Ende der Bescheidenheit? Christoph Ellinghaus und Franziska Wolf über Tendenzen der Gewerkschaftsarbeit in Ostdeutschland
„Auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR gibt es deutliche Ost-West-Unterschiede in Löhnen und Arbeitszeiten; Betriebsräte und (Flächen-)Tarifbindung sind in Ostdeutschland noch schwächer verankert als im Westen. Eine Forschergruppe um Klaus Dörre hat andererseits bereits 2015 den Befund veröffentlicht, dass das Image von Gewerkschaften sich deutlich verbessert hat und dass unter Beschäftigten ein »Ende ostdeutscher Bescheidenheit« festzustellen ist. Der ausführlich dokumentierte Tarifkampf bei Teigwaren Riesa und die aktuellen Tarifverhandlungen bei Rotkäppchen scheinen das am Beispiel der NGG zu zeigen. Gibt es einen allgemeinen gewerkschaftlichen »Aufbruch Ost«? Darüber sprach Stefan Schoppengerd für den express mit dem Bevollmächtigten der IGM Jena-Saalfeld Christoph Ellinghaus und Gewerkschaftssekretärin Franziska Wolf…“ Interview erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 8-9/2020:
Ende der Bescheidenheit?
Christoph Ellinghaus und Franziska Wolf über Tendenzen der Gewerkschaftsarbeit in Ostdeutschland
Auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR gibt es deutliche Ost-West-Unterschiede in Löhnen und Arbeitszeiten; Betriebsräte und (Flächen-)Tarifbindung sind in Ostdeutschland noch schwächer verankert als im Westen. Eine Forschergruppe um Klaus Dörre hat andererseits bereits 2015 den Befund veröffentlicht, dass das Image von Gewerkschaften sich deutlich verbessert hat und dass unter Beschäftigten ein »Ende ostdeutscher Bescheidenheit« festzustellen ist.[1] Der ausführlich dokumentierte Tarifkampf bei Teigwaren Riesa und die aktuellen Tarifverhandlungen bei Rotkäppchen scheinen das am Beispiel der NGG zu zeigen. Gibt es einen allgemeinen gewerkschaftlichen »Aufbruch Ost«? Darüber sprach Stefan Schoppengerd für den express mit dem Bevollmächtigten der IGM Jena-Saalfeld Christoph Ellinghaus und Gewerkschaftssekretärin Franziska Wolf.
Entsprechen die Ergebnisse der OBS-Studie von 2015 Euren Erfahrungen? Nehmen das Interesse an Gewerkschaft und die Konfliktbereitschaft zu?
Christoph: Ich komme eigentlich aus dem Ruhrgebiet, bin aber 1990 zum Studieren nach Thüringen gekommen. Insofern kann ich die letzten 30 Jahre schon einigermaßen beurteilen, und ich würde sagen, dass der Befund von Dörre richtig ist, dass wir in den letzten fünf, sechs Jahren grundsätzliche Veränderungen feststellen können im Vergleich zu den Jahrzehnten vorher. Hilfreich finde ich den Begriff der »ostdeutschen Arbeitsspartaner«, das ist eine Generation, die in den letzten fünf, sechs, sieben Jahren in Rente gegangen ist oder es in den nächsten fünf Jahren tun wird, und diese Generation – hochmotiviert, hochflexibel, hochqualifiziert und immer bereit, die eigenen Ansprüche runterzuschrauben – hat es Gewerkschaften und gewerkschaftlicher Mitbestimmung unheimlich schwer gemacht, weil sie zwar die Betriebe wirtschaftlich am Leben erhalten hat, aber in den Konfliktsituationen der 1990er und 2000er Jahre die Gewerkschaft auch dazu gedrängt hat, klein beizugeben oder gar nicht erst in den Konflikt zu gehen.
