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Die israelische Rechtsregierung beendet den Mythos der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ – per allgemeinem Demonstrationsverbot

Bei den Protesten in Israel im August 2020 spielt auch der politische Block um die KP seit langer Zeit wieder eine Rolle...„… Nach tagelangen Debatten und zuletzt einer Nachtschicht hat das israelische Parlament am frühen Mittwochmorgen, den 30. September, eine Änderung des Coronavirus-Gesetzes erlassen. Es ermöglicht der Regierung, einen „besonderen Notstand“ zu erklären, wenn sich das Coronavirus zu sehr ausbreitet. Unter dem Notstand könnte die Regierung Menschenansammlungen von über 20 Personen untersagen und es Demonstrierenden verbieten, sich mehr als einen Kilometer von zu Hause zu entfernen. Das Kabinett muss den Notstand jede Woche erneuern. Die Regierungspartei Likud hatte zuvor gefordert, dass das Verbot von Massenprotesten auch nach Aufhebung des derzeit herrschenden landesweiten Lockdowns in Kraft bleibt. Sie ließ die Forderung jedoch fallen, wohl wegen Widerstands vonseiten des Koalitionspartners Blau-Weiß. Stattdessen kündigte Regierungschef Benjamin Netanjahu am Dienstag an, der Lockdown werde wahrscheinlich nicht wie geplant innerhalb von weniger als einem Monat aufgehoben. Möglicherweise werde es „noch viel länger dauern“. Voraussichtlich werden auch für diese Zeit die Proteste eingeschränkt sein…“ – aus dem Beitrag „Grünes Licht für Demoverbot“ von Judith Poppe am 30. September 2020 in der taz online externer Link über den Ausweg, den die Rechtsregierung gesucht hat, um die wachsenden Massenproteste gegen ihre Politik (und Korruption) einzudämmen… Siehe dazu zwei weitere Beiträge zu den aktuellen Repressionsmaßnahmen im Zuge des neuerlichen Lockdown sowie drei Beiträge aus den letzten Monaten, die die Bedeutung der aktuellen Auseinandersetzungen klarer machen – und den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zur Protestwelle in Israel:

„Harte Vorgaben“ von Knut Mellenthin am 02. Oktober 2020 in der jungen welt externer Link zur Bedeutung und Richtung der Regierungspolitik unter anderem: „… Alle Israelis dürfen sich nur in wenigen, genau begründeten Ausnahmefällen weiter als 1.000 Meter von ihrer Wohnung entfernen. Nebenbei wurde auch das Demonstrationsrecht, das während des ersten Lockdowns im März und April noch respektiert wurde, bis zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Niemand darf mehr an Protesten außerhalb des Ein-Kilometer-Radius teilnehmen. Demonstranten müssen nicht nur die ohnehin übliche Masken- und Abstandspflicht einhalten, sondern sollen sich außerdem in Kleingruppen von höchstens 20 Personen separieren. Damit sind vor allem die allwöchentlichen Kundgebungen rund um den Amtssitz von Premierminister Benjamin Netanjahu in Jerusalem, die an jedem Sonnabend zwischen 10.000 und 20.000 Teilnehmer aus dem ganzen Land anzogen, vorerst illegalisiert und praktisch vermutlich »gestorben«. Vor diesem Hintergrund fanden am Montag, Dienstag und Mittwoch noch Demonstrationen in Tel Aviv, Jerusalem und an anderen Orten zur Verteidigung dieses Rechts statt. Die Beteiligung lag aber wegen der veränderten Voraussetzungen jeweils nur bei einigen hundert Menschen. Juristisch betrachtet waren die von der Regierung verfügten Einschränkungen des Demonstrationsrechts noch nicht einmal in Kraft, sondern bedurften noch der Zustimmung eines bestimmten Parlamentsausschusses, die erst im Laufe des Donnerstags erwartet wurde. Aber die Polizei verhielt sich vielfach schon seit dem vergangenen Wochenende so, als wären alle Regierungsbeschlüsse bereits gültig. Unter Berufung auf die noch nicht vorhandene Rechtsgrundlage wurde Autokonvois die Weiterfahrt nach Jerusalem verwehrt, wurden Proteste gewaltsam aufgelöst und Festnahmen vorgenommen. (…) Priorität bei den Öffnungen soll »die Wirtschaft« haben. Gemeint sind damit