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„Ihr werdet uns nicht einsperren!“ Die Proteste gegen die Corona-Politik der rechten Gouverneurin Madrids gehen auch an „Tag 1“ der Klassen-Ausgangssperre für ärmere Viertel weiter

Mobilisierungsplakat Madrid 20.9.2020 gegen die Ausgangssperre für ärmere ViertelDie zweiwöchige Sonder-Ausgangssperre für die ärmeren Viertel im Süden Madrids hat am Montag, 21. September 2020, begonnen. Bilder zeigen das Auftreten der Polizei (im „Normalvorgang“, ohne besondere Zwischenfälle) im Vergleich: Rabiat und „forsch“ in Vallecas (Jahres-Durchschnittseinkommen bei 10.000 Euro), höflich und zurückhaltend im nördlichen Salamanca (3.600 Steuerzahler mit einem Einkommen von über 200.000 Euro im Jahr). Wie es bei den Rechten so zu sein pflegt: Arbeiten gehen „dürfen“ die Menschen auch der südlichen Stadtteile, die überfüllte Metro inklusive, was Frau Ayuso von mancher Seite die keineswegs zutreffende Kritik bescherte, sie sei „inkompetent“. Wo sie doch einfach nur reaktionär und menschenfeindlich ist – also eben rechts. Und zum Arzt dürfen sie auch: Zumindest zu dem wenigen in einem Gesundheitssystem, das die rechte Kürzungspolitik übrig gelassen hat, ganz wie ihre GesinnungsgenossInnen in Norditalien. Und Kinder in die Schulen schicken „dürfen“ sie – sofern diese nicht bestreikt werden, was gerade zunimmt. Alles das hat aber nicht dazu beigetragen, die Proteste, die am Wochenende explodiert waren (siehe unseren Bericht vom Montag, 21.9.) zu beenden – sie gingen auch an diesem Tag 1 weiter. „Ihr werdet uns nicht einsperren!“ war die Losung, unter der diese neuerlichen Proteste stattfanden. Siehe zu den fortgesetzten Protesten in Madrid eine kleine Materialsammlung mit einigen aktuellen Beiträgen. Und neu dazu am 23. September ein Update mit zwei Hintergrundbeiträgen – darunter die (übersetzte) Erklärung der Nachbarschaftsverbände und ein Beitrag zur Unterstützung der Gouverneurin durch den Ministerpräsidenten:

„Tras la dimisión de Ayuso y su gobierno, el sur se prepara para otra semana de insurrección“ von Sarah Babiker am 21. September 2020 bei El Salto Diario externer Link meldet zwar als einziger Beitrag den (nirgendwo bestätigten) Rücktritt von Frau Ayuso, ist aber aus ganz anderen Gründen ein lesenswerter Artikel: Weil es faktisch eine Reportage aus den betroffenen Gebieten ist und darin zahlreiche Menschen zu Wort kommen, die die reaktionäre Klassen-Ausgangssperre nicht nur kritisieren, sondern aktiv gegen sie mobilisiert haben. Menschen, die „so etwas“ meist zum ersten Mal gemacht haben, keine „Aktivisten-Profis“, sondern Kindergärtnerinnen beispielsweise oder auch junge Erwerbslose, die nicht so genau wissen, wie sie 400 Euro Miete für ein Zimmer ohne Fenster bezahlen sollen. Vor allem aber: Menschen, die eindeutig unterstreichen, dass die Proteste fortgesetzt werden, jeden Tag „bis Ayuso weg ist“… und über Aktionen an „Tag 1“ berichten…

„80 organizaciones y más de 300 activistas piden la dimisión de la predidenta de Madrid, Díaz Ayuso“ von Pepe Mejia am 21. September 2020 bei La Haine externer Link dokumentiert, berichtet von einer Initiative von über 80 Gruppierungen, die den Rücktritt der rechten Frontfrau der PP fordern – wegen „institutionellem Rassismus“ nach ihren Äußerungen, es sei die Lebensweise der Migrantinnen und Migranten, die die zweite Epidemie-Welle verursacht hätte… Für diesen Rücktritt wurde ein Manifest veröffentlicht, das unter anderem von zahlreichen bekannten Kulturschaffenden Madrids unterzeichnet wurde

„Los confinamientos de los barrios obreros no tienen que ver con lo que ocurre en Metro“ am 21. September 2020 im Twitter-Kanal von Solidaridad Obrera externer Link ist eine Meldung (mit Foto), die deutlich macht, dass in der Madrider Metro keinerlei Anzeichen von „Abstand“ oder Ähnliche sichtbar und möglich sind – was den rechten Willkürakt erst recht deutlich unterstreicht…