Jetzt kommt eine neue Generation nach, die das Alter überspringt, das normalerweise jetzt nachrücken würde: Die jetzt 40- bis 50-Jährigen gibt es in ostdeutschen Betrieben de facto nicht, weil diese Generation in der Wendezeit in den Westen gehen musste, um dort Arbeit zu finden. Wir haben also keinen fließenden Übergang; der neuen Generation der 25- bis 35-Jährigen, die jetzt in die entscheidenden Positionen in den Unternehmen kommt, fehlt auch ein Stück autoritärer Betriebssozialisation, und sie hat nie in den Abgrund schauen müssen, wie das die ältere Generation tun musste. Sie stellen Ansprüche an ihr Arbeitsleben, an die IG Metall, an die Unternehmen, und anders als Dörre würde ich vorsichtiger formulieren: Es ist noch nicht entschieden, ob diese Generation sich für kollektive Auseinandersetzungen oder für individuelle Karriere im Unternehmen entscheidet. Das liegt natürlich auch an unseren gewerkschaftlichen Ansprachekonzepten – die müssten sehr viel direkter, transparenter und konfliktorientierter sein, und es muss uns gelingen, in den Betrieben zwischen den Generationen zu vermitteln und gleichzeitig eine Orientierung zu geben. Das ist die Aufgabe vor Corona gewesen. Da waren die Ausgangsbedingungen mit zehn Jahren stabiler wirtschaftlicher Entwicklung ganz gut.
Aber wie im Westen sind die regionalen Unterschiede groß. Wir sprechen in Jena aus einer Inselperspektive, mit High-Tech-Standort, mit hohem Angestelltenanteil, während wir in Gera viele Automobilzulieferer haben, die verlängerte Werkbänke sind, und wo die ökonomischen Voraussetzungen für die Krise, die wir vor uns sehen, natürlich sehr unterschiedlich sind.
Franziska: Spannend wird, ob die Transformation, von der so viel gesprochen wird, hier greift, weil davon abhängt, ob es hier überhaupt noch Beschäftigung gibt. Mit Blick auf die KollegInnen wäre nochmal nach Qualifikationsniveau zu unterscheiden. Die KollegInnen, die gut ausgebildet sind, weil sie in den wenigen Ausbildungsbetrieben in der Region eine Ausbildung bekommen haben, die sind nicht mehr bereit, sich so ausbeuten zu lassen, wie das die Generation der Arbeitsspartaner gemacht hat. Aber es gibt auch viele, die sich aus anderen Branchen als Angelernte in die Industrie gerettet haben und froh sind, dass sie sich für einen Euro über Mindestlohn in einer Zulieferbude ausbeuten lassen dürfen. Deren Organisationspotential ist zwar groß, aber ob sie auch die Organisationsbereitschaft haben, würde ich nochmal in Frage stellen. Wir haben in den Betrieben die Situation, dass viele nach dem Prinzip agieren: Das sind alles Anlerntätigkeiten, dafür hol’ ich mir LeiharbeiterInnen – ich habe einen Betrieb, dessen Chef sagt: Das können hier alles die SchülerInnen machen, die hier in den Ferien jobben. Dort werden systematisch Arbeit und Arbeitsethos entwertet. Das führt zu Wut, die wir nutzen könnten für Organisierung, aber auf der anderen Seite führt es einfach zu Angst.
Zu der Unentschiedenheit der neuen Generation, die Du, Christoph, angesprochen hast, und der Frage, wie ihr mit Euren Betriebserschließungs- und Ansprachekonzepten für mehr Entschiedenheit sorgen könntet: Welche Erfahrungen habt Ihr bereits mit entsprechenden Konzepten der Beschäftigtenansprache gemacht?
Franziska: Also, so sehr ungewöhnlich finde ich unsere Herangehensweise eigentlich nicht. Aber wichtig ist, wegzugehen von der Stellvertreterpolitik. Wir versuchen eine viel stärker auf einen Konflikt orientierte Perspektive zu verfolgen. Wir sagen nicht: Tretet in die IG Metall ein, die macht Euch dann einen Tarifvertrag. Wir machen erstmal eine Bestandsaufnahme: Was sind eure Themen? Das geht von Parkplätzen bis zum Lohnniveau oder der Ost-West-Angleichung. Dann werden gemeinsam Bedingungen der Zusammenarbeit verabredet. So sorgen wir auch für Transparenz.
In Tarifauseinandersetzungen sind es nicht die IGM-Hauptamtlichen, die verhandeln und das dann präsentieren, sondern wir achten darauf, dass wir große Tarifkommissionen haben, große Verhandlungskommissionen, um auch alle Bereiche mit abzubilden. Wir versuchen, glaubhafte, echte Möglichkeiten der Beteiligung und der gemeinsamen Entscheidungsfindung umzusetzen. Das Gefühl, mitbestimmen zu können, ist ja bei vielen dank Social Media usw. sehr groß, aber wir müssen dem durch eine verbindliche und systematische Arbeitsweise Substanz verleihen.