nicht die kleinen und mittelständischen Unternehmen wie Restaurants und Einzelhandelsgeschäfte, die sich noch nicht einmal von den schweren finanziellen Folgen des ersten Lockdowns erholt haben und die vermutlich zu Hunderten oder Tausenden in den kommenden Monaten zugrunde gehen werden. »Die Wirtschaft« bedeutet hauptsächlich größere Produktions-, Dienstleistungs- und Verwaltungsunternehmen, die gegenwärtig nur mit einem Bruchteil ihrer Personalkapazität arbeiten dürfen. An den Interessen der so definierten »Wirtschaft« orientieren sich auch die Vorstellungen der Regierung für die Wiederaufnahme des Schul- und Kinderbetreuungsbetriebs. Einem Bericht des Fernsehsenders Kanal 13 zufolge könnten Vorschulen und Kindergärten vielleicht schon nach dem Laubhüttenfest (Sukkot) wieder öffnen, das am 9. Oktober endet. Das wäre eine entscheidende Voraussetzung, damit die Eltern dieser Kinder, »der Wirtschaft» wieder uneingeschränkt zur Verfügung stünden. Grundschulen könnten nach diesem Plan zwei Wochen später den Unterricht wieder aufnehmen. Ältere Kinder dagegen sollen bis nach dem Chanukkafest, das am 18. Dezember endet, nur zu Hause unterrichtet werden. Das hat allerdings in Israel während des ersten Lockdowns so schlecht geklappt wie überall auf der Welt und die Schülerinnen und Schüler mit schlechten sozialen Voraussetzungen noch mehr zurückgeworfen. Schon in den knapp zwei Wochen des neuen Lockdowns ist die Zahl der registrierten Erwerbslosen stark angestiegen. Allein am Dienstag wurden 14.723 Neuanmeldungen verzeichnet. Die offizielle Gesamtzahl lag zu diesem Zeitpunkt bei rund 909.460...“

„Mikwe ja, Schwimmbad nein“ von Judith Poppe am 23. September 2020 in der taz online externer Link machte bereits deutlich, wen die Rechtsregierung – keineswegs zufällig – bevorzugt behandelt: „… Die Zustimmung überrascht, denn der erste Lockdown im März hatte für Aufruhr innerhalb der ultraorthodoxen Gemeinschaften gesorgt. Dass Synagogen und Religionsschulen geschlossen wurden, sahen die Strenggläubigen als Angriff auf ihre Gemeinschaft und ihren Lebensstil. Sie machten ihre religiösen Parteien dafür verantwortlich. Nun versuchen diese, das Vertrauen ihrer Wähler*innen zurückzugewinnen. Mitte September, einige Stunden bevor das Parlament den landesweiten zweiten Lockdown absegnete, trat der ultraorthodoxe Wohnungsbauminister Jaakov Litzman zurück – aus Protest dagegen. Möglicherweise hat er damit den Druck auf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu noch erhöht. Denn dass es dieses Mal keinen nennenswerten Widerstand aus den ultraorthodoxen Communitys gegen den Lockdown gibt, könnte an großzügigen Ausnahmeregelungen für die Strenggläubigen liegen. Dieses Mal bleiben die Synagogen geöffnet. Gläubige dürfen in Gruppen von 10 oder 25 Personen in den Innenräumen beten, je nach lokaler Infektionsrate. Das ist großzügig, denn ansonsten gilt allgemein ein Maximum von 10 Personen bei Zusammenkünften. Hedva Yaari macht das wütend. Sie sitzt am Strand in Tel Aviv, in der Hand hält die 51-jährige freiberufliche Dozentin ein Schild: „Nein zum politischen Lügen-Lockdown.“ Hinter ihr im Sand tanzen junge Menschen in Bikinis und Badehosen zu lauter Musik, einige halten Schilder mit ähnlichen Slogans in der Hand. Für Yaari ist der Lockdown auf die Ultraorthodoxen zugeschnitten: „Wir Säkularen dürfen nicht ins Schwimmbad gehen, aber die orthodoxen Frauen dürfen ihr rituelles Bad nehmen, die Mikwe.“...“

