Digitalisierung als Scheinsubjekt: Technischer Wandel und Arbeitsbedingungen – aber wo bleibt eigentlich das Kapital?
„Kein Tag vergeht mehr, ohne dass ein Artikel zu den »Chancen und Risiken« der Digitalisierung erscheint. (…) Der Widerspruch zwischen diesen »Risiken und Chancen« ist allemal merk- und denkwürdig und mag erklärt sein, anstatt einfach zu behaupten, die wirkliche Entwicklung spiele sich irgendwo dazwischen ab. (…) Es wird an und mit den technisch immer höher entwickelten Maschinen und Apps mehr gearbeitet als jemals zuvor. Mit jeder Entwicklung der Produktivkraft wird die Arbeit dichter und der Stress nimmt zu. Einerseits sinkt also die notwendige Arbeit zur Herstellung verschiedenster Gebrauchsgüter. Die aufgewendete und verausgabte Arbeit wird immer weniger wichtig für alles, was man so braucht – immer wichtiger dagegen wird der Stand der Wissenschaft und der Maschinenpark, der mit dieser Arbeit in Bewegung gesetzt wird. Andererseits gehören Stress auf der Arbeit, Überstunden, die Verlängerung des Arbeitstages zu den Folgen aller Produktivkraftentwicklungen im Kapitalismus und so auch zur jenen der Digitalisierung. Hier handelt es sich um einen Widerspruch, der erklärt werden will. (…) Angeblich ist die Digitalisierung also für alles Mögliche verantwortlich, von schlechteren Arbeitsbedingungen bis hin zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von der Überflüssigmachung von ArbeiterInnen bis zur Entstehung neuer Branchen, vom Arbeitsstress bis zur besseren Work-Live-Balance. Dabei zwingt uns »die Digitalisierung« weder länger zu arbeiten, noch schafft sie kürzere Arbeitstage. Die Digitalisierung macht gar nichts. Sie wird gemacht…“ Artikel von Peter Schadt erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 10/2020:
Digitalisierung als Scheinsubjekt
Technischer Wandel und Arbeitsbedingungen – aber wo bleibt eigentlich das Kapital? Von Peter Schadt*
Kein Tag vergeht mehr, ohne dass ein Artikel zu den »Chancen und Risiken« der Digitalisierung erscheint. Einerseits wird in unzähligen Texten die schöne neue Arbeitswelt beschrieben. Mit Smartphones, Tablets und Laptops könne nun bequem von Zuhause aus gearbeitet werden, und zwar immer dann, wenn es den ArbeiterInnen gerade passt. Flexibel also der Arbeitsort und die -zeit, was den Widerspruch zwischen Familie und Arbeit endgültig auflösen würde. Roboter erledigen die schwere, körperliche Arbeit und ermöglichen es so, dass ArbeiterInnen weniger arbeiten müssen und die Arbeit leichter wird. Außerdem würden die neuen Techniken dafür sorgen, dass passgenauer produziert und so weniger Material verbraucht werde. Was immer noch an Rohstoffen gebraucht werde, ist natürlich selbstredend aus nachhaltiger, weil aus nachwachsender Produktion, und wird energieeffizient und umweltschonend hergestellt.
Andererseits ist von den Risiken zu lesen. Es drohe, so der Tenor dieser Lesart, dass die Digitalisierung uns 24/7 erreichbar mache und damit permanent dem Zugriff des Kapitals aussetze. Unabhängig von Ort und Zeit müssen die ArbeiterInnen erreichbar sein, was die Familie endgültig auflöse oder zur reinen Reproduktion der Arbeitskraft degradiere. Roboter machen den Teil der Belegschaft überflüssig, der bisher die harte und schlecht bezahlte Arbeit gemacht hat, IT und künstliche Intelligenz rationalisieren in den Büros und bei den Angestellten. Für die Produktion dieser smarten Maschinen geht der Raubbau am Planeten weiter, nun allerdings im Kampf um seltene Erden und um Absatzmärkte.