„Hoy han enviado policías antidisturbios con cascos, escudos y escopetas de balas de goma al barrio obrero de Vallecas“ am 20. September 2020 im Twitter-Kanal von Fosi Loaiza externer Link ist eine Meldung über die unterschiedlichen Formen des Polizeieinsatzes in „besseren“ und „schlechteren“ Stadtvierteln (inklusive der eingangs genannten Einkommenszahlen)

„Ayuso recibió 1.500 millones de euros para reforzar la sanidad… Lo primero que hizo fue contratar un capellán por cada 100 camas de hospital“ am 21. September 2020 im Twitter-Kanal von Pigmalion externer Link steht hier als Beispiel für die konkrete rechte Politik gerade in Spanien. Die Regionalregierung hat 1,5 Milliarden Euro aus dem Landeshaushalt erhalten, um das Gesundheitswesen zu stärken. Die erste Ausgabe der Rechtsradikalen: Für je 100 Patientinnen und Patienten – einen „Seelsorger“ einstellen…

„Un día el sur se levantó y dijo ¡basta!“ von Javier Mayo am 21. September 2020 bei Nueva Tribuna externer Link berichtet nicht nur von der Fortsetzung der „Erhebung des Südens“ von Madrid, sondern stellt auch die reaktionären Maßnahmen Ayusos in den Zusammenhang langjähriger sogenannter Stadtentwicklungspolitik (in Madrid so reaktionär, phantasielos und dumm wie in Berlin und an so vielen anderen Orten der Event-Wirtschaft) – die immer gegen die Menschen der ärmeren Bereiche der Stadt gerichtet war – und ist.

„¡No nos van a encerrar! ¡No nos van a callar!“ am 21. September 2020 beim Gewerkschaftsbund CGT externer Link ist Erklärung und Aufruf zum Widerstand der anarchosyndikalistischen Föderation gegen den „Klassen-Notstand“ in Madrid. „Die Schuldigen beschuldigen die Opfer“ so der Tenor dieser Verlautbarung, in der zur Beteiligung an allen Aktionen aufgerufen wird.

„Declaración sobre la situación del Covid 19 en la Comunidad de Madrid“ am 21. September 2020 beim Regionalverband Madrid des Gewerkschaftsbundes CCOO externer Link ist ebenfalls eine Erklärung gegen die Gouverneurin und ihre gesamte Epiedemie-Politik, in der zu Widerstands-Aktionen aufgerufen wird und ausführlich an die Auswirkungen der rechten Epidemie-Politik erinnert – die vielen Menschen in Altenheimen, für deren Tod Ayuso Verantwortung trägt, als krassestes Beispiel.

„Feindbild Arme“ von Carmela Negrete am 22. September 2020 in der jungen welt externer Link unter anderem zum Ergebnis des Treffens zwischen Ayuso und Ministerpräsident Sanchez: „… Die Situation in Madrid ist besorgniserregend. Ein Drittel aller wegen Covid-19 in Spanien stationär behandelten Patienten liegt derzeit in den Krankenhäusern der Hauptstadt. Am Sonntag wurden im Land 4.697 Neuinfektionen registriert, davon allein 1.553 in Madrid, wo in den letzten sieben Tagen 144 Personen mit dem Coronavirus starben. Im Vergleich zum Frühjahr, als die Pandemie in Spanien ihren ersten Höhepunkt erlebt hatte, sterben derzeit weniger Menschen mit Covid-19. Das liegt einerseits daran, dass sich insbesondere Jüngere anstecken. Zudem haben sich die Behandlungsmöglichkeiten mittlerweile deutlich verbessert. Am Montag traf sich Ministerpräsident Pedro Sánchez von den Sozialdemokraten des PSOE mit Regionalpräsidentin Ayuso, wobei der Premier die neue Strategie der Zentralregierung angesichts der steigenden Fallzahlen erläuterte. Statt wie im Frühjahr den Gesundheitsnotstand auszurufen, solle auf eine engere Kooperation mit und mehr Selbstbestimmung der einzelnen Regionen gesetzt werden. Auf die soziale Katastrophe, die die Coronapandemie für große Teile der Bevölkerung bedeutet, ging Sánchez hingegen nicht ein. Dazu passt, dass auch das vor drei Monaten als zentrale Hilfe für die Bedürftigsten eingeführte sogenannte Grundeinkommen schlicht nicht funktioniert. Von den rund 900.000 eingegangenen Anträgen sind bislang lediglich 86.000 bewilligt worden. Das liegt insbesondere an der Verwaltung, die wegen Personalmangels bisher nicht in der Lage war, die Anträge zu bearbeiten. In den Armenvierteln von Madrid warten nun viele eingesperrt auf ihr Geld aus dem »Grundeinkommen«“.

