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„Beirut, wie wir es kennen, gibt es nicht mehr“. Beiruts Zerstörung – eine Explosion, ein korruptes System, der Ruf nach unabhängiger Untersuchung – und nach Spenden

Die Explosion im Hafen von Beirut am 4.8.2020„… Die libanesische Regierung hat einen zweiwöchigen Ausnahmezustand für Beirut ausgerufen. Wie Informationsminister Manal Abdel Samad ankündigte, wurde die Verantwortung für die Sicherheit in der Hauptstadt mit sofortiger Wirkung der Armee übertragen. Die Regierung wies die Militärführung an, die für das Unglück verantwortlichen Beamten unter Hausarrest zu stellen. Das gelte für alle, die für die Lagerung des explodierten Ammoniumnitrats im Hafen zuständig waren. Präsident Michel Aoun hatte zuvor um internationale Katastrophenhilfe gebeten. Diese müsse rasch erfolgen, da sein Land bereits unter der herrschenden Wirtschaftskrise leide, sagte er in einer Fernsehansprache. Zugleich sicherte Aoun zu, die Umstände, die am Dienstag zu den schweren Explosionen in Beirut geführt hatten, würden zügig und transparent aufgeklärt…“ – so meldet die Deutsche Welle in „Nach der Explosion in Beirut“ am 05. August 2020 externer Link die Aktivität der Regierung nach der Katastrophe – was den Versuch bedeutet, die massiv vertretene Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung zu umgehen… Die leicht sichtbaren politischen Zusammenhänge der Explosion mit dem korrupten Proporz-System und die sozialen und wirtschaftlichen Hintergründe, wie auch die Reaktionen von Betroffenen und Aktiven der monatelangen Proteste sowie verschiedene Solidaritätsbestrebungen samt Spendenadressen sind Gegenstand unserer aktuellen Materialsammlung vom 06. August 2020 – und jetzt versehen mit einem Update vom 07. August 2020 zu aktuellen Protesten und einigen Hintergründen

„Beiruts Zerstörung – eine Explosion und ein korruptes System“

(06. August 2020)

„Was die Explosion von Beirut mit Korruption zu tun hat“ von Robert Chatterjee am 05. August 2020 bei Zenith externer Link unterstreicht zum Zusammenhang mit dem korrupten System konkret unter anderem: „… Dass knapp 3.000 Tonnen hochentzündliches Ammoniumnitrat den wichtigsten Hafen des Landes zerstören und darüber hinaus im ganzen Land spürbare Verwüstung hinterlassen, war dagegen ganz und gar vermeidbar. Währungsverfall, Wirtschaftskrise, Massenproteste und dann auch noch Corona – der Libanon hat in den letzten Monaten und Jahren eine Vielzahl von Krisen durchlebt. Die Häufung an Problemlagen verschlimmert die Folgen der Katastrophe vom 4. August, könnte aber auch den Blick auf die entscheidenden Ursachen erschweren. Denn im Kern handelt es sich hier um den vorläufigen Höhepunkt von Staatsversagen und Korruption – latente Probleme, die den Libanon seit Jahrzehnten plagen. Staatsversagen bedeutet in diesem Fall, dass der Staat einer seiner zentralen Funktionen nicht nachgekommen ist, nämlich Leib und Leben seiner Bürger zu schützen. Dafür dienen sowohl gesetzliche Regularien, als auch fachspezifische Behörden, die die Einhaltung von Standards überwachen und Verstöße ahnden. Mit dieser Vernachlässigung einher geht im Libanon die Auslagerung von Versorgungsdienstleistungen (Strom, Wasser, Müll) an nicht-staatliche Verteilungsnetzwerke, etwa von Parteien oder Geschäftsleuten. (…) Schon zu Bürgerkriegszeiten machten Milizen im Libanon Geschäfte mit illegal importiertem Müll. Gespart wurde dafür bei der fachgerechten Entsorgung – ähnliche Verhaltensmuster lassen auch die Dienstleister erkennen, die sich heute lukrative Staatsaufträge sichern, aber nicht willens sind, ihre Margen durch Investitionen in Personal und Technologie zu schmälern – staatliche Sanktionen müssen sie ohnehin kaum fürchten. So wächst der riesige Müllberg am Beiruter Flughafen Meter um Meter, Plastikflaschen füllen Strände und Berglandschaften. (…) Die politische Führung, die etwa dank der Vergabe von Ausschreibungen einen wichtigen Platz in diesem System einnimmt, hat lange darauf gesetzt, dass sich der Widerstand gegen die Klientelwirtschaft in Grenzen halten würde. Weil auch die unkontrollierten Verteilungsnetzwerke doch an stabilen Einnahmen interessiert sein müssten und schon Mittel und Wege finden, damit ihr Geschäft nicht kollabiert. Und weil doch jeder Libanese und jede Libanesin irgendwie Teil dieses Systems ist – gewollt oder ungewollt.Doch diese Rechnung geht immer seltener auf. Auf den Diskussionsveranstaltungen im Zuge der Protestbewegung, die im Oktober 2019 weite Teile des Landes erfasst hatte, wurde nicht nur offen über Klientelismus debattiert, sondern eine Verbindung zu dessen handfesten Folgen hergestellt – das verlieh der oft nebulösen und abstrakten »Systemfrage« nicht nur inhaltlich eine neue Qualität, sondern schärfte ein gemeinsames Problembewusstsein über politische und sektaristische Trennlinien hinweg. Das intellektuelle Potential, das sich damals in der Protestbewegung Ausdruck verlieh, könnte nun eine Chance für den Wiederaufbau der in ihren Grundfesten erschütterten Stadtgesellschaft bieten. Die politische Führung versucht, dieser Stimmung auch im Nachgang der Explosionskatastrophe vom 4. August den Wind aus den Segeln zu nehmen, sei es durch die Fokussierung auf einzelne Funktionsträger, die als Sündenböcke herhalten müssen (etwa die Leiter der Zoll- und Hafenbehörde), den Rekurs auf Verschwörungstheorien, Anbiederung und Populismus…“