Produktivkraft und Produktionsverhältnis
Der Widerspruch zwischen diesen »Risiken und Chancen« ist allemal merk- und denkwürdig und mag erklärt sein, anstatt einfach zu behaupten, die wirkliche Entwicklung spiele sich irgendwo dazwischen ab. Dank cyber-physischen Systemen, also der Vernetzung aller Maschinen in der Fabrik, kann mehr in weniger Zeit hergestellt werden. Roboter sollen besonders schwere Arbeiten noch weiter übernehmen als bisher. Digitale Endgeräte ermöglichen die Überwachung der Produktion auch aus der Ferne. Die Arbeit wird durch die Technik also produktiver gemacht. Es steckt im Verhältnis immer weniger Anstrengung und Verausgabung in jedem einzelnen Produkt, je mehr Technik angewendet wird. Ganz prinzipiell muss weniger Arbeit in die Herstellung von Bedarfsgütern investiert werden, was die Menschheit im materiellen Sinne reich und frei machen könnte. Die Voraussetzung für diesen materiellen Reichtum hat die kapitalistische Produktionsweise praktisch geschaffen und sie schafft es mit dem, was heute Digitalisierung heißt, auch weiterhin jeden Tag. Soweit die gute Nachricht.
Die schlechte Nachricht folgt. Diese Entwicklung der Produktivkraft, die heute unter dem Titel Digitalisierung stattfindet, zeitigt, nicht erst seit sie diesen Namen führt, ein ganz anderes Ergebnis. Es wird an und mit den technisch immer höher entwickelten Maschinen und Apps mehr gearbeitet als jemals zuvor. Mit jeder Entwicklung der Produktivkraft wird die Arbeit dichter und der Stress nimmt zu. Einerseits sinkt also die notwendige Arbeit zur Herstellung verschiedenster Gebrauchsgüter. Die aufgewendete und verausgabte Arbeit wird immer weniger wichtig für alles, was man so braucht – immer wichtiger dagegen wird der Stand der Wissenschaft und der Maschinenpark, der mit dieser Arbeit in Bewegung gesetzt wird. Andererseits gehören Stress auf der Arbeit, Überstunden, die Verlängerung des Arbeitstages zu den Folgen aller Produktivkraftentwicklungen im Kapitalismus und so auch zur jenen der Digitalisierung. Hier handelt es sich um einen Widerspruch, der erklärt werden will.
Der Arbeitsprozess, also die Herstellung nützlicher Güter, wird dem Verwertungsprozess, also der »Plusmacherei«, untergeordnet. Der Stoffwechsel mit der Natur zur Herstellung von Gebrauchswerten, also das, was Arbeit in allen Gesellschaften ist, findet im Kapitalismus nur insofern und in der Form statt, wie er auch seinem Zweck, der Verwertung des Werts, nachkommt. Die digitalen Techniken sind damit in der bürgerlichen Ökonomie ein Mittel zur Umwandlung von Naturstoff in Gebrauchswert nur, insofern sie auch ein Mittel für die Schaffung von Mehrwert sind. Anders ausgedrückt: Die Technik wird nur eingesetzt, wo sie die Produktion verbilligt.
Der Grund für die längere oder intensivere Arbeit liegt im Interesse des Kapitals an der Technik und nicht in der Technik selbst. Dass für die Kapitalseite eigentlich nie genug gearbeitet werden kann, ergibt sich aus dem Zweck der ganzen Produktion in dieser »besten aller Welten«. Der Reichtum dieser Gesellschaft besteht eben nicht in der freien Zeit, sondern in Geld. Als Reichtum zählt in dieser Gesellschaft, was sich auf dem Markt verkaufen lässt und sich durch Gewinne rechtfertigt. Wo es um diesen abstrakten Reichtum geht, da gibt es auch keinen Maßstab, an dem die Produktion an ihr Ende kommen könnte: Die Akkumulation von Geld ist der Sache nach maßlos.
Diese Sorte abstrakter Reichtum kennt kein Ziel und keine Menge, die letztgültig angestrebt wird. Sein Maß hat er in der für die hergestellten Waren aufgewendeten Arbeitszeit, von der es daher nicht genug geben kann. Die Produktion nützlicher Dinge ist daher in dieser Gesellschaft nicht Zweck der ganzen Produktion und Produktivkraftentwicklung, sondern Mittel für den eigentlichen Zweck: geldwerten Reichtum zu produzieren. So geht es dann nicht einfach um die Reduktion von Arbeit, sondern um die »Rationalisierung«, also um die Verminderung von bezahlter Arbeit bei gleichzeitig ziemlich entscheidender Verdichtung und Verlängerung der Arbeitszeit.
