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Was die EU wegen der demokratischen Massenproteste in Belarus tun soll? Ihre neoliberalen Polizeistaats-Finger von dem Land lassen
Während die Massenproteste in Belarus trotz aller Repressionsversuche nicht nur nicht abnehmen, sondern weiter anwachsen – gestärkt durch eine ebenfalls weiter anwachsende Streikbewegung – und das Regime erste Versuche startet, Zugeständnisse zu signalisieren – was ebenfalls nicht den erhofften Effekt hat – findet die demokratische Massenbewegung, wenig überraschend, Freunde unter Kräften, die ansonsten demokratischen Bewegungen nicht eben besonders freundlich gegenüber stehen. Wodurch auch die Appelle ausgerechnet an die EU wachsen, Maßnahmen gegen das Regime zu ergreifen – an eine EU, die sich darum „nicht lange bitten“ lässt. (Im Gegensatz zu Appellen etwa gegen Maulkorb-Gesetze in Spanien, polizeistaatlicher Eskalation in Frankreich, aber auch zu nur irgendwelchen Schritten gegen mörderische Geschäftsfreunde in Kairo oder Ankara und, und…) Linke Kräfte im Land – und in der EU – nehmen gegen ein Vorgehen der EU ebenso Stellung, wie gegen die Repression des Regimes und machen dabei unter anderem soziale Forderungen und demokratische Veränderungen zum Thema. Siehe zu den Reaktionen auf die Massenproteste in Belarus fünf aktuelle Beiträge – und den Hinweis auf die bisher letzte unserer zahlreichen kommentierten Materialsammlungen zu Belarus:
„Offener Brief an die Protestierenden in Belarus“ von Oppositionellen aus dem Ruhrgebiet am 18. August 2020 bei telepolis macht in einem Beitrag, der auch auf Russisch verbreitet wurde (im Beitrag verlinkt) auf falsche Hoffnungen aufmerksam: „… Was Sie nach einer mehr oder weniger „friedlichen Revolution“ in Belarus zu erwarten haben, das können Sie allerdings mit Gewissheit an fast allen anderen Ländern Osteuropas ausführlich studieren. Lassen Sie sich informieren über die Abwicklung der Staatsbetriebe, Massenentlassungen, Zusammenbruch der Kolchosen und landwirtschaftlichen Betriebe, massenhafte Landflucht und das Sterben der Dörfer in der Ukraine, in der Republik Moldau, Rumänien, Polen … Vergleichen Sie den Zerfall der sozialen Infrastruktur, von Kitas, Krankenhäusern, Altenheimen und die Folgen für Lebenserwartung, Alkoholismus und Verwahrlosung … Dafür bekommen Sie in der neuen Freiheit gewiss neue Oligarchen, die mit eigenen Fernsehsendern, Verlagen und Parteien um die Macht konkurrieren. Alle vier Jahre können Sie einen anderen wählen. Ändern tut sich dadurch bekanntlich nichts. Die akademische Elite verlässt übrigens die Heimat und ihre Familien, um in Deutschland oder Großbritannien im Krankenhaus, in der Industrie oder IT-Branche viel zu arbeiten. Der Rest der Bevölkerung kann mit Wanderarbeitern aus Polen, der Ukraine oder Moldau darum konkurrieren, wer als Spargelstecher oder Schlachtarbeiter, Putzfrau und Prostituierte in deutschen Betrieben und Bordellen ausgebeutet und krank gemacht wird. Lassen Sie sich auch darüber informieren, wie osteuropäische Migranten in Westeuropa wohnen, wie sie behandelt werden, wenn sie Arbeit und Wohnung verlieren, und was jene Deutschen von Ihnen halten, die gerade so viel Sympathie für ihren Freiheitskampf zeigen. Und schließlich noch ein Wort zum Thema freie Wahlen. Da kennen wir uns nämlich leider aus: In den mustergültigen Demokratien Westeuropas gelten die folgenden Dinge als „alternativlos“ und stehen nicht zur Wahl: die Eigentumsverhältnisse mit Milliardären und Bettlern, die Arbeitslosigkeit, Arbeit, die krank und depressiv macht, die Armut und die Ausbeutung osteuropäischer Wanderarbeiter, Abschiebungen usw… Ob sie zu diesen glücklichen Wanderarbeiter_innen künftig gehören dürfen, entscheiden übrigens auch nicht freie Wahlen in Minsk, sondern Berliner und Brüsseler Gesetze zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und die gar nicht frei gewählten Personalchefs westlicher Unternehmen. Dabei stehen nicht Ihre Bedürfnisse und Sorgen im Mittelpunkt, sondern der Bedarf großer Kapitale an billigen und willigen Arbeitern. Dieser Bedarf dürfte in Zeiten der Krise übrigens absehbar gedeckt sein ...“
