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Erneut Festnahmen bei massenhaften Protesten in Belarus: Wie viel Spielraum hat das Regime noch?

ABC-Belarus - Anarchist Black Cross Belarus„… Seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl am 9. August demonstrieren die Menschen in Belarus gegen den seit 26 Jahren autoritär regierenden Lukaschenko. Sie werfen der Regierung massiven Betrug bei der Wahl vor, die Lukaschenko nach offiziellen Angaben mit 80 Prozent der Stimmen gewonnen hatte. Dabei lassen sie sich auch von der Gewalt der Sicherheitskräfte nicht abschrecken. Am Sonntag beteiligten sich trotz eines großen Sicherheitsaufgebots erneut mehr als 100.000 Menschen allein in der Hauptstadt Minsk an den Protesten. Aus zahlreichen weiteren Städten wurden ebenfalls Protestkundgebungen gemeldet. Die Polizei nahm nach Angaben des Innenministeriums insgesamt 633 Demonstranten wegen Verstoßes gegen die Anordnungen bei Massenversammlungen fest, so viele wie noch nie seit Anfang August. 363 blieben demnach am Montag in Untersuchungshaft… „ – aus der Meldung „Belarus geht gegen Koordinierungsrat der Opposition vor“ am 07. September 2020 bei nd online externer Link, worin auch noch die Festnahme von Marija Kolesnikowa Gegenstand der Berichterstattung ist. Zu den Protesten in Belarus ein weiterer aktueller Beitrag, ein Hintergrundbeitrag und der Verweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge:

  • „Digital überrannte Diktatoren“ von Silke Mertins am 08. September 2020 in der taz online externer Link kommentiert zu den Wirkungen dezentral organisierter Proteste: „… Der belarussische Präsident Lukaschenko ist schon so lange im Amt, dass auch für ihn diese analogen Methoden zur Grundausstattung eines funktionierenden Unterdrückersystems gehören. Routine sozusagen. Also zielten seine Schergen auf die drei Frauen im Rampenlicht der Bewegung: Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa, von der wir derzeit nicht wissen, was ihr genau widerfahren ist. Natürlich hilft es, wenn Führungspersönlichkeiten regimekritischen Demonstranten wie in Belarus ein Gesicht geben. Doch die jüngsten Erfahrungen in vielen Ländern mit langanhaltenden Protesten zeigen sehr deutlich, dass die Digitalisierung solche Bewegungen zu einem bedeutenden Teil von Leitfiguren an der Spitze entkoppelt hat. Die Unzufriedenen organisieren sich überall dezentraler und basisorientierter als in früheren Zeiten. Es braucht nicht mehr den großen Organisator, das nationale Koordinierungsbüro oder die zentrale politische Botschaft einer Führung. Dieser Trend ist nicht nur bei den politischen Demokratiebewegungen in Hongkong, Iran, Libanon oder Irak sichtbar. Auch die Gelbwestenproteste in Frankreich oder der Aufstand gegen Rassismus in den USA zeigen, dass gewaltige Protestwellen sich weitestgehend führungslos entwickeln können und keineswegs Strohfeuer sind. Die moderne Technik ermöglicht politische Bewegungen, wie sie zuvor so nie möglich waren. Von den Oppositionellen in Belarus weiß man, dass sie sich so einiges aus Hongkong abgeschaut haben. Bei den Aufständischen dort gilt die Taktik von Bruce Lee: sei formlos wie Wasser. Mächtig, aber nicht zu greifen…“
  • „Belarus: Das Modell Lukaschenko am Ende?“ am 07. September 2020 bei Schwarzer Pfeil externer Link versucht, einige der Besonderheiten des Systems in Belarus hervor zu heben: „… An die Macht gekommen löste Lukaschenko das Parlament auf, änderte kurzerhand die Verfassung und regierte von nun an ohne Gewaltenteilung weiter. Es gibt in Belarus keine herrschende Partei, Staatsideologie oder Massenbewegung, auf die sich die Herrschaft stürzt. Die zentrale Institution von Lukaschenkos Modell ist der Präsident selbst. Sein Verdienst, dem Land die Massenschließung der Betriebe zu ersparen, schaffte ihm reale Unterstützung in der Bevölkerung. Der durch die staatlichen Medien geschaffene Kult und die Zensur gegen die Opposition leisteten ebenfalls einen Beitrag zu seinen wiederholten Wahlerfolgen. Trotz der omnipräsenten sowjetischen Symbolik gibt es in Belarus selbstverständlich Privateigentum an den Produktionsmitteln und eine Marktwirtschaft. Bis 1998 wurden etliche Betriebe privatisiert. Jedoch verhindert der Staat durch seine Eingriffe die Pleite und darauffolgend Schließung von strategisch wichtigen Betrieben – was bei westlichen Experten für entsetztes Kopfschütteln sorgt. Der Staat drängt die Banken dazu, Kredite an die minusmachenden Betriebe zu vergeben. Aus Sicht der belarussischen Staatsführung ein Erfolg, werden doch dadurch Infrastruktur und Arbeitsplätze erhalten. Aus Sicht der „wohlmeinenden“ westlichen Beobachter eine grobe Verletzung der Regeln, die den längst überfälligen Marktabgang der Konkurrenzverlierer verhindert. In der Landwirtschaft wurden die sowjetischen Kolchosen in Aktiengesellschaften umgewandelt. Auch hier kommen die staatlichen Subventionen massiv zum Einsatz, was die „Ernährungssouveränität“ der Republik gewährleisten soll. Die Lebensmittelpreise reguliert der Staat ebenso wie den Zugang der ausländischen Investoren (die es ja durchaus gibt) zum eigenen Markt. Da Belarus auf Exporte angewiesen ist, braucht es, wie schon davor die UdSSR, Devisen für die Betätigung auf dem Weltmarkt. Lukaschenko redet seit seinem Machtantritt von der „Unabhängigkeit“, hat aber real mit einer doppelten Abhängigkeit zu tun. Seine antiimperialistische Rhetorik und Verweigerungshaltung gegenüber der EU und der NATO prämierte der große Nachbar im Osten mit Lieferungen von Energie zu „politischen“ Preisen. Erdöl und Gas fließen jedoch nicht nur von Russland nach Weißrussland, sondern auch von dort weiter in den Westen. Die noch aus der Sowjetzeit stammenden Raffinerien verarbeiten die Rohstoffe und verkaufen sie weiter ins Ausland. Rohstoffe aus Russland unter dem Marktpreis beziehen, mit der erhaltenen Industrie verarbeiten und dann zu Marktpreisen weiterverkaufen, die Gewinne zur Subvention der eigenen Wirtschaft verwenden und deren Produkte dann zollfrei nach Russland absetzen – das ist die ökonomische Formel des belarussischen „Sonderweges“...“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=177791
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