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Im Libanon tritt wieder eine Regierung zurück: Kein Grund, die Proteste zu beenden. Passiert auch nicht…
„… Am 4. August 2020 warf die mörderische Staatsmacht eine Bombe in das Herz der Hauptstadt und durchtrennte damit die letzte noch bestehende Kordel, die uns noch an die Hauptstadt band. Wir sind nicht länger auf der Suche nach Fakten, die unser Vertrauen in diese Macht wiederherstellen könnten. Die Verantwortung liegt nicht bei der Person, die das Lagertor zugeschweißt hat, sondern bei denen, die es zuschweißen haben lassen. (…) Am 4. August 2020 fiel jegliche Legitimität dieser Macht, und wir befinden uns jetzt im Krieg mit ihr. Weder seine Politiker, seine Institutionen, seine Parteien, seine Banken und seine Medien sind legitim. (…) Am 4. August 2020 erklärte uns die Regierung den Krieg. Wir unsererseits verkünden den Beginn des Kampfes für die Befreiung. Es ist nicht mehr der 17. Oktober. Wir werden nicht mehr aufbegehren, wir werden nicht mehr demonstrieren, wir werden unsere Forderungen nicht mehr verkünden. Die Zeit des Kampfes ist gekommen. Wir werden dafür kämpfen, unsere Institutionen aus den Händen der Usurpatoren zu befreien. Wir werden kämpfen, um unsere Stadt von den Angreifern zu befreien. Wir werden dafür kämpfen, unser Eigentum und unsere Ersparnisse von der Macht der Banken zu befreien. Wir werden kämpfen, um das Volk von der Besatzung zu befreien. Wir werden kämpfen, um uns von diesem Regime zu befreien. Eins sagte „unser Präsident“: „Wenn Ihnen das Land nicht gefällt, dann wandern Sie aus!”. Sir, seit dem 4. August 2020 hat der Kampf um Ihre Amtsenthebung begonnen…“ – aus der Übersetzung des Aufrufs „Beirut: Gerechtigkeit für die Opfer, Rache an dem Regime“ am 10. August 2020 bei Suzibingfa . Siehe dazu einige weitere aktuelle Beiträge – sowohl über die Kontinuität der Proteste, als auch zu den diversen Einmischungsversuchen im Libanon – und den Verweis auf den bisher letzten unserer Beiträge zur Lage im Libanon nach der Explosion:
„Massive Proteste nach Explosion im Hafen von Beirut“ von Jean Shaoul am 10. August 2020 bei wsws über eine Regierung, die es schaffte, sich immer unbeliebter zu machen – wirklich: „… Keine dieser Maßnahmen hat die Öffentlichkeit in irgendeiner Form beruhigt. Die Wut über die politische Elite hat sich noch verschärft, nachdem die Regierung keine Maßnahmen zur Unterstützung der Hinterbliebenen und Obdachlosen angekündigt hat. Ihr Misstrauen gegenüber allen Politikern und offiziellen Institutionen ist so groß, dass Hilfsorganisationen im Libanon Einzelpersonen und Regierungen gebeten haben, direkt an sie zu spenden, um die korrupten Politiker zu umgehen. Kein einziger Minister hat die betroffenen Gebiete besucht oder den trauernden und obdachlosen Familien Trost zugesprochen – zweifellos aus Angst um ihr Leben. Politiker, die in der Öffentlichkeit aufgetreten sind, wie der ehemalige Ministerpräsident Saad Hariri und Justizministerin Mari-Claude Najm, wurden ausgebuht. Hariri wurde mit Wasser begossen, wütende Demonstranten brüllten ihn an: „Denken Sie nicht einmal daran, wieder an die Macht zurückzukehren.“ (…) Am Donnerstag besuchte der französische Präsident Emmanuel Macron als erste internationale Persönlichkeit das Land. Dieser Vertreter der ehemaligen Kolonialmacht im Libanon und in Syrien, der seit Jahren die „Gelbwesten“-Bewegung in Frankreich unterdrückt, spazierte durch den historischen Stadtteil Gemmayazeh, in denen die reichen christlichen und sunnitischen Einwohner des Libanon leben. Der angebliche Zweck seines Besuchs war, Hilfe anzubieten. In Wirklichkeit wollte er jedoch sicherstellen, dass die Elite des Libanon eine Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse organisiert und die vom Iran unterstützte bürgerlich-religiöse Gruppe Hisbollah als politische und militärische Kraft im Libanon ausschaltet…“