„Zweite Welle in Israel“ von Tal Leder am 16. Juli 2020 in der jungle world externer Link (Ausgabe 29/2020) zum bereits damals klar werdenden Kurs der Rechtsregierung: „… Am Samstagabend demonstrierten Tausende in Tel Aviv auf dem Rabin-Platz für mehr finanzielle Unterstützung. Der Protest wurde von Arbeitern, Freiberuflern und Kleinunternehmern organisiert, aber auch Künstler und Selbständige nahmen daran teil. Sie warfen Netanyahu vor, dass die Menschen nach der Verhängung der Kontaktbeschränkungen auf sich allein gestellt gewesen seien. Viele leiden unter den wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie. »Der Ministerpräsident hat die Pandemie und deren wirtschaftliche Auswirkungen unterschätzt«, sagt der Chefkoch Almog Baumgarten, der ein Café im hippen Viertel Florentin in Tel Aviv besitzt. »Die finanzielle Unterstützung war ein Witz, und mit den neuen ­Gesundheitsvorschriften wird die Wirtschaft bald kollabieren.« Die Regierung habe sich nach der Einschränkung des öffentlichen Lebens mehr auf die Annexion von Teilen des Westjordanlands konzentriert. Über diese sollte ab dem 1. Juli im Kabinett und in der Knesset diskutiert werden (Jungle World 25/2020). Kritik kam vor allem aus Jordanien. Dessen Regierung sieht die Stabilität im Nahen Osten in Gefahr und droht dem jüdischen Staat, den 1994 abgeschlossenen Friedensvertrag aufzukündigen. Bislang wurde nicht über die Annexionspläne beraten. Nach den Protesten am Samstagabend stellte Netanyahu am folgenden Tag ein neues Hilfsprogramm vor. Dieses umfasst 80 Milliarden Schekel (rund 20 Milliarden Euro). Es soll Beschäftigten, Selbständigen und ­Unternehmen bis Juni 2021 Sicherheit bieten. Die Hilfen sollen teils aus dem Haushalt, teils durch Kredite finanziert werden. Selbständige erhalten eine Sofortzahlung von umgerechnet knapp 2 000 Euro, kleine Firmen alle zwei Monate 1 500 Euro und große Unternehmen Hilfszahlungen bis zu 128 000 Euro. »Das Vertrauen in die Regierung ist weg, erst recht seit Netanyahu Gesetze unter dem Deckmantel der Pandemie erlässt, um die Proteste einzudämmen«, sagt Baumgarten. »Dazu gehören antidemokratische Maßnahmen wie die Erneuerung der Mobilfunkverfolgung durch den Geheimdienst Shin Bet.« Am 1. Juli hat das israelische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das es dem Inlandsgeheimdienst bis einschließlich 21. Juli erlaubt, auf die Standortdaten der Handys von Infizierten ­zuzugreifen, wenn täglich mehr als 200 Neuinfektionen registriert werden. Die Regierung hatte den Zugriff auf die Daten bereits im März per Beschluss ermöglicht. Das höchste Gericht urteilte Ende April, es sei eine gesetzliche Regelung durch die Knesset nötig, da es sich um einen Grundrechtseingriff handele…“

„„Wir legen den Finger in die Wunde Israels““ am 24. Juli 2020 bei dis:orient externer Link ist ein Gespräch von Tobias Griessbach mit dem Aktivisten Oren Fischer, worin dieser unter anderem ausführt: „… Im Grunde geht es uns um nichts anderes als den Rücktritt des Premierministers. Seit 2011 ist die Dichte an Protesten unglaublich hoch geworden und viele kleine Aktionsgruppen haben versucht, ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Wir haben als Grund für all diese Proteste und Forderungen Benjamin Netanyahu identifiziert, egal ob es um Rassismus, Arbeitskampf oder die Besatzung des Westjordanlandes geht. Wir sehen ein großes Defizit in seiner Politik und wollen auch das Ende dieser Politik sehen, besonders hinsichtlich der momentanen Corona-Pandemie. Netanyahus Politik beziehungsweise sein fatal schlechtes Management der Krise ist ein Indikator für sein politisches Verständnis. Derzeit haben wir bei nicht einmal neun Millionen Einwohner*innen mehr als eine Million Arbeitslose und es gibt Menschen, die schlicht Hunger leiden, während Netanyahu nichts anderes tut, als seine Macht zu erhalten. Für ihn zählt im Moment nur sein Korruptionsverfahren und die Aushöhlung demokratischer Strukturen, wie die Verabschiedung des „Corona-Gesetzes“ nahelegt...“