Christoph: Wir nennen das bedingungsgebundene Gewerkschaftsarbeit, orientiert an den Diskussionen bei ver.di. Mit Beteiligungsansätzen können wir dabei sehr viel anfangen. Wir stellen aber immer wieder die Frage, ob die Beteiligung ein Mitgliederwerbeargument ist, ein Motivator. Die Demokratisierung von Prozessen bedeutet eine hohe Anforderung auch an diejenigen, die sich in diesen Prozess mit reinstellen wollen. Die angenehme Seite von Stellvertreterpolitik war ja, dass ich Verantwortung abgeben kann und dann mit dem ganzen Ding eigentlich nichts mehr zu tun habe. Am Ende bin ich dann auch noch in der komfortablen Situation, darüber meckern zu können, was andere da für mich gemacht haben.
Jetzt setzen wir auf einen demokratischen Prozess, in dem alle Verantwortung zu übernehmen haben. Natürlich ist die Verantwortung von uns Hauptamtlichen eine besondere, weil wir auch als Verhandlungsführer agieren, aber wir merken, dass der Versuch, die Diskussions- und Entscheidungskultur auf der unteren Ebene zu ändern, also da, wo es wirklich wichtig ist, in den Mitgliederversammlungen, eine riesige Herausforderung ist. In vielen formierten Belegschaften wird auf die MeinungsführerInnen geschaut und sich davor gedrückt, eigene Interessen zu artikulieren. Das gerät schnell an sein Ende, wenn es zu einem Konflikt kommt und der Druck zu groß wird. Deshalb schalten wir sehr lange Prozesse vor eine gemeinsame Auseinandersetzung und die Kompromissformulierung bei der Findung der Forderung. Wir glauben, dass nur das nachhaltig dafür sorgt, dass wir als IGM auch lebendiger und politischer werden.
Bei »Meinungsführerschaft« im Betrieb spielen Betriebsräte vermutlich ja eine besondere Rolle, und für die stellt sich diese Herausforderung, sich auf demokratische, nicht immer kontrollierbare Diskussionsprozesse einzulassen, auch nochmal in besonderer Weise. Auch für BR hat das ein Stück mit der Abgabe von Macht und der Einnahme einer eher moderierenden Funktion zu tun. Oder spielen die BR in diesem Prozess gar keine herausgehobene Rolle?
Christoph: Die Bedeutung von BR in diesen Prozessen hat eher abgenommen. Das heißt nicht, dass sie keine herausragende Bedeutung haben. Sie sind natürlich diejenigen, die uns ansprechen, Interessen artikulieren, Probleme beschreiben, mit denen wir auch im Alltag jenseits von Tarifrunden zu tun haben. Sie erleben jetzt, dass Mitgliederversammlungen nicht mehr nur abnicken, sondern auch sehr klar formulieren, was ihre Erwartungen an die IGM und BR sind. Diese neue Erfahrung führt häufig dazu, dass sie in ihrem Alltag gestärkt werden. Tarifrunden sind nur ein kleiner Teil des betrieblichen Alltags – der stellt nochmal andere Anforderungen an Transparenz, Information, Kompromiss, auch an Moderation – die Moderationsrolle, die die BR haben, ist nicht weg. Sie wird nur jetzt in eine andere Position verschoben, weil sie durch die demokratisierenden Elemente der Mitgliederversammlungen in den Tarifrunden sehr viel näher an die Basis herangeholt werden und sich nicht mehr nur als diejenigen sehen, deren Büro neben dem des Personalchefs liegt.
Franziska: Bei Tarifrunden sind die ersten Ansprechpartner im Betrieb ja nicht zwingend die BR, sondern die Mitglieder im Betrieb. Auch wenn die BR eine besondere Rolle spielen, für die Tarifrunde sind sie in erster Linie Mitglied oder nicht Mitglied, und dann zählt ihre Stimme genau so viel wie die der Kollegin, die mit BR und so überhaupt nichts zu tun hat.