Dass diese Sorte Reichtum sich für den Unternehmer herstellt und nicht für diejenigen, die die Arbeit verrichten, ist dann nur folgerichtig. Alles, was Lohnabhängige einkaufen, um ihr Leben zu bestreiten, gibt es nur und wird nur angeboten unter der Prämisse, dass es sich für die Seite lohnt, welche sie nur dafür produziert, dass am Ende ein Profit herausspringt. So wirkt sich das staatlich garantierte Recht auf Eigentum praktisch aus für die ArbeiterInnen. Für alle, die auf Lohn angewiesen sind, ist die Arbeit lang und intensiv und wirkt daher für sie unproduktiv. Auf der anderen Seite, nämlich im Sinne des geldwerten Überschusses, steigt die Produktivität der Arbeit mit jeder technischen Innovation. Der tatsächliche Überschuss fließt dem Kapital zu, während die Produktivkraftsteigerung sich für die ArbeiterInnen als zusätzliche Belastung bemerkbar macht. So kommt der Reichtum in der kapitalistischen Welt vor.
Chance und Risiko
Im Lichte dieses Widerspruchs entpuppt sich die Phrase von den »Chancen und Risiken« der Digitalisierung als ein handfestes Stück Ideologie. In ihr wird von dem wirtschaftlichen Zweck der Technik abgesehen, und warum das Kapital sie überhaupt entwickelt und einführt. So kann man sich viel vorstellen, was »die Digitalisierung« so mit sich bringt: eben die oben bereits aufgezählten »Chancen und Risiken«.
Diese Phrase ist keine Hilfe zum Verständnis dieses Widerspruchs, weil es sich bei den Risiken nicht etwa um vermeidbare »Fehler« bei der Umsetzung neuer Techniken handelt, sondern um den Zweck der neuen industriellen Revolution. Wenn Unternehmen von der neuen Produktivkraft schwärmen und Crowd- und Cloudwork es erlaubt, auf Arbeitskräfte in aller Welt zuzugreifen und diese als Soloselbständige unter Absehung von Sozialabgaben und Tarifverträgen zu benutzen, dann ist das auch gewollt bei der Einführung dieser Technik.
In der öffentlichen Debatte hält man an der trivialen Erkenntnis fest, dass man die neuen Maschinen ganz prinzipiell dafür verwenden könne, dass alle weniger arbeiten und mehr bekommen. Weil die neuen digitalen Maschinen nicht in jeder denkbaren Welt dafür genutzt werden müssten, Mehrarbeit aus der Belegschaft auszupressen, wird der Übergang gemacht, als wäre auch unklar, ob diese im Kapitalismus für den Zweck der Profitmaximierung eingesetzt werden. Ganz so, als würde die Technik nicht für eben dieses ökonomische Ziel geschaffen, sondern als gäbe es »die Digitalisierung« der Arbeit, über die erst noch entschieden werden dürfe, z.B. darüber wie sie angewendet wird.
Die Arbeiter werden digitalisiert
Dabei ist längst klar, wie die neue digitale Technik eingesetzt wird: Die Beschäftigten werden digitalisiert. Die Verkürzung von Produktionsabständen macht sich für diese als Verdichtung der Arbeit bemerkbar. Die lückenlose Erfassung der Metadaten der Produktion ist zeitgleich die datenintensive Überwachung der Belegschaft. Verdichtung und Datenerfassung treffen dabei aber natürlich nur den Teil der LohnarbeiterInnen, der überhaupt diese Welle des Fortschritts als Teil der Belegschaft erlebt und nicht als Heer der überflüssig Gemachten. So kommt der kapitalistische Fortschritt hier sachgerecht als Rationalisierung des Kapitals vor.
Empirisch sind diese Auswirkungen inzwischen auch gut untersucht: »Der digitale Stress nimmt offensichtlich vor allem aufgrund der Intensivierung der Arbeit sowie häufiger Störungen und Unterbrechungen zu – umso stärker, je länger und flexibler die Arbeitszeiten ausfallen«, so Hans-Jürgen Urban in seinem Buch »Gute Arbeit in der Transformation«. Beispiele dafür sind Legion.
