15 Jahre Hartz-Reformen. Ein sozialpolitischer „Paradigmenwechsel“ ist zur Selbstverständlichkeit geworden
„“Beim „zehnjährigen Jubiläum“ der Agenda 2010, gab es noch ziemlich viel Tamtam. (…) Von solchen Diskussionen ist in diesem Jahr, immerhin auch ein runder Geburtstag, nicht mehr viel zu hören. Die Auseinandersetzung um die umstrittene Reform ist so tot wie Wolfgang Clement, einer ihrer „Macher“. Das Leben mit Hartz IV ist offenbar zur Selbstverständlichkeit geworden – insbesondere für die fast 7 Millionen „Hartzis“ (auch das ein neues Wort im Duden!), die von den Regelsätzen leben müssen, auch wenn sie das auf Dauer gar nicht können. Selbstverständlich geworden sind auch flaschensammelnde Rentner und die seit Einführung der Reform stetig mehr werdenden Tafeln und Kleiderkammern, die das Überleben unter Hartz IV überhaupt möglich machen. Zudem bestimmen die Hartz-Gesetze direkt oder indirekt den gesamten deutschen Arbeitsmarkt, wo Arbeitnehmer sich zu vielem erpressen lassen, um nur ja dem Schicksal der Hartz-Empfänger zu entgehen: befristete Arbeitsverträge, unbezahlte Überstunn, (vermeintliche Zusicherung von) Arbeitssicherung gegen Lohneinbußen usw. Ein Gesetz hat vor fünfzehn Jahren schlagartig die Lebenswirklichkeit von Millionen verändert. Heute, nur ein paar Jahre später, ist daraus das neue „Normal“ geworden, das nicht mehr als Wirkung eines politischen Willens wahrgenommen wird….“ Artikel von Renate Dillmann vom 25. Oktober 2020 bei telepolis (Teil 1) – hier die Fortsetzung:
- [Teil III] 15 Jahre Hartz IV: Kritik, Demonstrationen, die Haltung des DGB und die (Selbst)Zerstörung der SPD
„… In vielen Bereichen der Sozialpolitik machen sich mittelbare Folgen der Agenda 2010 geltend. Die Senkung der Löhne lässt die Einzahlungen in die Sozialversicherungskassen sinken – ein zusätzlicher Grund für niedrige Renten und Altersarmut. Kinderarmut (die natürlich Einkommensarmut der Eltern ist) hat stark zugenommen: Im Ruhrgebiet etwa wächst jedes 5. Kind in einer Hartz-Familie auf, in Gelsenkirchen ist es sogar fast jedes zweite. Die Anpassung der Hartz-IV-Sätze folgt der Lohnentwicklung zeitversetzt, gleicht die Inflation also systematisch nicht aus. Die Festlegung der Mietkostenzuschüsse im Rahmen der Hartz-IV-Regelungen hat dafür gesorgt, dass viele Empfänger in kleinere Wohnungen umziehen müssen, da sie in „unangemessen“ großen Wohnungen lebten. Bleiben sie in ihren Wohnungen, müssen sie Teile der Mieten, die zudem immer weiter steigen, aus eigener Tasche – sprich: aus ihren mageren Hartz-Sätzen – zahlen. (…) Gerhard Schröder, der ehemalige Juso-Chef, hat in seiner „Agenda 2010“ Sozialpolitik als Waffe genutzt, um mit einer massiven Verarmung der lohnabhängig Beschäftigten den Wirtschaftsstandort Deutschland neu konkurrenzfähig zu machen. Seitdem bedeutet der Begriff „Reform“ nicht mehr irgendeine Art von „Verbesserung“, die mit positiven Erwartungen verbunden ist, sondern signalisiert einen Angriff, vor dem man sich fürchten muss. (…) Mit der Agenda 2010 hat sich Schröder würdig in diese schöne Tradition eingereiht. Der reformerische Flügel der Arbeiterbewegung hat mit diesem „Paradigmenwechsel“ die Lebenslüge von der sozialen und demokratischen Beherrschung des Kapitalismus zum Nutzen seiner Opfer, die er zuvor in einem hundertjährigen „Lernprozess“ Stück für Stück relativiert hatte, endgültig verabschiedet. Dass das nur etwas mehr als zehn Jahre nach dem politischen Selbstmord der realsozialistischen Systemalternative geschah, war kein historischer Zufall. Die Attraktivität der Sozialdemokratie hat eben immer auch ein Stück weit von dem Versprechen gelebt, sie könne