Stichwort bedingungsgebundene Arbeit: Das ist auch in ver.di umstritten, weil es dort so interpretiert wurde, dass ver.di Bedingungen formuliert, unter denen Ressourcen, Zeit und Energie in bestimmte Betriebe investiert werden. Ihr habt dagegen gesagt, dass die Belegschaften Bedingungen an die Gewerkschaft formulieren, aber wie ist es bei Euch in der umgekehrten Richtung: Stellt Ihr Anforderungen an Belegschaften?
Franziska: Wir gehen nicht in den Prozess und sagen: Wir brauchen hier 50 Prozent Organisationsgrad, um verhandlungsfähig zu sein, oder 75 Prozent, um durchsetzungsfähig zu werden – wir gehen nicht zuerst mit solchen Zahlen rein, sondern wir versuchen, eine Diskussion darüber zu führen, wie die Leute bisher die Gewerkschaftsarbeit im Betrieb erlebt haben, wie sie beispielsweise die letzten Tarifabschlüsse bewerten. In den meisten Fällen kommt die Diskussion dann von allein darauf, dass wir uns nicht durchsetzen konnten, weil wir nicht genügend Leute sind, und das kann man dann genauer diskutieren, Einwände bearbeiten usw. Dann müssen Bedingungen gemeinsam diskutiert werden, und eine unserer Bedingungen ist in der Regel: Wir verhandeln erst, wenn wir durchsetzungsfähig sind. Durchsetzungsfähigkeit ist natürlich eine Bewertungsfrage, aber in dem einen Betrieb kann es sein, dass wir bei 50 plus x Prozent Organisationsgrad sagen, ok, wir sind durchsetzungsfähig, in einem anderen Betrieb ist gleich klar, dass wir unter 75 Prozent nichts durchkriegen. Und anhand dieser Debatte muss man dann auch klären, was man denn fordert. Es ist nicht so, dass wir nicht verhandeln in Betrieben, die die Bedingungen des Organisationsgrads nicht erfüllen, aber wir machen den KollegInnen schon klar, es gibt ein Sondierungsgespräch, da wird der Arbeitgeber etwas anbieten, und das wird dann der Tarifvertrag sein – weil wir nicht in den Konflikt eintreten, wenn wir nicht der Meinung sind, dass wir ihn gewinnen können und am Ende sagen können: Gut, dieser Konflikt hat sich für alle gelohnt.
Christoph: Noch einmal anders formuliert: Ich finde die Zahl schon wichtig. Aber die Zahl 50 plus x ist nicht die Voraussetzung, sondern sie ist Teil und Ergebnis des ersten Schritts in einem Prozess. Die KollegInnen fragen eben, was das konkret heißt, wenn wir von Aktivenkernen, Transparenz, Beteiligung, Konfliktorientierung sprechen. Die Frage einer demokratischen Mehrheit unter den Beschäftigten, also 50 plus x Mitglieder, ist sehr greifbar. Was wir aufgrund der besonderen Konstellation in unserer Geschäftsstelle anders gemacht haben, ist, dass wir dieses Konzept auch dort angewendet haben, wo es bereits einen Tarifvertrag gab. D.h., in Betrieben mit Haustarifen, 30 Prozent Organisationsgrad und entsprechend schlechten Tarifergebnissen in den letzten 20 Jahren haben wir vorgeschlagen, zukünftig nicht mehr zu verhandeln. Das ist natürlich ein kleines Erdbeben. »Moment, ich hab’ 20 Jahre Beiträge gezahlt, und jetzt wollt ihr nicht mehr verhandeln, also profitieren wir nicht mehr davon?« Ich sage dann zwar: Nicht ich entscheide das, sondern wir gemeinsam in der Mitgliederversammlung, aber ansonsten hast Du recht, Kollege: Wir schlagen vor – nicht: wir diktieren! –, nicht mehr zu verhandeln, weil es Euch als Mitgliedern das erste Mal wieder die Möglichkeit gibt, den Nicht-Mitgliedern zu sagen: Jetzt ist Schluss mit Trittbrettfahrerei! Wir haben entschieden: Bevor Du nicht Mitglied wirst und wir wieder stark genug sind für vernünftige Tarifergebnisse, verhandeln wir nicht. Das führt in neun von zehn Betrieben dazu, dass die Mitglieder nach zweistündiger Diskussion zustimmen, und dass wir unsere Organisationsgrade innerhalb kürzester Zeit steigern. Plötzlich kommen ganz neue Themen auf, die dann auch in den Forderungen eine Rolle spielen können. Wenn sich in diesem Zuge Mitgliedergruppen organisieren, die traditionell nicht organisiert sind – Frauen, Prekäre –, dann erwarten die zum Beispiel auch, dass die Eingruppierung der unteren Entgeltgruppen oder die Übernahme der LeiharbeiterInnen eine Rolle spielt. Wir wiederum können dann in den Verhandlungen ganz anders auftreten.