Zweierlei ist dem zu entnehmen. »Die Digitalisierung« ist kein »Trend«, der nun die Kapitale dazu nötigt, ihre Produktion auf den neuesten Stand zu bringen, weil sie – leider, leider! – sonst in der Konkurrenz unterlegen wären. In dieser ideologischen Form ist schon die Satzstruktur eine Zumutung: Die Digitalisierung ist kein Subjekt, das auf die Branche wirkt, sondern umgekehrt ein Prozess, der selbst Ergebnis der Verfolgung der ökonomischen Interessen des Kapitals ist. Als solches Mittel zur Kapitalakkumulation erscheint die Digitalisierung eigentlich nur den Beschäftigten selbst wie eine fremde Kraft, die ihre Arbeit verdichtet und erkleckliche Teile von ihnen überflüssig macht. Gerade diese täten aber gut daran, den ökonomischen Widerspruch zu ihrem Arbeitgeber zu erkennen, der nur als Verhältnis zur Technik erscheint.
Denn weder cyber-physische Systeme, RFID-Chips, 3D-Drucker, vernetzte Produktionen noch smarte Fabriken entlassen Arbeitskräfte oder erhöhen von sich aus die Arbeitsintensität. Dass jede neue Technik, welche für sich immer auch die Potentialität hat, die Arbeit für alle zu reduzieren, zielsicher das Gegenteil hervorruft, ist Folge des Zwecks, mit dem sie eingeführt wird. Hat sich also auch seit der Dampfmaschine so einiges verändert – das ist auf alle Fälle gleichgeblieben, dass die Technik sich für den lohnen muss, der sie anwendet. Was sich allerdings geändert hat, ist die Technik selbst, auf die nun an zwei Beispielen ein genauerer Blick geworden werden soll.
Die neuen Techniken
Beispiel 1: Robotik und CPS als Techniken zur Senkung der Lohnstückkosten. Der Wirkungsgrad der eingesetzten Arbeit, des variablen Kapitals, wird bzw. soll durch CPS erhöht werden. Gemeinhin wird diese Steigerung des Wirkungsgrades der Arbeit ebenso wie die Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit als eine höhere Produktivität gefasst. Es handelt sich hier allerdings um zwei verschiedene ökonomische Auswirkungen. Die Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit spielt sich in der Zirkulation ab – also der Bewegung Kapital – Ware – Kapital. Die Senkung der Lohnstückkosten bezieht sich auf die Produktionssphäre, d.h. es geht um die Erhöhung des Wirkungsgrads der Arbeit. Diese Unterscheidung wird auch dadurch erschwert, dass beide Wirkungen Folgen der digitalen Techniken sind.
Die ökonomischen Auswirkungen der beiden Folgen sind zu unterscheiden: Die Erhöhung des Wirkungsgrads der eingesetzten Arbeit hat eine Senkung des Lohnanteils pro Stück zur Folge, den für den einzelnen Kapitalisten entscheidenden Nutzen der Produktivitätssteigerung. So gibt es Autohersteller, die in den letzten 20 Jahren ihre Produktivität verachtfacht haben, bei gleichbleibender Zahl von Beschäftigten.
Hier ist zu beachten, dass es sich um eine relative Senkung des Lohnanteils handelt und nicht um eine totale Senkung. Es ist also möglich, dass die Löhne sogar steigen und trotzdem die Lohnstückkosten gesenkt werden. Das ökonomische Interesse dieser Entwicklung, mit Marx benannt, ist die Selbstverwertung des Kapitals, das auf dem Zeitverhältnis von notwendiger Arbeit und Mehrarbeit beruht. Die Verausgabung von Arbeit allgemein hat im Kapitalismus den Zweck, das Verhältnis von notwendiger und Mehrarbeit zu Gunsten letzterer, der Verwertung des Kapitals, voranzutreiben.