„Linker Protest gegen Lukaschenko“ von Ute Weinmann am 16. August 2020 bei nd online berichtet unter anderem: „… Er gehört dem Zentralkomitee der linken Partei »Gerechte Welt« an, die aus der belarussischen kommunistischen Partei hervorgegangen war und 2009 ihren Namen geändert hatte, um etwaige Verwechslungen zu vermeiden. Denn bereits Mitte der 1990er Jahre kam es zur Spaltung und in der Konsequenz zur Gründung der Kommunistischen Partei Belarus KPB. Im Gegensatz zur staatsnahen KPB positionierte sich die »Gerechte Welt« frühzeitig als alternative Kraft, die sich mit Kritik am Führungsstil von Alexander Lukaschenko nicht zurückhält. Für Katarzheuski ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Linke an den aktuellen Protesten beteiligt. Auch 2017, als viele Menschen gegen die Erhebung einer Sondersteuer für nicht offiziell Beschäftigte auf die Straße gingen, war er dabei. Als einer der wenigen Linken in Belarus spricht er sich auch jetzt vehement gegen eine reine Beobachterrolle aus. Im marxistischen und kommunistischen Spektrum halten sich viele auf Distanz, was sie damit begründen, dass sich die Ereignisse nach ukrainischem Vorbild entwickeln würden und unweigerlich eine Abrechnung mit dem Kommunismus bevorstünde. Katarzheuski hingegen sieht keinen Anlass dafür, dass es schlimmer kommen könnte, als es jetzt schon ist. »Sollte es kurzzeitig eine Demokratisierung geben, bieten sich für die Linke weitreichende Handlungsoptionen«, ist er sich sicher. Am Abend des 10. August begab er sich gemeinsam mit drei seiner Genossen auf den Weg in die Minsker Innenstadt. Weil der Internetzugang auch per Proxy blockiert war, verpassten die Vier Ankündigungen über die Konzentration von Sicherheitskräften an ihrem Zielort und behielten ihren Kurs Richtung Siegespark bei. Polizisten kontrollierten zunächst ihre Ausweise und blieben freundlich, bis ein Kleinbus mit Uniformierten in voller Montur die Aktivisten abholte. Die Polizisten schlugen zu und bedauerten, die »Faschisten« nicht erschießen zu dürfen. Im Untersuchungsgefängnis in Schodino unweit der Hauptstadt sei der Umgang weniger aggressiv gewesen, sagt Katarzheuski. 24 Männer in einer Zelle für acht Personen, aber keine Misshandlungen mehr, dafür völlige Informationsblockade. Eine Richterin verurteilte Katarzheuski in einem Schnellverfahren zu fünf Tagen Haft…“
„Das Ende Lukaschenkos?“ von Fabian Wisotzky am 17. August 2020 bei der Rosa Luxemburg Stiftung unterstreicht zu „farbigen Revolutionshoffnungen“ unter anderem: „… Dass er in Belarus eine sogenannte «Farbrevolution» aufhalte, die alle GUS-Staaten bedrohe. Mit dieser Rhetorik der Gefahr einer ausländischen Einmischung, die die Unabhängigkeit Belarus bedrohe, könnte Lukaschenko die gewaltsame Niederschlagung der Proteste begründen. Allerdings ist die Protestbewegung inzwischen vermutlich zu groß. Demonstrant*innen könnte die Polizei noch mit Gewalt auseinanderjagen, aber die Arbeiter*innen in den Betrieben nur schwer zur Wiederaufnahme der Arbeit bewegen. Derzeit scheint es wahrscheinlicher, dass die Protestbewegung sich mit ihrer Forderung nach einem Abgang Lukaschenkos durchsetzt. Dass seine Gegnerin in der Wahl Swetlana Tichanowskaja zur neuen (dauerhaften) Präsidentin wird, ist unwahrscheinlich. Sie hatte in ihrer Wahlkampagne immer erklärt, nur faire Neuwahlen anzustreben und das Präsidentinnenamt nicht dauerhaft bekleiden zu wollen. Wer also neue*r Präsident*in würde und mit welchem politischen Programm, ist völlig offen. Naheliegend wären zum Beispiel die drei verhinderten Kandidaten Sergej Tichanowskij, Wiktor Babariko und Walerij Zepkalo. Die letzten beiden galten vor der Wahl als