Die NGG Ost führt gerade einen Kampf in der Ernährungswirtschaft, in dem einige Betriebe erstmals in Arbeitskämpfe gehen. Mit der Forderung »Lohnmauer einreißen!« werden ganz ausdrücklich die Ost-West-Unterschiede aufgespießt. Spielt das Aufrufen spezifisch ostdeutscher Erfahrungen oder einer ostdeutschen Identität in Eurer Arbeit eine Rolle?
Christoph: Eigentlich kommt das nur bei einem einzigen Thema vor, das ist die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche. Das Appellieren an eine ostdeutsche Identität, was auch immer das nach dreißig Jahren sein soll, das spielt bei uns keine Rolle.
Franziska: Nee, das kann man allenfalls historisch machen. Den Satz zu sagen: »Es kann ja nicht sein, dass nach dreißig Jahren immer noch …«, kann natürlich passen. Aber ich sehe das weder als handlungsleitend noch als identitätsstiftend. Man muss auch schauen, mit wem man hier spricht. Wenn ich mit den KollegInnen bei VW spreche, da gibt es ein ausgeprägtes Bewusstsein der Ost-West-Unterschiede. In meinen Betrieben reden wir nicht darüber, sondern darüber, dass die Leute überhaupt mal eine Perspektive brauchen, in die Thüringer Fläche zu kommen, nicht in die Baden-Württemberger Fläche. Die Bezugspunkte sind in den Betrieben, in denen ich in den letzten paar Jahren unterwegs war, eher, dass die Leute überhaupt mal in den Flächentarif Metall und Elektro oder Holz und Kunststoff kommen wollen. Der Bezugspunkt ist der Flächentarif in Thüringen, und nicht irgendwelche Regelungen im Westen.0
Christoph: Es handelt sich um eine sehr unterschiedlich ausgeprägte Betriebslandschaft. Bei den Betrieben, die weit weg vom Tarif und nah am Mindestlohn sind, da mag ein Appell an ein ostdeutsches Ungerechtigkeitsempfinden im ersten Schritt interessant sein, aber sobald du anfängst, ins Detail zu gehen, hält das, abgesehen von den drei Stunden Arbeitszeit, einer Überprüfung nicht mehr stand, weil schon lange die Entgelte in den Tabellen zwischen Hessen und Thüringen gleich sind, und bis auf die Frage der fünf Prozent des Weihnachtsgeldes sind auch die Manteltarife und auch die anderen Elemente der Tarifverträge gleich. So eine Argumentation würde in Verhandlungen sofort vom Tisch gewischt.
Das ändert natürlich nichts an den Fragen von gesellschaftlichen Ungleichheiten zwischen Ost und West: der Reichtumsverteilung allgemein, der Frage der Erbengeneration im Westen, und der, was eigentlich im Osten geerbt wird, die Frage von Eigentum an Grundbesitz oder Wohnungen in den Städten, da gibt es natürlich riesige Unterschiede.
Wie ist denn in der IGM der Stand zur Arbeitszeitfrage? Das ist schließlich eine der unangenehmeren Punkte in der nicht mehr ganz so jungen IGM-Geschichte – gibt es eine laufende Debatte darum, wann man die Auseinandersetzung wieder offensiv aufnimmt, oder ist das eher ein Thema unter der Oberfläche?