Beide Effekte gemeinsam, Erhöhung der Umschlaggeschwindigkeit sowie die Erhöhung des Wirkungsgrads der Arbeit, was der Reduktion der notwendigen Arbeit sowie der entsprechenden Erhöhung der Mehrarbeit entspricht, fallen als Phänomen wieder zusammen und finden ihren Ausdruck in der indifferenten Phrase von der erhöhten Produktivität: »Eine Fabrik der Augsburger Firma Kuka in Toledo im US-Bundesstaat Ohio […] Das Werk ist ein Beispiel für die sogenannte Industrie 4.0 […] Mehr als 60.000 elektronische Bauteile wie Rechner, Server, Sensoren und Klemmen sind vernetzt 246 Roboter 372 Arbeiter [sic! Da ist der Sprachautomat wohl mit dem Schreiber durchgegangen, Anm. d. Red.]. ›Früher haben wir etwa vier Stunden gebraucht, um eine Karosserie zu bauen, heute ungefähr 90 Minuten‹.« (Süddeutsche Zeitung, 22. April 2016)
Wird allein das Ergebnis betrachtet – mehr Produkt in weniger Zeit – dann liegt es für viele nahe, von einer Entlastung der ArbeiterInnen auszugehen. Ist allerdings mit der Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit der ökonomische Zweck benannt, dann führt diese Produktivitätssteigerung gerade zu einer gegenteiligen Entwicklung. Der Arbeiter muss sich an die neue Geschwindigkeit im Produktionsprozess, der von Unterbrechungen gesäubert wurde, anpassen. Diese Stockungen in der Zirkulation sind nämlich umgekehrt für den Arbeiter Pausen. So hat dieses ökonomische Interesse für den Arbeiter einerseits eine Senkung der Lohnstückkosten zur Folge, andererseits auch eine Verdichtung der Arbeit.
Beispiel 2: Die digitale Vernetzung über Betriebsgrenzen hinweg als Einsparung von Zirkulationskosten. Auch in der Sphäre der Zirkulation sollen die digitale Vernetzung des Unternehmens mit Zulieferbetrieben und KonsumentInnen und die sich daraus ergebende Möglichkeit der Automatisierung von Bestellungen, Abrechnungen etc. Zeit und Kosten einsparen. In Echtzeit soll die Zirkulation mit der Produktion verknüpft werden, um so den ganzen Verwertungsprozess zu beschleunigen. Damit werden auch weitere Kosten der Lagerhaltung reduziert, also eine Einsparung auf Seiten des konstanten Kapitals. So wird der Prozess fortgesetzt, der bereits vor Jahrzehnten mit der Just-in-Time-Produktion begonnen hat. Die Einsparung von Lagerkosten hängt dabei »von verschiednen Bedingungen ab, die alle im wesentlichen hinauskommen auf die größre Geschwindigkeit, Regelmäßigkeit und Sicherheit, womit die nötige Masse von Rohstoff stets so zugeführt werden kann, daß nie Unterbrechung entsteht«, so Marx im zweiten Band des »Kapital« (MEW 24: 143).
Scheinsubjekt Digitalisierung
Angeblich ist die Digitalisierung also für alles Mögliche verantwortlich, von schlechteren Arbeitsbedingungen bis hin zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von der Überflüssigmachung von ArbeiterInnen bis zur Entstehung neuer Branchen, vom Arbeitsstress bis zur besseren Work-Live-Balance. Dabei zwingt uns »die Digitalisierung« weder länger zu arbeiten, noch schafft sie kürzere Arbeitstage. Die Digitalisierung macht gar nichts. Sie wird gemacht.
Subjekt der neuen technischen Entwicklungen ist nämlich nicht eine ominöse »Digitalisierung«, die nun irgendwie über uns alle kommt, sondern das Kapital. Unternehmer entwickeln neue Techniken und setzen sie ein, und zwar für ihre ökonomischen Zwecke. »Die Digitalisierung« gibt es also gar nicht als Subjekt, das irgendjemand zu irgendetwas nötigt. Technik ist selbst immer Mittel und nicht Akteur. Wer verstehen will, wie sich Arbeitsprozesse dieser Tage verändern, tut also gut daran nicht auf »die Digitalisierung« zu blicken, sondern auf die maßgeblichen Akteure, die diese neue Technik ins Werk setzten, und ihre polit-ökonomischen Interessen.
Bei der Digitalisierung handelt es sich um ein »Scheinsubjekt«. Das heißt auf lateinisch Expletivum und ist den DeutschlehrerInnen aus Sätzen bekannt, wo etwas passiert, das niemand zugeordnet werden kann. Das klassische Beispiel: »Es« regnet. Hier ist »Es« das Expletivum, das Scheinsubjekt. Genau darum handelt es sich auch bei der Digitalisierung. So werden die Unternehmen und die Politik als tatsächliche Akteurinnen in diesen Verhältnissen aus dem Blick genommen, und stattdessen die neuen digitalen Techniken als ursächlich betrachtet.
P.s.: Arbeitslosigkeit
Dass etwaige Arbeitslose durch die Digitalisierung von neuen Jobs in neuen Branchen aufgefangen werden würden, ist immer wieder zu lesen.
