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Proteste in Belarus am Wochenende: Mobilisierung und Konfrontation in zahlreichen Provinzstädten – Massenfestnahme von Frauen in Minsk

ABC-Belarus - Anarchist Black Cross Belarus„… Die größten Proteste gab es in der Hauptstadt Minsk. Dort gingen insgesamt 50 000 Menschen auf die Straße, das sind allerdings weniger als zuletzt. (…) Zwar hat Präsident Alexander Lukaschenko öffentlich wiederholt seine Bereitschaft geäußert, mit der Opposition einen Dialog führen zu wollen. Allerdings gehen staatliche Sicherheitskräfte nach wie vor repressiv gegen die Protestbewegung vor. Am Sonntagmorgen trafen Militärfahrzeuge und gepanzerte Mannschaftstransporter in der Minsker Innenstadt ein. Sicherheitskräfte sperrten den Unabhängigkeitsplatz mit Metallgittern ab und errichteten Stacheldrahtbarrieren. Zudem wurden mehrere U-Bahn-Stationen im Stadtzentrum geschlossen. Zahlreiche Verhaftungen gab es auch beim wöchentlichen »Frauenmarsch« am Samstag. Nach Angaben des Innenministeriums wurden 430 Protestierende festgenommen...“ – aus dem Beitrag „Verhaftungen bei Frauenmärschen“ von Felix Jaitner am 20. September 2020 bei nd online externer Link über die Proteste am Wochenende vor allem in Minsk. Siehe dazu auch zwei weitere aktuelle Beiträge zu den Protesten am Wochenende, einen Videobericht dazu aus Brest und einen Hintergrundartikel zu den Unterschieden der Proteste heute in Belarus und 2014 in der Ukraine und deren Ursachen sowie den Verweis auf unseren bisher letzten Beitrag zu den Massenprotesten in Belarus:

  • „Proteste trotz Drohungen in Belarus“ am 20. September 2020 bei der Deutschen Welle externer Link meldet zum Wochenende in Belarus: „… Am sechsten Sonntag in Folge nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom 9. August beteiligten sich zehntausende Demonstranten in der Hauptstadt Minsk an einem „Marsch der Gerechtigkeit“. Die Demonstranten trugen rote und weiße Kleidung, die Farben der Opposition, und marschierten in Richtung des schwer bewachten Amtssitzes von Lukaschenko im Nordwesten von Minsk, wie Korrespondenten von Nachrichtenagenturen berichteten. Im Vorfeld hatten Einsatzkräfte der Regierung Militärfahrzeuge und gepanzerte Mannschaftstransporter in der Innenstadt auffahren und Stacheldrahtbarrieren errichten lassen. U-Bahn-Stationen im Stadtzentrum waren geschlossen und das mobile Internet eingeschränkt. Es waren Hundertschaften von Polizei und Armee im Einsatz, um einen neuen Massenprotest gegen „Europas letzten Diktator“, wie Gegner Lukaschenko nennen, zu verhindern. Demonstranten hielten Schilder in die Höhe, auf denen „Hau ab!“ und „Nur Feiglinge schlagen Frauen!“ zu lesen war. Entgegen ersten Agenturberichten gab es doch zahlreiche Festnahmen. Menschenrechtler sprechen von mehr als 100 Fällen…“
  • „Stacheldraht gegen Demo“ von Bernhard Clasen am 20. September 2020 in der taz online externer Link dazu unter anderem: „… Auch in anderen Städten kam es nun erneut zu Protesten gegen Lukaschenko, darunter in Grodno, Gomel, Witebsk und Chodino. Ein Video des in der Protestbewegung einflussreichen Telegram-Kanals Nexta zeigt, wie mehrere hundert Demonstrierende in Belarus’ zweitgrößter Stadt Gomel eine Polizeiabsperrung durchbrachen. Am Palast der Republik in Minsk standen am Sonntag mit Sturmgewehren bewaffnete Soldaten in Kampfuniformen, wie ein Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur vor Ort berichtete. Auch in Seitenstraßen des Prospekts der Unabhängigkeit bezogen Truppen der Miliz, wie sie in Belarus heißt, und des Militärs Stellung. (…) Der oppositionelle Koordinierungsrat sprach angesichts der im Vergleich zum vergangenen Wochenende sehr viel höheren Zahl an Festnahmen von einer „neuen Phase der Eskalation der Gewalt gegen friedliche Demonstranten“...“