Christoph: Ich glaube, dass wir die Zeit vor Corona und die jetzige Zeit unterscheiden müssen. Wir stehen in den nächsten Jahren vor einer ganz neuen Etappe von Auseinandersetzungen, die sich vor Corona schon angedeutet hatten und jetzt kommen werden. Vor etwa drei Jahren hat die Arbeitszeit-Debatte wieder angefangen. In unserer Geschäftsstelle stellen wir schon länger fest, dass Arbeitszeit, auch Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit, schon lange wieder Thema sind, weil es insbesondere in den Betrieben, die nah an der Fläche sind, inzwischen weniger um die Frage von mehr Geld als um weniger Arbeit geht. Das ist hier schon spürbar seit sechs, sieben Jahren, die Leute wollen mehr Selbstbestimmung bei der Zeit haben. Dabei ist natürlich von uns auch die Angleichung an die 35-Stunden-Woche in den Fokus gerückt. In Sachsen hat man das schon lange auf der Agenda, Thüringen dümpelt ein bisschen hinterher, in den industriellen Zentren der M+E ist es wiederum seit drei Jahren Thema, und es hat viel Druck dazu gegeben und immer wieder Verhandlungsvereinbarungen mit leichten Annäherungen. Jetzt, mit dem Vorschlag der 4-Tage-Woche seitens unseres Vorsitzenden, kommt es zurück und die Tarifkommissionen diskutieren das. Allen ist klar, dass wir die 4-Tage-Woche als Forderung selbst für Krisensituationen nur dann ernsthaft diskutieren können, wenn es eine Lösung gibt zur 35-Stunden-Woche im Osten.
Ein anderer Aspekt der OBS-Studie sind die rechten Initiativen im betrieblichen, gewerkschaftlichen Bereich und das hohe Maß der Verbreitung rechtspopulistischer Einstellungen auch unter aktiven KollegInnen. Habt Ihr mit rechter Betriebspolitik zu tun, bspw. mit entsprechenden BR-Listen? Seht Ihr einen Zusammenhang zwischen der jahrelangen Schwäche der Gewerkschaften und dem rechten Aufwind? Verfängt die »kleine Mann«-Rhetorik der Höcke-AfD in den Reihen Eurer Mitglieder?
Christoph: Ich würde sagen, wir haben eine leicht überproportionale Zustimmung in den Betrieben zu AfD-Positionen, wir haben die auch in der Mitgliedschaft, und in sehr geringem Umfang unter unseren FunktionärInnen. Die Frage, welche Bedeutung das für uns in den Betrieben haben wird, würde ich trennen von der Frage, was das für uns gesellschaftspolitisch bedeutet, weil ich überhaupt keine Antworten der extremen Rechten auf betriebspolitische Fragen sehe. Ich sehe überhaupt noch kein Programm dafür, wo sie eine Spaltungslinie in die Betriebe tragen könnten oder bereits tragen, die auch verfängt. Insofern finde ich die Gefahr, auch wenn wir zum Beispiel bei der nächsten BR-Wahl viele AfD-Anhänger unter den BR haben könnten, aktuell nicht groß, dass sich eine wirkliche rechte Betriebspolitik ausbildet.
Das heißt nicht, dass wir nicht vermehrt AfD-SympathisantInnen unter den BR haben könnten. Das stellt uns vor die Herausforderung, Gesellschafts- und Betriebspolitik wieder stärker miteinander zu verzahnen. Wo finden sich antirassistische Positionen in unserer Betriebspolitik wieder? Wo finden sich Positionen gegen Spaltung wieder? Es ist wohlfeil zu sagen, dass wir natürlich als IGM einen antifaschistischen Grundkonsens haben – und ja, die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche, da greifen wir uns an unsere eigene Nase. Diesen Konsens haben wir, den tragen wir auf die Straße, und Du findest uns auf allen Demos und Aktionen zivilen Ungehorsams der letzten Jahre wieder. Aber unsere Arbeit müsste auf die Frage nach einer antifaschistischen Betriebspolitik eine Antwort finden, die nicht nur darin besteht zu sagen: Jetzt schließen wir diesen Neonazi aus der IGM aus, oder »Wer hetzt, der fliegt«; alles einfach gesagt, aber wir glauben, dass eine Demokratisierung unserer Prozesse und Entscheidungen und Empowerment eines der wichtigen Mittel ist, einem Rechtspopulismus zu begegnen, der immer auf Autorität setzt und nie auf Demokratie. Das heißt nicht, das gegeneinander auszuspielen, aber all denen, die sagen: ›Jetzt machen wir einen Aufkleber drauf und dann sind wir Antifa‹, sei gesagt: Das reicht nicht. Es muss eine Antwort auf die soziale Fragen geben, es muss Antworten zur Frage des Feminismus geben, es muss eine Antwort geben zur Frage, wie wir mit Geflüchteten umgehen.
