[Buch] Ungleichheit in der Klassengesellschaft

[Buch von Christoph Butterwegge] Ungleichheit in der KlassengesellschaftSozioökonomische Ungleichheit, von den meisten Deutschen hauptsächlich in Staaten wie den USA, Brasilien oder Süd­afrika verortet, ist auch hierzulande stark ausgeprägt und nimmt weiter zu. Sie beschränkt sich nicht auf die asymmetrische Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern erstreckt sich auf fast alle Lebensbereiche. Christoph Butterwegge beschäftigt sich mit ihren aktuellen Erscheinungsformen, wobei neben Bildung und Wohnen die Gesundheit im Vordergrund steht. »Vor dem Coronavirus sind alle gleich«, glaubten viele. Hatten Pandemien wie die Pest einst zur Eindämmung sozioökonomischer Ungleichheit beigetragen, weil sie einen Verfall der Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise sowie einen Anstieg der Löhne herbeiführten, so wirkte Covid-19 eher polarisierend: einerseits Kurzarbeit und Entlassungen für Millionen Beschäftigte sowie Konkurse kleinerer Unternehmen, andererseits Extraprofite für Konzerne krisenresistenter Branchen und Bereicherung von Finanzinvestoren, die mit Leerverkäufen auf sinkende Aktienkurse spekuliert haben.“ Klappentext zum am 9. September 2020 im PapyRossa-Verlag erscheinenden Buch von Christoph Butterwegge. Siehe dazu weitere Informationen und als Leseprobe im LabourNet Germany das Kapitel 1.4: „Durch mehr Gleichheit zum individuellen Glück und zur ökologischen Nachhaltigkeit?“ – wir danken dem Autor Christoph Butterwegge!

Kapitel 1.4: Durch mehr Gleichheit zum individuellen Glück und zur ökologischen Nachhaltigkeit?

Die britischen Epidemiologen Richard Wilkinson und Kate Pickett haben in einer vergleichenden Untersuchung hoch entwickelter Industrieländer und der 50 US-Bundesstaaten belegt, dass sich die Mitglieder einer Gesellschaft umso wohler fühlen, je gleichmäßiger deren materieller Reichtum unter ihnen verteilt ist. Je größer die sozioökonomische Gleichheit in einem Land ist, desto weniger soziale und gesundheitliche Probleme treten dort auf.[1] Auch der gesellschaftliche Zusammenhalt, Gemeinsinn und Humanität nehmen mit der Gleichheit zu: „In Gesellschaften mit höherer Ungleichheit sind mehr Menschen dominanzorientiert, in egalitäreren Gesellschaften neigen mehr Menschen zu Empathie und Integration.“[2]

Folgt man Wilkinson und Pickett, brächte ein höheres Maß an sozioökonomischer Gleichheit keineswegs nur Vorteile für Arme, sondern wäre in vielerlei Hinsicht ein Segen für die große Mehrheit der Bevölkerung und die Gesellschaft insgesamt. Das britische Forscherpaar vertritt sogar die Auffassung, dass selbst die reichsten Personengruppen von der Einebnung ökonomischer und sozialer Gräben profitieren würden: „Mehr Gleichheit bringt deutliche Vorteile auch für die Menschen in der obersten Berufsgruppe, auch für das reichste und am besten gebildete Viertel oder Drittel einer Gesellschaft, zu dem dann auch die kleine Minderheit der Superreichen gehört.“[3]

Gleichheit hat überhaupt nichts mit einem notorischen Drang nach Gleichmacherei zu tun, wie von Kritikern des Egalitarismus oft unterstellt wird, beruht vielmehr auf einem notwendigen sozialen Ausgleich, der verhindert, dass sich Menschen oder ganze Menschengruppen auf Kosten anderer unmäßig bereichern. Selbstverständlich sollen nicht alle Gesellschaftsmitglieder gleich viel oder gleich wenig besitzen. Es muss „nur“ gewährleistet sein, dass die Würde der Bevölkerungsmehrheit nicht durch das Übermaß des Reichtums, der Privilegien und der Macht einer kleinen Minderheit verletzt wird.