„Kampf gegen Corona: Netanjahu rettet sich selbst, nicht die Demokratie“ von Tali Konas am 01. Juli 2020 bei der Rosa Luxemburg Stiftung externer Link machte den Grundzug der aktuellen rechten Politik in Israel, sich mit Hilfe der Epidemie vor Kritik zu retten, bereits vor drei Monaten deutlich: „… Netanjahu hat schon immer Bedrohungen von außen dazu genutzt, um politischen Druck auf die israelische Öffentlichkeit auszuüben. So wurde auch die Corona-Pandemie zu einem weiteren Instrument in Netanjahus Taktik der existenziellen Panikmache, die ihn an der Macht hält. Sein Hauptargument war, dass er – der Premierminister mit zehn Jahren Erfahrung – in Notstands- und Krisenzeiten (die er stets in regelmäßigen Abständen zum Teil selbst erzeugt) der einzige geeignete Kandidat sei, um die Regierung zu leiten. Einige Tage vor der Vereidigung der neugewählten Knesset, zu einer Zeit, als die Anzahl der mit COVID-19 Infizierten weiter stieg und die Notstandsmaßnahmen verschärft wurden, beantragten die Oppositionsfraktionen bei dem scheidenden Parlamentsvorsitzenden Juli Edelstein (Likud-Mitglied und Netanjahus Getreuer), eine Debatte über die Wahl eines neuen Parlamentsvorsitzenden anzusetzen. Edelstein weigerte sich unter Verweis auf die Verordnungen zu Bekämpfung der Corona-Pandemie mehr als zwei Wochen lang, die damit betrauten Knesset-Ausschüsse einzuberufen, ehe der Oberste Gerichtshof ihn schließlich zur Einberufung des Plenums zwang. Zur gleichen Zeit erweiterte Justizminister Amir Ohana, einer von Netanjahus Getreuen, seine Befugnisse. Einige Tage vor der geplanten Eröffnung des Prozesses gegen Netanjahu wegen Korruption erließ der Minister eine Verordnung, mit der er die Gerichte anwies, aufgrund der Corona-Pandemie und des damit einhergehenden Versammlungsverbots, ihre Arbeit auszusetzen. Infolgedessen wurde die Eröffnung des Prozesses gegen Netanjahu verschoben. Auch das Gesundheitsministerium unter der Leitung von Yaakov Litzman, einem weiteren Anhänger Netanjahus, blieb nicht tatenlos und beauftragte den Chef des israelischen Inlandsgemeindiensts, alle ihm zur Verfügung stehenden technischen Mittel einzusetzen, um mit dem Corona-Virus infizierte Menschen zu identifizieren. Netanjahu wandte sich an das zuständige Knesset-Komitee, das solche außergewöhnlichen Maßnahmen zu genehmigen und zu überwachen hat. Dieses weigerte sich, sofort zuzustimmen, und forderte Sicherheitsvorkehrungen, um die Privatsphäre der betroffenen Menschen zu wahren und einen Missbrauch der Daten zu verhindern. Daraufhin unterzeichnete der Premierminister eine Notstandsverordnung, die die Regierung ermächtigt, die Handys der mit dem Virus infizierten Menschen zu überwachen und all ihre Bewegungen nachzuverfolgen. Diese Verordnung enthüllte ein noch schwerwiegenderes Problem: So wurde aufgedeckt, dass der Inlandsgemeindienst seit Längerem alle Menschen in Israel überwacht und Daten über all ihre Telefonanrufe, gesendeten und empfangenen Nachrichten, die von ihnen besuchte Webseiten und ihre Aufenthaltsorte speichert. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit privaten Mobilfunkunternehmen, die seit 2002 gesetzlich dazu verpflichtet sind, diese Daten an den israelischen Inlandsgemeindienst zu übermitteln. Im März 2020, im Zuge der Corona-Krise, durfte der Inlandsgeheimdienst zum ersten Mal diese Datenbank in großem Umfang für zivile Zwecke und nicht nur im Rahmen der Terrorismusbekämpfung nutzen, was in der Vergangenheit mehrmals vom Obersten Gerichtshof abgelehnt worden war. Eine weitere Kritik am Gesundheitsministerium betrifft Mängel bei der Durchsetzung der Notstandsverordnungen innerhalb der religiösen jüdischen Bevölkerung. Bereits vor der Corona-Krise stand Gesundheitsminister Litzman, Knesset-Abgeordneter der jüdisch-orthodoxen Partei Agudat Jisrael, unter dem Vorwurf, er lasse «seinen Leuten» mit der Unterstützung von Netanjahu – dessen Herrschaft von den ultraorthodoxen Wählerstimmen abhängt – eine bevorzugte Behandlung zukommen. Zu Beginn der Pandemie hatte sich Litzman gegen einen Lockdown in den ultraorthodoxen Ortschaften und Stadtteilen ausgesprochen, obwohl diese eine sehr hoher Bevölkerungsdichte aufweisen…“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=178935
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