Moskau-nah, ein Wechsel in der Außenpolitik, der das Land zum Spielball geopolitischer Konflikte werden lassen könnte, ist also nicht zu erwarten. Bisher sind auch keine derartigen Forderungen der Protestbewegung bekannt, sie fokussiert sich allein auf die innere Angelegenheit – die freie Wahl der Präsident*in. Es könnte sich also wie im Falle Armeniens ein Machtwechsel an der Spitze des Staates vollziehen, der keine weitergehenden Konflikte hervorruft. Zu wünschen ist den Menschen in Belarus, dass es dazu kommt, dass sie in einer freien und fairen Wahl ihre*n Präsident*in selbst bestimmen können, ohne zum Spielball geostrategischer Interessen zu werden. Dass Belarus zukünftig durch eine sozialere Politik gekennzeichnet sein wird und der Lebensstandard der Bevölkerung steigen wird, ist allerdings unwahrscheinlich. Im Falle des Sieges der Opposition ist eine wirtschaftsliberalere Politik zu erwarten. Die linken Kräfte in der Opposition, zum Beispiel die Partei «Gerechte Welt», die Mitglied der Europäischen Linken ist, sind derzeit zu marginal, um eigene politische Vorstellungen durchzusetzen...“
„In Belarus, the Left Is Fighting to Put Social Demands at the Heart of the Protests“ am 17. August 2020 im Jacobin Mag ist ein Interview von Volodymyr Artiukh mit den linken Online-Aktiven Ksenia Kunitskaya und Vitaly Shkurin über die Aktivitäten linker Kräfte in der aktuellen Bewegung. Darin wird auch knapp die Geschichte der zahlreichen Versuche der Selbstorganisation, einschließlich gewerkschaftlicher Selbstorganisation skizziert – und ihre Unterdrückung in den letzten Jahrzehnten, die nur die Gewerkschaftsföderation Belarus „übrig ließ“ deren Tätigkeit sich traditionell auf Verteilung von Bezugsscheinen für Urlaubsunterkünfte und ähnliche Transmissions-Anstrengungen beschränkte. Beide weisen in dem Gespräch auf die – reduzierte – Tätigkeit diverser linker Gruppierungen im Lande hin und deren Bestrebungen auch bei den aktuellen Aktionen soziale Fragen zum Thema zu machen (unter anderem weil, entgegen verschiedenster Propagandabehauptungen, das Regime keineswegs eine soziale Politik betreibe). Und sie weisen die zur Verteidigung des Regimes erhobenen Thesen zurück, es gebe Parallelen zur Maidan-Bewegung in der Ukraine 2014 – mit dem Statement, dass es in Belarus eben keine relativ starke und militante faschistische Bewegung gebe…
„Workers protests in Belarus: Appeal to fight for workers interests and not for political power“ am 16. August 2020 bei libcom.org berichtet von Aktivitäten linker Basis-Gruppierungen, die eben solche soziale Forderungen und Ziele in den Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stellen und dazu aufrufen, für sie zu kämpfen. Wobei unter anderem auch der bisherige Regierungskurs auf Privatisierung und Prekarisierung ausführlich und konkret kritisiert wird und damit auch deutlich gemacht, dass die Politik Lukashenkos keine progressiven Aspekte aufwies – und aufweist…
Unterdessen fordert ver.di stärkeres Engagement in der EU gegen Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten in Belarus: „Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke und das für Medien zuständige Bundesvorstandsmitglied Christoph Schmitz haben Bundesaußenminister Heiko Maas in einem Brief aufgefordert, der eskalierten Lage in Belarus „eine noch höhere Priorität im internationalen Engagement Deutschlands“ zukommen zu lassen…“
Und es gibt ein Spendenkonto vom Bund für Soziale Verteidigung e.V. für medizinische und juristische Versorgung der Verhafteten: Stichwort Belarus, IBAN: DE39 4905 0101 0040 1398 00
- Siehe auch ABC-Belarus – Anarchist Black Cross Belarus , auch bei Twitter
- Zu den Massenprotesten in Belarus zuletzt: „Massive Streikbewegung in Belarus: Ein System wankt – auch weil unabhängige Gewerkschaften mobilisieren und Einheiten der Polizei ihre deutsche Ausbildung vergessen“ am 16. August 2020 im LabourNet Germany