„Libanon: Stand der Dinge“ von Ghassan Salhab am 10. August 2020 bei Suzibingfa war eine Art Zwischenbilanz der Massenproteste im Libanon kurz vor der Explosion: „… Diese beträchtliche Disparität auf Seiten der jeweiligen Mächte finden wir unweigerlich in den „Reihen“ des Aufstands vom 17. Oktober. Wahre Zersplitterung. Und wir vermuteten, dass, wenn die unvermeidlichen Zeiten der Unsicherheit, des Zögerns, der Abnutzung und des Verschleißes kommen, die Unruhestifter, die gegenwärtig nicht die direkte Kontrolle haben, dies ausnutzen würden, um den Aufstand zu infiltrieren und zu versuchen, ihn zu schlucken, ja zu überwältigen, ihn umzulenken, indem sie ihre Schachfiguren und ihre Forderungen vorantreiben, die absolut keine Alternative haben, die nichts anderes sind als die andere Seite desselben, nur zusammengeflickt, lokaler Bankrott – feudal, kapitalistisch, herrschaftlich (es gibt immer neue Anwärter, der Präsident und seine Clique sind ein perfektes Beispiel), paternalistisch, kommunitär, klientelistisch und so weiter – dieser Marktwirtschaft, in welcher Version auch immer, die immer, zumindest hier in der Gegend, verheerend war. Diese Einsperrung, diese Ausgangssperre hat offensichtlich viel dazu beigetragen und uns kurzgeschlossen. Aber in dem Schwung, den wir hatten, waren wir nicht in der Lage oder wussten nicht, wie wir unsere Wut überwinden und den notwendigen, wesentlichen Schritt tun konnten, um uns weiter nach vorne zu bringen. Hier geht es nicht darum, Steine auf irgendjemanden zu werfen, außer vielleicht auf sich selbst, sicher nicht; diese Revolution in sich selbst, zu der wir nicht in der Lage waren oder nicht wussten, wie wir sie durchführen sollten, noch nicht. Uns lief die Zeit davon, zum einen, weil die Gegner uns drängten, uns zwangen, im Wesentlichen reaktiv zu sein, zum anderen, weil wir, versklavt von unserer Epoche und ihrem Eifer und jetzt von der Dringlichkeit unseres täglichen Brotes, alle Schwierigkeiten der Welt haben, nicht zuzugeben, dass es keine Frage von Antworten war und immer noch ist, die es zu finden gilt, noch weniger sofortige Antworten, sondern ein tiefes und permanentes Infrage stellen auf allen Ebenen, durch alle, grundsätzlich, sowohl individuell als auch kollektiv, mit leiser Stimme und laut, sowohl über das, was uns ausmacht, als auch über unsere Bestrebungen, ohne natürlich unsere verschiedenen Aktionen auszusetzen, ganz im Gegenteil! Alles entsteht aus dem Handeln, aus der ersten Geste. Jedes Viertel, jedes Dorf, jede Stadt, jede Region, wo auch immer der Aufstand Wurzeln geschlagen hat, besteht noch immer, egal wie groß, auf die eine oder andere Weise fort…“