„Die Katastrophe im müden Land“ von Meret Michel am 06. August 2020in der WoZ externer Link (Ausgabe 32/2020) zu den städtischen Bedingungen und menschlichen Folgerungen über die direkten Opfer der Katastrophe hinaus: „… Beirut ist eine Stadt, die sich um ihren Hafen herum ausbreitet. Gleich hinter einer zentralen Verkehrsachse befinden sich die ersten Wohnviertel. Und die Gefahr, die von der Lagerung solch hochexplosiven Materials an diesem Ort ausgeht, war den Behörden durchaus bewusst gewesen. Die Ware stammte von einem russischen Frachtschiff, das 2013 nach technischen Problemen in Beirut angelegt hatte. Mehrere offizielle Anfragen der Zollverwaltung, was damit zu tun sei, waren offenbar unbeantwortet geblieben. Natürlich gab es bereits am Dienstagabend viele Spekulationen. Etwa dass ein Angriff Israels stattgefunden habe, das in der Woche zuvor bereits Ziele in Syrien angegriffen hatte. Das israelische Verteidigungsministerium dementierte umgehend. Und ebenso Spekulation ist die Frage, welche regional- und geopolitischen Folgen die Explosion haben könnte. Solcherlei Mutmassungen bringen im Moment aber wenig. Zentral ist vielmehr die Frage, welche Folgen die Explosion für die Menschen im Libanon hat. Und viel wichtiger ist vor allem, dass so schnell wie möglich Hilfe von aussen kommt. Der Libanon ist ein Land, in dem mittlerweile über die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Ein Land auch, das fast alle Konsumgüter importieren muss. Beispielsweise kamen 85 Prozent des importierten Getreides im Hafen von Beirut an – nun wurde dieser komplett zerstört. Eine solche Explosion ist in jedem Fall eine Katastrophe. Für den Libanon in der heutigen Zeit ist sie aber noch mehr als das. Das Land erlebt die schlimmste Wirtschaftskrise seiner Geschichte, die Währung hat in den letzten Monaten über achtzig Prozent ihres Werts, Hunderttausende Menschen haben ihre Arbeit verloren. Viele, die vor einem Jahr noch zur Mittelschicht gehörten, können sich heute kaum noch das Essen leisten. Die Krankenhäuser, die wegen der Coronapandemie bereits am Limit liefen, waren in der Nacht auf Mittwoch mit Tausenden Verletzten komplett überlastet. Auch sie waren von der Wirtschaftskrise schon schwer getroffen: Wegen der katastrophalen Stromversorgung mussten manche Spitäler Operationen verschieben. Noch vor zehn Monaten sind Millionen LibanesInnen auf die Strasse gegangen, um gegen Korruption und das politische System, von dem das Land seit dem Bürgerkrieg gelähmt wird, zu protestieren. Die «Oktoberrevolution» setzte eine unglaubliche Energie frei. Es keimte die Hoffnung auf, das Land lasse sich zum Besseren verändern. Der damalige Regierungschef Saad Hariri trat zurück. Doch selbst wer auch nur die geringste Hoffnung in die neue Regierung unter Hassan Diab gesetzt hatte – was viele AktivistInnen ohnehin nicht taten –, wurde bisher enttäuscht. Es gelang nicht einmal, ein Gesetz für einheitliche Kapitalkontrollen einzuführen. Es wäre eine Grundvoraussetzung dafür, dass das Land ein Hilfspaket vom Internationalen Währungsfonds erhält. Vor dem Hintergrund all dessen treffen der Schock und das Trauma, die am Dienstag über Beirut kamen, das Land in seinem Innersten...“