Franziska: Wenn man sich anguckt, was das Zentrum Automobil in Stuttgart schon mäßig erfolgreich versucht hat, und was jetzt in Zwickau, Leipzig, Chemnitz nochmal stärker kommen wird, dass man die gewerkschaftlichen Hauptamtlichen auch als Bonzen den Systems kategorisiert, als Klüngel, die Betriebsräte als Co-Manager usw. – dann können wir diesem Vorwurf mit unserem Konzept bedingungsgebundener Gewerkschaftsarbeit stärker begegnen als mit einem Aufruf zur nächsten Demo, bei dem wir sagen, dass die alle doof sind. Nicht zuletzt müssen wir die FacharbeiterInnen, nicht die ArbeitsspartanerInnen, aber dennoch diejenigen, die nach 30 Jahren Neoliberalismus sagen: ›Meine Leistung muss sich lohnen‹, mit dem Gedanken erreichen, dass die individuelle Leistungsfähigkeit nicht allein darüber entscheiden kann, was ich im Leben erreiche und was nicht. Wenn es uns gelingt, Leute für solidarische und demokratische Positionen anzusprechen, dann kriegen wir die auch weg aus der rechten Ecke. Ich erlebe schon, dass der Facharbeiter derjenige ist, den wir als Gewerkschaft noch ansprechen können, den aber die Politik verloren hat, in der Debatte um Flüchtlinge usw.
Christoph: Zum Verhältnis von Hauptamtlichen und Mitgliedern gehört auch, zu begreifen, wer unsere Beiträge zahlt, und dass wir uns bei aller orientierenden Funktion, die wir haben, auch für das, was wir machen, zu rechtfertigen haben. So verstehe ich auch unsere Mitgliederversammlungen. Wir haben dort unsere Arbeit zu rechtfertigen. Wenn wir da kritisiert werden, ist das nichts Schlimmes, sondern genau das, was wir wollen. Kritik bedeutet ja, sich mit rein zu begeben in die Prozesse, Verantwortung zu übernehmen und zu sagen: ich formuliere Ansprüche an euch Hauptamtliche, und genau dafür sind wir auch da.
Habt ihr in diesem Prozess einer stärker konflikt- und beteiligungsorientierten Gewerkschaftsarbeit bestimmte Erwartungen oder Wünsche an Eure Organisation, gibt es Punkte, an denen ihr mehr oder andere Unterstützung erwarten würdet?
Christoph: Wenn wir mit dem express reden, würde ich nicht zuerst Erwartungen an den Vorstand formulieren, sondern an außerparlamentarische Gruppen und Initiativen, von denen Ihr vielleicht gelesen werdet. Meine Erwartung ist, dass sich eine außerparlamentarische, außerinstitutionelle, auch außergewerkschaftliche Linke wieder stärker sozialen Fragen zuwendet; dass vieles, was um Identität gekreist ist, mal wieder runtergefahren wird und geguckt wird, wo sich eine Linke in soziale Fragen einmischen kann, auch mit Kritik und Anforderungen an die IGM, aber auch, indem mal wieder eine betriebliche Brille aufgesetzt wird. Wenn wir uns die erfolgreiche Zeit der IGM anschauen, die 1980er Jahre, dann sind die geprägt von einem konfliktreichen Miteinander von außerparlamentarischen Bewegungen und Gewerkschaften, und ich glaube, dass wir ohne so eine gesellschaftspolitische Flankierung auf viele Fragen in den nächsten Jahren keine Antworten haben.
Bezogen auf die IG Metall habe ich den Eindruck, dass es gerade jetzt wieder eine Öffnung gibt für konfliktorientiertere betriebliche Arbeit. Wir beide würden uns sicherlich wünschen, dass man gesellschaftspolitischer sein könnte in der IGM, aber es gibt eine größere Offenheit für Beteiligung und Transparenz als noch vor vielen Jahren.
Anmerkung:
1 Thomas Goes, Stefan Schmalz, Marcel Thiel, Klaus Dörre: Gewerkschaften im Aufwind? Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in Ostdeutschland. OBS-Arbeitsheft 83, Frankfurt a.M. 2015. Zum Download unter www.otto-brenner-stiftung.de
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