„Hört auf diese Menschen!“ von Philip Malzahn am 10.August 2020 in nd online zur Haltung der betroffenen Bevölkerungsteile unter anderem: „… Es ist eine Unverschämtheit, wie die internationale Politik mit den Bedürfnissen der Libanesen umgeht. Seit Jahren zerfällt die Wirtschaft; seit Jahren droht der instabile Frieden zu brechen. Und nun, wo ein vermeidbarer Unfall schlagartig die ganze Korruption, Misswirtschaft und damit einhergehende Wut ans Tageslicht gebracht hat, die sich seit Jahren, gar Jahrzehnten anstaut, halten Politiker wie Emmanuel Macron große Reden: »Die Zukunft des Libanons wird jetzt entschieden.« Gemeint sind die circa 250 Millionen Euro, die man schicken will. Eine lächerliche Summe im Vergleich zu den Milliarden, die man bräuchte – nicht zuletzt deshalb, weil man durch Sanktionen den Notstand überhaupt mit verursacht hat. Auf der anderen Seite wettert der Iran in ebenso unverschämter Weise gegen diese Sanktionen und ignoriert, wie er selbst Hass, Korruption und damit die Zerrissenheit im Land begünstigt. Wie er Waffen und Geld hineinspült, um jene zu ermächtigen, die alle ausbluten lassen, die nicht zu ihnen gehören. Im Libanon gibt es schon seit letztem Herbst Proteste. Eine zentrale Forderung: Politik, bei der die Menschen selbst im Mittelpunkt stehen. Nicht ihre Religion oder gesellschaftlicher Stand…“
„Libanon-Hilfe: Konkurrenz um Einfluss der politischen Agendas“ von Thomas Pany am 10. August 2020 bei telepolis zeichnet Bemühungen nach, den jeweiligen Einfluss im Libanon auszuweiten: „… Man kann – um nicht gleich auf das „Weltbank-„, „IWF-“ und „Hisbollah-Problem“ zuzusteuern -, den kurzen Kommentar des Libyen-Spezialisten Jalel Harchaoui als Anschauungsmaterial dafür nehmen, wie kompliziert es werden kann. Harchaoui stellt zwei Meldungen gegenüber. Die eine behauptet, dass die Vereinigten Arabischen Emirate den Hafen von Beirut wieder aufbauen – und auch für dessen Betrieb verantwortlich sein wollen. Die andere behauptet, dass die Türkei ebenfalls den Hafen in Beirut wiederaufbauen will. Der Libyen-Spezialist sieht da den Konflikt im nordafrikanischen Land, wo sich die Türkei und die Emirate gegenüberstehen, als Muster für eine Entwicklung, die dem Libanon droht. Nun sind nicht beide Meldungen gleichermaßen seriös unterlegt. Im Fall der Türkei gibt es Äußerungen aus der Regierung, die das Interesse am Wiederaufbau des Hafens als Hilfsangebot deklarieren. Im Fall der Vereinigten Arabischen Emirate gibt es dazu noch(?) keine englisch-sprachige Nachricht, die die Absicht bestätigt, sondern nur die generelle Beobachtung, dass Häfen und Meereswege ein auffallend wichtiges Element der VAE-Politik der letzten Jahre waren und die Beteiligung am Wiederaufbau des Beiruter Hafens niemanden wirklich erstaunen würde. (…) Man fragt sich bei Macrons Ausführungen, wer mitmacht und an wen die Milionen-Hilfe geht? Die Hisbollah, die von Iran unterstützt wird, ist ein Elefant im Raum. An ihm entzünden sich Spannungen im Libanon, die von außen geschürt werden, er gehört zu den geopolitischen Konfrontationen im Nahen Osten. Bei westlichen Hilfen – die von arabischen Regierungen unterstützt werden, die in ihrer Mehrheit mit Saudi-Arabien auf gutem Fuß stehen, wie die Teilnehmer der Geberkonferenz – ist der Gedanke da, dass man die Gelegenheit auch dazu nutzen will, den Einfluss der Hisbollah und Irans zu schwächen und also eine strategische Absicht verfolgt. Man kann gespannt sein, was sich da noch zeigen wird. Wie ausgeprägt das Misstrauen gegenüber einer westlich geführten Hilfe ist, zeigen Anmerkungen des Syrien-Beobachters Joshua Landis. Er kommentiert die von Macron geäußerte Absicht, wonach die Nothilfe nicht über die libanesische Regierung laufen soll, sondern an ihr vorbei als „direkte Hilfe“ über NGOs, das Rote Kreuz und die libanesischen Sicherheitskräfte vergeben werden soll. Für Landis ist das ein „glitschiges Gelände“, dabei fällt auch das Reizwort „Regime Change“. Er