„“Nous avons alerté six fois la justice sur la dangerosité du nitrate d’ammonium. En vain“ , affirme le directeur des douanes““  von Matthieru Karam am 05. August 2020 bei L’Orient le Jour externer Link berichtet von den vom Leiter der Behörde zu seiner Verteidigung angegebenen zahlreichen Versuchen der Zollbehörden, auf dem Justizwege die gefährliche Lagerung zu beenden – vergeblich. Das moldawische Schiff, das das „salzähnliche“ Gemisch vom Georgien nach Mosambik transportieren sollte, war bereits 2013 bei einer Sicherheitsinspektion festgehalten worden – und von der Reederei anschließend „aufgegeben“. Dies kommentierend wird ein Enthüllungsjournalist der vor allem über Beziehungen am Beiruter Hafen forscht zitiert, der darauf verweist, dass die Lagerung solcher Substanzen ohnehin gesetzlich verboten sei, es also nicht auf Anträge, sondern auf Handeln angekommen wäre…

„Stimmen aus einer verwüsteten Stadt“ von Julia Neumann am 05.August 2020 in der taz online externer Link lässt eben solche Stimmen zu Wort kommen: „… Auch mehrere Krankenhäuser wurden bei der Detonation zerstört: Aus dem nahe dem Hafen gelegenen St.-George-Universitätsklinikum wurden die Kranken evakuiert. Eine Wand stürzte ein, vier Pflegerinnen wurden getötet, eine von ihnen war Bakalians Klassenkameradin. Am Tag nach der verheerenden Explosion steigt die Zahl der Todesopfer nach Angaben des Roten Kreuzes auf mehr als 100. Über 4.000 Menschen sind verletzt, mehr als 100 Personen am Mittwoch noch vermisst. Fast die halbe Stadt habe Schäden erlitten, sagte Beiruts Gouverneur Marwan Abbud. Bis zu 300.000 BewohnerInnen Beiruts könnten obdachlos geworden sein. Die Höhe der Schäden schätzte Abbud auf 3 bis 5 Milliarden US-Dollar. Auf genaue Zahlen wollte sich einen Tag nach der Katastrophe noch niemand festlegen. Bakalians Famile gehört eine Konditorei in Mar Mikhael. Der Ofen im ersten Stock durchbrach durch den Druck der Explosion die Decke. Gegenüber befindet sich das Geschäft des Schuhmachers Jirayir Kreyan. Wegen der Coronapandemie lief sein Geschäft ohnehin schon schlecht, berichtet er. Doch nun müsse er seinen Laden aufräumen und könne auf unbestimmte Zeit nicht mehr arbeiten. Die Fensterscheibe ist herausgefallen, Holzregale sind aus den Wänden gekracht, alles ist verstaubt. „Uns hilft hier niemand“, sagt Kreyan. „Die Regierung ist nicht für uns da, die Polizei informiert uns nicht, was los ist, und niemand packt mit an. Nur noch Gott kann uns helfen“, sagt der 37-Jährige enttäuscht…“