Einerseits ist es richtig, dass die Gesamtzahl, also die absolute Arbeitermasse, steigen kann, selbst wenn die Produktivität immer weiter steigt: »Man begreift jedoch, trotz der vom Maschinenbetrieb faktisch verdrängten und virtuell ersetzten Arbeitermasse, wie mit seinem eignen Wachstum, ausgedrückt in vermehrter Anzahl von Fabriken derselben Art oder den erweiterten Dimensionen vorhandner Fabriken, die Fabrikarbeiter schließlich zahlreicher sein können als die von ihnen verdrängten« heißt es im ersten Band des »Kapital« (MEW 23, S. 473). Dies steckt bereits im Begriff der »virtuell« ersetzten Arbeitermasse, womit gemeint ist, dass das Gesamtvolumen an Warenproduktion steigt und so ArbeiterInnen nur in rein abstrakter Rechnung überflüssig gemacht werden, die man rückwärts anstellen kann: X ArbeiterInnen wären vor der Einführung der neuen Technik notwendig gewesen, um diese Menge an Waren zu produzieren, obwohl real nie diese Anzahl an Produkten auf der alten Stufe der Produktivität erreicht worden ist.
Andererseits ist klar, dass diese absolut gesteigerte Arbeitermasse relativ, »d.h. im Verhältnis zum vorgeschoßnen Gesammtkapital« (ebd.) sinkt. Werden nämlich mehr ArbeiterInnen eingesetzt als zuvor, dann an den neuen Maschinen, die, wie bereits gezeigt wurde, nur angeschafft werden zu dem Zweck, Arbeit überflüssig zu machen – da diese aber auch virtuell sein kann, wird klar: »Relative Abnahme der beschäftigten Arbeiterzahl verträgt sich also mit ihrer absoluten Zunahme« (ebd.) – und zwar dann, wenn die Produktion allgemein erhöht wird.
Es ist also gar keine Entscheidung zu treffen, welches der beiden Szenarien eintritt, sondern vielmehr eine Bedingung zu formulieren, unter welcher die These der steigenden Arbeitsplätze überhaupt nur eintreten kann: Mehr Arbeitsplätze können durchaus auch im Zeitalter der Digitalisierung entstehen: aber nur dann, wenn mehr Waren produziert werden. Diese Bedingung hat selbst wieder Konsequenzen, die von Marx gefasst werden als die »Erobrung fremder Märkte« (MEW 23, S. 475).
Marx’ Nachweis, dass das Wachstum der Anzahl der Fabrikarbeiter »bedingt [ist] durch proportionell viel raschres Wachstum des in den Fabriken angelegten Gesammtkapitals« (MEW 23, S. 477) und der Ausdehnung des Kapitals auf dem Weltmarkt ist die unterschlagene Notwendigkeit, die in der Prognose enthalten sein muss, die besagt, dass die Anzahl der Arbeitsplätze in Deutschland konstant bleiben könne oder sogar wachse. Unterstellt ist damit also, dass deutsches Kapital die Konkurrenz um den Weltmarkt gewinnt – oder irgendein anderes ›nationales‹ Kapital sich durchsetzt.
Hier sollte spätestens klar werden, warum der Versuch, aus der Technik selbst direkte Folgen für die totale Anzahl von Arbeitsplätzen in einem Land ableiten zu wollen, scheitern muss. Innerhalb eines Weltmarktes mit globaler Konkurrenz der Nationen können die neuen Techniken gleichzeitig Konkurrenzvorteil sein, indem sie bestehende Arbeitsplätze subsumieren, und gleichzeitig können mehr Arbeitsplätze entstehen durch eine Ausweitung der Produktpalette und der Märkte. Dass dies auf Kosten von Arbeitsplätzen in anderen Nationen geht, ist dabei immer unterstellt und eröffnet gleich die nächste Zumutung für die Arbeitnehmer. Den Kampf um »digitale Dominanz« zwischen USA, China und Europa, für deren imperialistische Interessen die ArbeiterInnen ebenfalls hergenommen werden. Dazu allerdings mehr an anderer Stelle.
* Peter Schadt arbeitet beim DGB Nordwürttemberg als Regionssekretär für den Bereich Esslingen/Göppingen – außerdem ist er mitverantwortlich für das »Arbeitsweltradio«, einen hörenswerten Podcast des DGB.
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