  • „Das hier ist nicht der Maidan“ von Kai Ehlers am 20. September 2020 im Freitag online externer Link (Ausgabe 38/2020) zu den deutlichen Unterschieden zu den Protesten in der Ukraine 2014 unter anderem: „… Tatsächlich hat manches den Anschein, als könne sich hier das Szenario diverser „Farbrevolutionen“ wie der Rosenrevolution 2003 in Georgien, der Orangenen Revolution 2004 in der Ukraine oder der Tulpenrevolution 2005 in Kirgisistan in einer Art Schlussakt vollenden, durch den Belarus als das letzte der aus dem Bestand der Sowjetunion entlassenen Länder nun in die vom Westen dominierte Globalisierung einbezogen werden könnte. Das Land ist in ökonomischen Schwierigkeiten, es droht den Anschluss an die IT-Revolution zu verlieren, nachdem es eine Zeitlang in deren Sog gut mitschwimmen konnte. Es ist durch die Corona-Pandemie auf eine besondere Weise geschwächt, weil sich Lukaschenko einem Shutdown verschloss und das Land wegen dieser Frage in die Spaltung trieb. Die Opposition hat sich über ihre Exilfilialen in den umgebenden Nachbarländern, besonders in Litauen, Polen und der Ukraine Stützpunkte geschaffen, von denen aus die Proteste nicht nur ermuntert, sondern zum Teil auch gesteuert und in Kooperation mit den jeweiligen Regierungen zudem finanziell unterstützt werden. In irrsinniger Konsequenz heizt Lukaschenko die innere Konfrontation derzeit noch dadurch an, dass er seine OMON-Truppen nicht nur brutal gegen seine Gegner vorgehen, sondern deren aktivste Vertreter illegal ins umgebende Ausland abschieben lässt. Dass diese Politik die Dialogangebote des von der Opposition gebildeten Koordinierungsrates nicht nur verwirft, sondern mit Repression beantwortet, die Proteste nicht beruhigt, ist unübersehbar. Lukaschenkos Kurs ist geeignet, den Widerstand zu radikalisieren und tendenziell in eine militante Illegalität zu drängen. Auch wird die Intervention anderer Mächte dadurch geradezu herausfordert. Dennoch: Hier muss vor schematischen Erwartungen einer bloßen Wiederholung bekannter Abläufe gewarnt werden. Kommen wir gleich zum entscheidenden Punkt: Über einen Zeitraum von 26 Jahren konnte Lukaschenko dem Druck der Privatisierung widerstehen, der vom Zusammenbruch der Sowjetunion ausging, nachdem er als leitender Kolchosnik 1994 Stanislaw Schuschkewitsch als ersten Präsidenten des soeben entstandenen weißrussischen Staates mit einem Programm ablöste, das versprach, die aus der Sowjetzeit überkommene staatskollektivistische Ordnung zu bewahren. Unter Lukaschenko ging Weißrussland einen anderen Weg als der große Nachbar Russland, das von Boris Jelzin mit der von ihm durchgeführten „Schocktherapie“ nach der Auflösung der Union 1991 in ein soziales Chaos gestürzt wurde und erst mit der Amtsübernahme Wladimir Putins Anfang 2000 Schritt für Schritt wieder stabilisiert wurde. Im Unterschied zur Russischen Föderation entstand in Belarus keine Herrschaft der Oligarchen, die das Volksvermögen an sich brachten. Es gab keinen Abriss der aus der Sowjetunion überkommenen sozialen Strukturen. Die Arbeitskollektive auf dem Land arbeiteten weiter wie zuvor. Die Unternehmen blieben in staatlicher Hand. Die soziale Ordnung der Sowjetzeit blieb im Wesentlichen erhalten und die Versorgungslage der Bevölkerung stabil. Die Menschen waren vor Entlassungen geschützt. Eine politische Opposition, die Lukaschenkos Kurs nachhaltig hätte stören können, hat sich unter diesen Bedingungen nicht entwickelt. Die 1991 neu gegründete Kommunistische Partei ist nach Abspaltung einer „Vereinigten Linken“, die sich der Opposition zuwandte, seit 1996 staatsorientiert. Das gilt ebenso – mit Abstufungen – für die übrigen im Parlament vertretenen Parteien. Nicht einmal der KGB wurde umbenannt. So konnte sich Lukaschenko als „Väterchen“ über die ersten Amtszeiten von der Sympathie und relativen Zufriedenheit der Bevölkerung tragen lassen, die sich vor Chaos wie im benachbarten Russland bewahrt sah…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=178328
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