„Nicht die letzte Erschütterung“ von Karim El Gawhary ebenfalls am 05.August 2020 in der taz online externer Link kommentiert die Perspektiven:„… Dass das Ganze wohl kein Anschlag war, macht es für die Libanesen nicht weniger politisch. Für sie ist es ein weiterer Beweis dafür, dass sie inzwischen in einem völlig gescheiterten Staat leben. Die einstige Schweiz des Nahen Ostens, als die sich der Libanon einst gerne vermarktet hat, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Bereits vergangenes Jahr gingen die Libanesen monatelang gegen Misswirtschaft und Korruption auf die Straße. Das Land erlebte eine Wirtschaftskrise bisher unbekannten Ausmaßes. Dann kam Covid-19, das Desaster wurde zur Katastrophe. Der damalige Sozialminister Ramzi Musharrafieh warnte bereits im Frühjahr, dass drei Viertel der Libanesen nicht mehr ohne finanzielle Unterstützung oder andere Arten von Hilfslieferungen über die Runden kommen. (…) In dieser angespannten Situation hat die Explosion nicht nur eine unglaubliche Zahl von Toten und Verletzten hinterlassen und das Leben Tausender Familien zerstört, sie hat auch die ohnehin wackligen Grundfesten des politischen Systems im Libanon erschüttert. Schon am Mittwoch sprachen die Libanesen davon, dass sie wieder auf die Straße gehen wollen. Der Ärger über Misswirtschaft, Nachlässigkeit und Korruption dürfte seit gestern keine Grenzen mehr kennen. Die Regierung rief einen zweiwöchigen Ausnahmezustand aus, wohl nicht nur um die Scherben zusammenzukehren, sondern auch in Erwartung dessen, was geschieht, wenn sich die Trauer der Libanesen in Wut verwandelt…“

„Kein Frieden ohne Brot“ von Julia Neumann am 05. August 2020 in der taz online externer Link zur aktuellen sozialen Lage am Tage der Explosion unter anderem: „… Amani Hashem, 28 Jahre alt, ist eine davon. Fünf Jahre arbeitete sie im renommierten Uniklinikum der Amerikanischen Universität der Hauptstadt. „Ich hatte mich freiwillig für die Corona­station gemeldet“, erzählt die Mutter eines dreijährigen Kindes. Und obwohl die Familie versuchte, ihr den Job auszureden, nahm sie das Risiko aus Überzeugung für den Beruf in Kauf. „An einem Freitag konnte ich mich plötzlich nicht mehr am Computer einloggen“, berichtet sie, „so habe ich erfahren, dass ich entlassen wurde – wegen des Coronavirus und der Finanzkrise.“ Über 800 Angestellte auf mittlerer Führungsebene sowie Elektriker und Pfleger*innen des Krankenhauses wurden gekündigt. Hashem kritisiert, dass die Verwaltung weiterhin üppige Gehälter beziehe, während das einfache Personal den Job verlor. „Das ist unmoralisch und unfair“, sagt. sie. „Die Universität ist der Libanon im Kleinen: Die Verwaltung stiehlt Geld, und die hart arbeitenden Menschen leiden.“ (…) Die nationale Elektrizitätsgesellschaft weist ein jährliches Defizit von fast 1,7 Milliarden Euro im Jahr auf. Der Strom fiel bereits vor der Krise mindestens drei Stunden am Tag aus. Die Menschen leiden unter nicht trinkbarem Leitungswasser, explodierenden Mieten und horrenden Telefongebühren. Die Wut darüber entlud sich in friedlichen Protesten. Erstmals zeigten sich Jung und Alt, Arme und Menschen aus der sehr kleinen Mittelschicht vereint, auch über konfessionell-politische Grenzen hinweg. Muslimische Sunniten und Schiiten, maronitische Christen oder Drusen schwangen die libanesische Flagge – eine Seltenheit in einem Land, in dem die Regionen mehrheitlich von einer der 18 anerkannten Religionsgemeinschaften geprägt sind...“