UPDATE vom 23. September 2020:

„Die Nachbarschaftsverbände von #Villaverde, #Usera, #Vallecas und #Carabanchel erheben sich gegen den Vorschlag selektiver Isolation“ am 22. September 2020 bei Enough is Enough externer Link ist die (ins Deutsche übersetzte) gemeinsame Erklärung der Nachbarschaftsverbände (siehe zu deren Rolle den Verweis am Ende zu unserem ersten Bericht aus Madrid) gegen die Politik der Gouverneurin, worin es unter anderem heißt: „… Das Virus hat als Vorwand gedient, um Hass und Angst unter unseren Nachbar:innen zu säen. Man hat sich dafür entschieden, mit dem Finger auf das schwächste Glied in der Kette zu zeigen… anstatt darüber zu sprechen, was für den Süden wirklich wichtig ist: Wo ist das Gesundheitszentrum von Butarque, das seit mehr als einem Jahrzehnt gefordert wird, um die absolute Überbelegung des Zentrums von Los Rosales zu vermeiden? Wie werden sie die Klassenzimmer aufteilen, wenn sie Parkplätze auf den für Bildungszwecke vorgesehenen Grundstücken bauen? Und bräuchten wir nicht mehr Mittel, um die soziale Verwundbarkeit zu lindern, die seit der Gründung dieser Stadt besteht, oder ist es ein Zufall, dass die Bezirke mit den schlechtesten relativen Indikatoren der Lebenserwartung, des Bildungsniveaus, des durchschnittlichen Haushaltseinkommens, der Arbeitslosenquote, des Katasterwertes der Wohnungen, der Nachfrage nach Abhängigen… beschlossen werden, isoliert zu werden? Wie viele der 200 Maßnahmen, die 2016 von den Vereinen von Villaverde vorgestellt wurden und die für die Gleichstellung des Territoriums und die Chancen unseres Stadtteils notwendig sind, sind durchgeführt worden?…“

„Ausgangssperre nur für Arme in Madrid“ von Ralf Streck am 23. September 2020 bei telepolis externer Link zu den Gründen für die Politik der Gouverneurin – und zur Unterstützung ihres Kurses durch die spanische Regierung unter anderem: „… Die arme Bevölkerung wird deshalb mit harten Maßnahmen und einer Ausgangssperre überzogen, um Aktivitäten zur Virusbekämpfung vorzutäuschen. Im Kern geht es der Regionalregierung aber um etwas anderes: „Wir müssen unbedingt einen neuen Alarmzustand vermeiden“, rechtfertigte Ayuso ihr Vorgehen. Damit das wirtschaftliche Leben nicht erneut völlig zum Erliegen kommt, muss eben nun der ärmere Teil der Bevölkerung drakonische Maßnahmen in der Hoffnung über sich ergehen lassen, dass darüber Infektionsraten allgemein gesenkt werden könnten. Die betroffenen Menschen dürfen ihre Wohnung derzeit nur noch verlassen, um zur Arbeit oder in die Schule zu gehen oder um sich um kranke und bedürftige Menschen kümmern. (…) Und auch in seiner Partei, die über den peinlichen Auftritt von Pedro Sánchez weitgehend schweigt, ist man in Teilen ziemlich entsetzt. Statt Ayuso beizuspringen, die seine PSOE in der Hauptstadtregion über einen Misstrauensantrag eigentlich stürzen will, hatten vor dem Treffen Parteilinke gefordert, die Region endlich unter Zwangsverwaltung nach Paragraph 155 zu stellen, um weitere Tode zu verhindern. Damit sollte auch dafür gesorgt werden, dass das Geld zur Bekämpfung der Pandemie nicht in den Händen von Ayusos Freunden landet, „die aus der Pandemie ein Geschäft machen“. Der linke PSOE-Flügel weist in seiner Erklärung auch auf die fehlenden Ärzte, auf die fehlende Covid-Nachverfolgung und Verschwendung von Geldern in Nothospitälern hin. Überschrieben ist die Erklärung mit dem vielsagenden Titel: „Sie lassen uns sterben.“ Doch Sánchez hat auch die parteiinterne Kritik überhört und sich ins nationalistische Boot mit der Ultra-Ayuso gesetzt und ihr nun Hilfe versprochen. So hatte Ayuso auch den Einsatz des Militärs gefordert. „Wir brauchen Hilfe der Streitkräfte bei der Desinfektion und zur Verstärkung der Polizei, damit das Gesetz durchgesetzt wird“, erklärte sie. Man darf davon ausgehen, dass dieser Bitte entsprochen wird, denn, so berichtet El País, die der sozialdemokratische Regierung sehr nahe steht, bot Sánchez genau einen Militäreinsatz an und eine entsprechende Operation sei schon vorbereitet. Das ist wohl der einzige Plan, den Sánchez bisher hat, derweil wird weiter Zeit verschwendet, während in einer Kommission über das weitere Vorgehen debattiert wird…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=178426
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