nennt die Beispiele Libyen und Syrien zur Warnung. Es gehe schnell, dass auswärtige Agenden dominant werden. Geht es um die libanesischen Sicherheitskräfte, so ist wegen deren engen Verbindungen zu den USA, einige Vorsicht wegen deren Parteinahme (auch bei den Protesten) angebracht. Im größeren wirtschaftlichen Rahmen gilt das Vorsichtsgebot auch für die weitere Hilfspakete, die Macron in Aussicht stellt. Er knüpft sie an Bedingungen. Dabei fällt das klassische neoliberale Schlagwort von „nötigen Reformen“. Die sind angesichts der wirklich desaströsen Korruption, des Banken- „Ponzi-Schemas“ zugunsten der politischen Elite und der abenteuerlich hohen Schuldenlast im Libanon zwar wirklich nötig, aber Macron ruft die „üblichen Verdächtigen“ zur Hilfe, den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank...“
„Trümmer globaler Machtspiele“ von Simon Tisdall am 10. August 2020 im Freitag online (ursprünglich englisch im Guardian) zu den keineswegs neuen Einmischungsstrategien im Libanon unter anderem: „… Die offizielle Fahrlässigkeit, die das Desaster am Dienstag vermutlich verursacht hat, ist ein typisches Ergebnis von Regierungssystemen, die von Parteigeist, Sektierertum, Korruption und fehlender demokratischer Verantwortlichkeit ausgehöhlt sind. Wieder lassen sich für die Regierung in Beirut in alle Kästchen ein Häkchen setzen. Und doch ist die Pest der Einmischung aus dem Ausland von all den Übeln vielleicht das schlimmste – und der Libanon ist ein Hauptopfer. Der Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 hinterließ ein Erbe der Teilung und territorialen Besatzung durch Israel und syrische Truppen. Zudem war der Libanon schlecht vorbereitet auf einen großen Zustrom von palästinensischen und syrischen Flüchtlingen. Sein ökonomisches Wohlergehen hängt vom Wohlwollen beziehungsweise dem Eigeninteresse von ausländischen Mächten ab. Dabei wählen die an der Macht beteiligten libanesischen Politiker eher konfessionell als professionell motiviert die Seite von Ländern wie den USA, Saudi-Arabien und dem Iran oder ihrem lokalen schiitischen Verbündeten, der Hisbollah. Regelmäßig erlebt der Libanon kleinere Auseinandersetzungen zwischen den israelischen Streitkräften und islamistischen Milizen. Kein Wunder also, dass viele in Beirut anfangs annahmen, die Explosion am Dienstag sei von einem israelischen Luftangriff ausgelöst worden. 2017 wurde der sunnitische libanesische Premierminister Saad Hariri vom saudi-arabischen Regime entführt und zum Rücktritt gezwungen. Aktuell wird die libanesische Wirtschaft durch zwei Faktoren weiter geschwächt: auf Syrien zielende US-Sanktionen sowie die Verzögerung eines 20 Milliarden-US-Dollar-Rettungspakets des Internationalen Währungsfonds (IMF), das von einer ausländischen Agenda diktiert wird. In den zehn Jahren nach dem Arabischen Frühling haben sich regionale Interventionen und die Beeinflussung durch verschiedene außenstehende Akteure verstärkt. Verrückterweise wurde dieser Prozess durch den schrittweisen Rückzug des größten Einmischers von allen verstärkt: Die USA haben ein Vakuum hinterlassen. Jetzt streiten sich andere darum, es zu füllen...“
- Siehe dazu auch: „Massenproteste, Besetzungen und Selbstorganisation im Libanon: Was da explodiert ist, ist der Kapitalismus. Pur. Und wer im Land von „Stuttgart 21“ jetzt nur „Korruption“ ruft – hilft jenen, die dieses System entwickelt haben…“ am 09. August 2020 im LabourNet Germany (dort auch Verweis auf einen vorherigen Beitrag nach der Explosion)