„Coupures d’électricité: affrontements à Beyrouth“ am 04. August 2020 bei Anthropologie du Présent externer Link ist eine aktuelle Materialsammlung über die Proteste bis zum Vortag der Katastrophe – Proteste, die weiterhin ungebrochen gegen das Proporz-System gerichtet waren und eben im konkreten aktuell gegen die Zustände der Stromversorgung…

„Beirut blast threatens food security in Lebanon“ von Antonia Williams-Annunziata am 05. August 2020 bei Beirut today externer Link berichtet vor allem von der drohenden Verschärfung der Lebensmittel-Probleme, da auch hierfür der Hafen von Beirut Hauptumschlagplatz sei…

„Hilfe für den Libanon“ am 05. August 2020 bei medico international externer Link zum Ereignis und mit dem Spendenaufruf: „… AMEL, eine der wichtigsten Gesundheitsorganisationen des Landes und langjähriger medico-Partner, ruft derzeit zu Blutspenden auf, sammelt Kleidung und Nahrungsmittel. AMEL betreibt mit medicos Unterstützung mehrere Gesundheitszentren in den südlichen Stadtvierteln Bourj el Barajneh, Hay el Sollom, und Haret Hreik. Dort werden zur Stunde Verletzte versorgt und an Krankenhäuser vermittelt. „Fast jede Wohnung ist beschädigt, es gibt unzählige Verletzte, die Krankenhäuser sind überlastet und es ist noch gar nicht abzusehen, wie tief die Folgen langfristig sein werden. Der Hafen ist fast komplett zerstört“, berichtet der libanesische medico-Partner Anti Racism Movement. Die Explosion ist eine Katastrophe, die mit Ansage kam. Sie ist erneuter Ausdruck eines Regierungs- und Staatsversagens, gegen das seit Jahren und im letzten Herbst mit großen Demonstrationen aufbegehrt wurde. Bevor die Massenproteste 2019 begannen, hatten Brände das Land erschüttert und massive Versäumnisse der Ausstattung von Feuerwehr und Katastrophenschutz offengelegt. Gefordert wurde dann auf der Straße der Rücktritt der gesamten politischen Klasse. Doch fast niemand ist seitdem gegangen. Die organisierte Verantwortungslosigkeit, Korruption und Arroganz ging weiter: Die Explosion von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, über Jahre gelagert in einem Hafendepot mitten in der Stadt, ist der vorläufige tödliche Tiefpunkt dieser Politik. Die tiefe Krise im Libanon, die lange vor Corona begann und sich in der Pandemie dramatisch zugespitzt hat, wird sich jetzt nochmals verschärfen. Die Infrastruktur liegt brach, Hunderttausende wurden seit Monaten nicht ausreichend mit Lebensmitteln, mit Medikamenten oder ärztlicher Hilfe versorgt. Der zerstörte Hafen ist das wichtigste Nadelöhr für Importe, auf die der Libanon und die gesamte Region – insbesondere das internationale Hilfsprogramm für Syrien – angewiesen sind. Strom wird rationiert, Müll nicht abtransportiert, Arbeit ist knapp und die libanesische Währung hat seit letztem Jahr 80% an Wert verloren. Hinzu kommen 1,5 Millionen geflüchtete Syrer*innen und hunderttausende migrantische Arbeiter*innen...“

  • Spendenkonto: medico international
    IBAN: DE21 5005 0201 0000 0018 00
    BIC: HELADEF1822
    Frankfurter Sparkasse
    Spendenstichwort: Libanon
  • Eine weitere, uns als unterstützenswert empfohlene Organisation vor Ort ist Basmeh & Zeitooneh externer Link

„Selbstverwaltung erklärt sich solidarisch mit dem Libanon“ am 05. August 2020 bei der ANF externer Link berichtet aus Rojava unter anderem: „… Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien teilt ihre Anteilnahme mit und erklärt: „Wir senden dem libanesischen Volk unsere unbedingte Unterstützung und sprechen den Familien der Getöteten unser aufrichtiges Beileid aus. Den Verletzten wünschen wir schnelle Genesung. Wir hoffen, dass der Libanon diese Phase überwindet und wieder Sicherheit einkehrt.

