegenüberstehen: Die der Arbeiter*innen, die sich weniger prekäre Lebensumstände erhoffen, die an einem Klassenaufstieg interessierte Mittelschicht, sowie die von Unternehmer*innen, die in neoliberalen Reformen die Möglichkeit größerer Profite sehen. Einige tragen jedoch auch andere Symbole: So wie eine Gruppe Anarchist*innen, die mit schwarzer Fahne, Trommeln und einem Banner mit dem Spruch „Solidarität ist unsere Waffe“ viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch wenn sich der Staat bemüht, Anarchist*innen als heimliche Provokateure darzustellen, werden sie bei immer mehr Menschen positiv wahrgenommen. Fast schon heroisch werden sie als unermüdliche Kämpferinnen, die schon seit Jahrzehnten Repressionen ausgesetzt sind, dargestellt. Gleichzeitig setzen sie sich unermüdlich für die Belange der Menschen ein. Fröhlich jubelt die Menge über die Musik und unterstützt bei Sprüchen wie „Das ist unsere Stadt“ oder „Haut ab, du und OMON“ (gemeint sind Lukashenko und die Spezialeinheiten der Polizei)...“
- „Aufruf zum Generalstreik in Belarus“ titelt die Deutsche Welle am 26.10.2020 und fährt fort: „Die Demokratiebewegung in Belarus hat für diesen Montag zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen. Swetlana Tichanowskaja, die prominenteste Gegnerin des Präsidenten Alexander Lukaschenko, forderte die Bürger auf, an die Zukunft ihrer Kinder zu denken und für ein Leben in Freiheit zu kämpfen. Die 38-Jährige betonte, sie verstehe, wenn Menschen um ihre Arbeit fürchteten. Wer Angst vor Kündigung habe, solle einfach zu Hause bleiben, sich krankmelden oder einen sonstigen Vorwand finden. Der Kampf gegen Lukaschenko brauche Kraft, Kreativität und Ausdauer, erklärte sie weiter. Um Lukaschenkos Staatsmaschinerie zum Stillstand zu bringen, müssten sich viele an dem Ausstand beteiligen. Fabrikarbeiter skandierten Parolen; Studenten schlossen sich dem Protest an, wie Medienbilder zeigten. Die Polizei nahm erneut Menschen in Gewahrsam. Unklar ist aber noch, wie stark die Beteiligung an dem Streik sein wird. Dieser gilt als Nagelprobe dafür, wie groß der Rückhalt der Opposition in der Bevölkerung ist…“ – von Gewerkschaften ist darin keine Rede…
- Zu betrieblichen Protesten in Belarus zuletzt: „Solidarität mit den betrieblichen Protesten in Belarus! Lufthansa-Techniker, die Lukaschenkos Flugzeug instand setzen, sollen (und wollen!) protestieren“ am 16. Oktober 2020 im LabourNet Germany