Der britische Universalhistoriker Eric Hobsbawm hat gegen Ende seiner 1994 erschienenen Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts angemerkt, dass es den entwickelten Industrieländern nicht mehr wie zu Zeiten von Adam Smith primär um die Mehrung des Wohlstandes der Nationen gehen dürfe, sondern dass es heute darum gehen müsse, wie man ihn zum Wohle aller Bürger/innen umverteile, und er hat im festen Glauben an die menschliche Vernunft prophezeit: „Soziale Umverteilung und nicht so sehr Wachstum wird die Politik des neuen Jahrtausends bestimmen. Die marktunabhängige Zuteilung von Ressourcen, oder zumindest eine scharfe Beschränkung der marktwirtschaftlichen Verteilung, wird unumgänglich sein, um der drohenden ökologischen Krise die Spitze zu nehmen. Und auf die eine oder andere Weise wird das Schicksal der Menschheit im neuen Jahrtausend vom Wiederaufbau der öffentlichen Institutionen abhängig sein.“[4] Schon damals war Hobsbawm also klar, dass die sozioökonomische Ungleichheit zur globalen Umweltkatastrophe führen muss und dass die zur Rettung der menschlichen Existenzgrundlagen nötige Klimawende sowohl eine Abkehr vom Neoliberalismus wie auch einen verteilungspolitischen Kurswechsel und eine umfassende Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge (Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur) erfordert.

Zwar sieht es so aus, als ginge die Gattungsfrage (Sicherung der materiellen Existenzgrundlagen durch Abwendung des Klimakollapses) der sozialen bzw. Klassenfrage (Aufhebung der kapitalistischen Ausbeutung und Beseitigung der sozioökonomischen Ungleichheit) voran. Schaut man jedoch genauer hin, wird schnell deutlich, dass nichts ökologische Nachhaltigkeit mehr verhindert als sozioökonomische Ungleichheit. Letztlich beschwört die für den Kapitalismus konstitutive Ungleichheit die ökologische Katastrophe geradezu herauf, weshalb dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem baldmöglichst überwunden werden muss, damit die Menschheit überleben kann.

Die sozioökonomische Ungleichheit verhindert ökologische Nachhaltigkeit, weil das kapitalistische Wachstumsparadigma sowie die neoliberale Wettbewerbs- und Standortlogik zusammen mit dem übermächtigen Motiv der Profitmaximierung die Zerstörung von Umwelt und Natur zwangsläufig einschließen. Kapitalismus und Klimaschutz passen ebensowenig zusammen wie Kapitalismus und Naturschutz oder Kapitalismus und Umweltschutz. Solange der Kapitalismus existiert und der Neoliberalismus die Wirtschaft in den mächtigsten Staaten der Welt ebenso dominiert wie die meisten übrigen Lebensbereiche, wird es weder ökologische Nachhaltigkeit noch demokratische Selbstbestimmung der großen Bevölkerungsmehrheit geben. Anders formuliert: Ohne mehr sozioökonomische Gleichheit kann es weder Gerechtigkeit noch Frieden mit der Natur geben. „In einem Kontext des Wettbewerbes und der sozialen Ungleichheit ist es wahrscheinlicher, dass ökologische Probleme nicht entschärft werden, sondern früher oder später zu einem Kollaps führen.“[5]

Für den Kölner Sozialwissenschaftler Davide Brocchi kann es keine reale Nachhaltigkeit geben, ohne dass die Systemfrage gestellt wird. Wenn die Ursachen der Umweltzerstörung im bestehenden Wirtschaftssystem liegen, so argumentiert er, müsse dieses selbst hinterfragt werden.[6] Nötig ist deshalb eine umfassende System-, also politische Fundamentalkritik, welche die destruktiven Folgen kapitalistischen Wirtschaftens anprangert und Alternativen benennt, die über das bestehende Gesellschaftssystem hinausweisen. Wissenschaftlich fundierte Ansätze, mit deren Hilfe man die Finanzmärkte zügeln, ihre Hauptakteure entmachten und das kapitalistische Wirtschaftssystem auf demokratischem Wege sozialökologisch transformieren kann, gibt es.

Fussnoten

1) Vgl. Richard Wilkinson/Kate Pickett, Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, 3. Aufl. Berlin 2010, S. 34

2) Ebd., S. 195

3) Ebd., S. 213

4) Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/Wien 1995, S. 711

5) Davide Brocchi, Nachhaltigkeit und soziale Ungleichheit. Warum es keine Nachhaltigkeit ohne soziale Gerechtigkeit geben kann, Wiesbaden 2019, S. 52

6) Vgl. ebd., S. 53

Siehe von Christoph Butterwegge im LabourNet Germany u.a. auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=177715
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