„LEBANON: WFTU IN SOLIDARITY WITH THE WORKERS AND THE PEOPLE OF LEBANON AFTER THE EXPLOSIONS“ am 05. August 2020 beim WFTU externer Link ist die Solidaritätserklärung des Weltgewerkschaftsbundes mit dem Land und den Betroffenen, worin auch eine Untersuchung gefordert wird.

„Lebanon: Unions express solidarity after deadly blast rocks Beirut“ am 05. August 2020 bei der IFJ externer Link ist die Solidaritätserklärung der internationalen Journalistengewerkschaft mit den Medienbeschäftigten im Libanon, unter denen es ebenfalls einige Opfer gibt.

„Interview with CNN on the aftermath of the Beirut blast“ am 05. August 2020 bei You Tube eingestellt externer Link ist ein CNN-Interview mit dem linken Aktivisten Jaad Chaban, worin er nochmals zusammenfassend begründet, warum er jeglicher Untersuchungstätigkeit der Regierung und ihrer Behörden keinerlei Vertrauen entgegen bringt und, wie viele andere mit ihm zusammen – unbedingt eine unabhängige Kommission arbeiten sehen will…

UPDATE vom 07. August 2020 New

„Das verfluchte Schiff“ von Bernhard Classen und Jannis Hagmann am 06. August 2020 in der taz online externer Link zum Schiff, das solange im Hafen lag unter anderem: „… Übereinstimmenden Angaben von Fabrikant und Juristen einer Anwaltskanzlei zufolge, die mit dem Fall befasst war, machte sich die „Rhosus“ im Herbst 2013 auf den Weg von Georgien nach Mosambik. Dort wartete eine Firma, die kommerzielle Sprengstoffe herstellt, auf das Ammoniumnitrat, wie die New York Times am Mittwoch berichtete. Der Schiffseigner, der Russe Igor Grechushkin aus Chabarowsk, hatte das Schiff erst ein Jahr zuvor gekauft. „Die,Rhosus‘ war sehr alt, aber sie fuhr noch“, erinnert sich Fabrikant. Allerdings sollte sie nie in Mosambik ankommen. Die „Rhosus“ „ist in Beirut gestrandet“, heißt es in einem auf Juli 2014 datierten Eintrag auf der Webseite des Unternehmens Fleetmon, das Positionsdaten und Bewegungen von Schiffen beobachtet. „Mit Ammoniumnitrat beladenes Schiff war für ein anderes Land bestimmt. Der Grund, warum sie Beirut anlief, ist unklar, möglicherweise für Lieferungen oder aufgrund mechanischer Probleme.“ In Beirut endete die Fahrt. Für immer. Für Teile der Besatzung aber begann ein Drama. Als die Seeleute 2013 das Schiff bestiegen, hatte sie niemand über schwere Mängel in Kenntnis gesetzt, berichtet Fabrikant. Auch dass die Vorgänger-Crew vom Eigner keinen Lohn erhalten hatte, sei ihnen nicht bekannt gewesen. „In Libanon wollten sie zunächst notwendige Reparaturen vornehmen lassen.“ Doch in Beirut habe die Mannschaft erkannt, dass Grechushkin zahlungsunfähig war und sich für sein Schiff nicht mehr zuständig fühlte. Fabrikants Schilderung deckt sich mit dem Fleetmonbericht, dem zufolge sowohl der Schiffseigner als auch der Besitzer des Ammoniumnitrats das Schiff mitsamt Ladung aufgegeben hatten. Für Teile der Crew war die Reise damit noch nicht beendet. „Die meisten Besatzungsmitglieder außer dem Kapitän und vier Besatzungsmitgliedern wurden repatriiert“, das heißt in die Heimat zurückgeführt, schrieben zwei JuristInnen des Anwalts-Netzwerks shiparrested.com, die noch 2015 mit dem Fall befasst waren. Die libanesischen Behörden hätten den verbliebenen Seeleuten erklärt, sie dürften das Schiff erst verlassen, wenn angefallene Liegegebühren beglichen seien, sagt Fabrikant. Die Seeleute saßen fest, fühlten sich wie „Geiseln“, wie Boris Prokoschew, russische Kapitän der „Rhosus“, es ausdrückte…“