dem Bürgertum die Revolution ersparen und für die Lohnarbeiter trotzdem einiges erreichen. Es war aber auch logisch ganz folgerichtig: Wer sich vornimmt, die politische Macht im Namen der Armen und Entrechteten zu erobern, muss auf die ökonomische Grundlage dieser Macht und ihre weltweiten Verwertungsbedingungen Rücksicht nehmen. Das schließt zahlreiche Rücksichtslosigkeiten gegen genau jene Adressaten der sozialen Machtausübung ein, die man im Ausgangspunkt zu beglücken gedachte. Wer – wie die sozialdemokratische Arbeiterbewegung – den Staat als Hüter des Sozialen will, muss konsequent auch für dessen Erfolg in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt sein. Für diesen Erfolg wiederum muss „das Soziale“ den Konkurrenzanforderungen gemäß zugerichtet werden. Diese affirmative „Einsicht“, dass sich in einer kapitalistischen Gesellschaft letztlich alles daran zu messen hat, was es zum Erfolg des Kapitals beiträgt, haben Gerhard Schröder und sein Labour-Kollege Toni Blair in dem nach ihnen benannten „Papier“ dann als „modernen“ und „pragmatischen“ Kurs der Sozialdemokratie verkauft. (…) Die letzte große sozialpolitische Leistung der Sozialdemokratie ist am Ende ihr Eintritt in die politische Bedeutungslosigkeit gewesen und damit zugleich ein Lehrstück über die Möglichkeiten und Grenzen sozialer Demokratie: Die in neuer Form verarmten Volksteile verlieren den Willen, wählende Staatsbürger zu sein, wenn und weil Demokratie Alternativlosigkeit bedeutet…“ Artikel von Renate Dillmann vom 27. November 2020 bei Telepolis - [Teil II] Agenda 2010: Sozialpolitik als Waffe
„… Die Schröder-Regierung verlangte von ihrer Reform so etwas wie einen Befreiungsschlag gegenüber den ständig neu auftretenden Kassenproblemen sämtlicher Sozialversicherungen. Vor allem aber wollte sie mit ihnen so auf das nationale Lohnniveau einwirken, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland, der in der internationalen Konkurrenz etwas ins Hintertreffen geraten war, in Europa und auf dem inzwischen „globalisierten“ Weltmarkt wieder erfolgreich bestehen konnte. (…) Es ist also keineswegs so, dass sie sich mit der „Globalisierung“ einem Sachzwang ausgesetzt sehen, den sie nicht wollen. Ganz im Gegenteil haben sie mit viel Geld und Gewalt, unter anderem einem außerordentlichen Rüstungswettlauf, dafür gesorgt, dass der ganze Globus für die Konkurrenz und das Wachstum ihrer Kapitale zur Verfügung steht. Im Inneren ihrer Nationen legen sie aber Wert darauf, die Erfordernisse dieser Konkurrenz als „Zwang der Globalisierung“ (eines angeblich anonymen Subjekts) zu behaupten, um mit diesem Argument der vermeintlichen Ohnmacht ihrer Gesellschaft alle möglichen schmerzhaften „Anpassungsprozesse“ machtvoll abzuverlangen. Das deutlich verkündete Ziel hieß also: Den Standort Deutschland für die „globalisierte Weltwirtschaft“ (erneut) konkurrenzfähig machen. „Konkurrenzfähig“ bedeutet für deutsche Politiker: in dieser Konkurrenz ganz vorne zu stehen – ein anderes Anspruchsniveau kennen sie nicht. Das entsprechende Mittel für mehr deutsche Wettbewerbsfähigkeit erkannten sie – als hätten sie Marx gelesen – darin, das deutsche Lohnniveau zu senken. Die Kosten der Sozialversicherungen, Stichwort: Lohnnebenkosten, und die grundsätzliche Umgestaltung des „verkrusteten“ deutschen Arbeitsmarkts erschienen dafür als adäquate Ansatzpunkte. Mit anderen Worten: Um zu einem insgesamt niedrigeren nationalen Lohnniveau zu kommen, setzte die rot-grüne Regierung die Hebel in Bewegung, die ihr sozialpolitisch zur Verfügung standen. (…) Mit dem so durchgesetzten Maß brutaler Verarmung der lohnabhängigen Bevölkerung und (künftigen) RentnerInnen gingen die Regierenden selbstbewusst um: Die Versicherten wurden aufgefordert, sich nicht mehr auf die gesetzliche Rentenversicherung zu verlassen und privat für ihr Alter vorzusorgen. Die staatlich geförderte „Riester-Rente“ und andere Angebote der Versicherungswirtschaft „ökonomisierten“ den damit hergestellten sozialen Notstand, dass die gesetzliche Rente definitiv nicht mehr zum Leben reicht: Das, was die Lohnabhängigen auf Basis dieser sozialpolitischen Neudefinition jetzt privat sparen sollen/müssen, soll sich gleichzeitig als nützlicher Beitrag im Finanzsystem des Landes niederschlagen – Aktien, Lebensversicherungen, Hauskäufe auf Kredit. Selbstverständlich ist es gar nicht ohne weiteres möglich, dass die abhängig Beschäftigten sich privat aus ihren Löhnen eine passable Alterssicherung finanzieren. Das war schließlich einmal der Grund für die Einführung einer gesetzlichen Rentenversicherung! Und das gilt umso mehr, als die anderen Reformen der Agenda 2010 ja keineswegs dafür sorgen, dass die Löhne steigen. Kein Wunder also, dass Altersarmut seitdem ein Dauerthema ist. (…) Insgesamt wird an diesem Gesetz [Hartz IV] geradezu exemplarisch deutlich, wie wenig sozialpolitische Leistungen – deren menschenfreundliche Fürsorglichkeit der deutsche Staat stets gerne rühmt – so etwas wie ein „Besitzstand“ der lohnabhängigen Bevölkerung sind. Ein neues Gesetz – und die Lebensgrundlage von Millionen Menschen verändert sich erheblich zum Schlechteren. (…) Letztendlich wurde damit die Verantwortung für Arbeitslosigkeit abgewälzt auf – man höre und staune: die Arbeitslosen. Sie seien schuld, weil sie sich nicht genügend anstrengten, einen Job zu finden, weil sie zu hohe Ansprüche hätten und zu viel verlangten. Diese Schuldzuweisung wurde flankiert von der Selbstbezichtigung der Politik, die sich vorwarf, dass ihre gut gemeinte, aber längst überbordende Sozialpolitik die „Eigeninitiative“ ihrer Bürger gelähmt habe. (…) Wenn fast 5 Millionen Menschen offiziell arbeitslos gemeldet sind und eine Kritik der marktwirtschaftlichen Gründe dafür nicht in Frage kommt, dann muss das – so die politischen Schlussfolgerungen – 1. an den Menschen liegen, die sich nicht vehement genug um Arbeit kümmern, sondern von „Stütze“ leben, und 2. am System der sozialen Sicherung, das ihnen diese Faulheit überhaupt erst gestattet. (…) Für den Standort Deutschland und seine Unternehmen ging das Programm der Agenda 2010 erfolgreich auf: Das mit allen Sanktionsmitteln praktisch durchgesetzte Paradigma „Hauptsache Arbeit!“ und der damit verbundene Druck auf die Arbeitslosen, wirklich jede noch so prekäre Arbeit annehmen zu müssen – völlig losgelöst von der Frage, ob diese Arbeit genügt, um den Lebensunterhalt zu sichern – sowie die neu gewonnene, rechtlich garantierte Freiheit in der Gestaltung der Arbeitsverhältnisse eröffnete Unternehmern aller Art bisher ungeahnte Möglichkeiten der Ausbeutung. Der Druck, nach nur einem Jahr wirklich jede Arbeit annehmen zu müssen, wirkte sich nicht nur unmittelbar auf die Betroffenen aus, sondern auf das gesamte Lohnniveau in Deutschland. In vielen Betrieben stehen seitdem Leih-Arbeiter mit wesentlich niedrigerer Entlohnung unmittelbar neben den „regulär Beschäftigten“. Die Folge: Angesichts der Aussichten, die ein Jobverlust jetzt mit sich bringt, waren und sind die und ihre Interessenvertreter bereit, Lohn zu opfern, um bloß ihren Job zu behalten…“ Artikel von Renate Dillmann vom 07. November 2020 bei telepolis – 15 Jahre Hartz-Reformen – Teil II (Teil III: Umstrittene Reform – Kritik, Demonstrationen, DGB, die Zerstörung der SPD. folgt demnächst)