„Macron auf Besuch in Beirut – die Libanesen sind semi-begeistert“ am 06. August 2020 im Twitter-Kanal von Antikalypse externer Link ist ein kurzes Video vom Empfang für Herrn Macron mit heftigen neuen Protesten – also von jenen Teilen des Empfangs, die in den „Lehrmeister“- Videos von Tagesschau und Co nicht zu sehen waren…

„Katastrophe mit Ansage: Im Hafen von Beirut herrscht die Korruption – und die Hisbollah“ von Martin Gehlen am 06. August 2020 in der FR online externer Link zur Situation im Hafen – und zu den aufkommenden neuen Protesten: „… Bis kommenden Montag gab Libanons Regierung der nationalen Untersuchungskommission Zeit, die Hintergründe aufzuklären. Sämtliche Verantwortliche des Hafens, die sich der Gefahr in Halle 12 seit Jahren bewusst waren, wurden unter Hausarrest gestellt. Sie alle gelten als hochkorrupt. Heimlicher Herrscher an den Kais ist die Hisbollah. Die Schmiergelder der Importeure machten den Beiruter Hafen zu einer der lukrativsten Einnahmequellen des Landes. Der Chef der Zollbehörde, Badri, reklamierte für sich in einem Fernsehinterview, zwischen 2014 und 2017 in sechs Briefen an die Justiz vor den Gefahren gewarnt und einen Export des Ammoniumnitrats, eine Übergabe an die Armee oder einen Verkauf an die private „Lebanese Explosives Company“ vorgeschlagen zu haben, ohne dass jemals eine Reaktion erfolgte. Seit Mittwoch werden die für Beirut bestimmten Schiffe zu dem wesentlich kleineren Hafen von Tripoli im Norden des Libanon umgeleitet. Nach Informationen der Zeitung „L´Orient – Le Jour“ hat dort unmittelbar nach dem Beiruter Unglück bereits der Streit zwischen den verschiedenen Clans begonnen, wie künftig die Schmiergelder für die Beirut-Container verteilt werden sollen. Wegen dieser allgegenwärtigen Korruption bezweifeln viele Libanesen, dass die ganze Wahrheit über Halle 12 jemals ans Tageslicht kommt. Er habe keine Ahnung, was das erste Feuer ausgelöst habe, sagte der Generaldirektor des Hafens, Hassan Koraytem, und fügte hinzu, es sei jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, nach Schuldigen zu suchen. „Wir leben in einer nationalen Katastrophe.“ Libanons Innenminister Mohammad Fahmy erklärte, man brauche bei den Ermittlungen keine Unterstützung internationaler Experten...“

„Tension in Beirut“ am 06. August 2020 im Twitter-Kanal von Lina Safwan externer Link ist ein kurzer Videobericht von neuen Protesten vor dem Parlament – inklusive Repressionsversuche durch die Behörden…

„Der lange Sturz des Libanon“ von Karin Leukefeld am 06. August 2020 in nd online externer Link skizziert die Geschichte des Landes kurz so: „… In einem Bericht des US-Generalkommandos von 1957 zu der Frage, ob man dem Libanon Militärhilfe leisten sollte, heißt es: »Der Libanon besitzt einen der besten Häfen und Kommunikationszentren an der Küste des östlichen Mittelmeers und eignet sich für Luftwaffenbasen.« Zudem würden die »meisten Ölpipelines, die das Öl vom Persischen Golf und aus dem Irak bringen, in Mittelmeerhäfen im Libanon enden«. 1958 eskalierte ein politischer Machtkampf im Land zum Bürgerkrieg und führte zu einer kurzzeitigen Invasion der USA. Die Zeit danach bis 1970 beschreibt Fawwaz Traboulsi, Professor für Geschichte und Politik an der Amerikanischen Universität in Beirut, in seiner »Geschichte des modernen Libanon« als eine Zeit, in der »die Unabhängigkeit des Staates« im Mittelpunkt steht. Es habe Verfassungsänderungen und politische Reformen gegeben, die weniger Bemittelten, zumeist ausgegrenzten Muslime der ländlichen Gebiete, die zahlenmäßig inzwischen die christliche Bevölkerung überholt hatten, seien mehr einbezogen worden. Der Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, einhergehend mit der israelischen Besatzung 1982, und ein weiterer Krieg mit Israel 2006 vertieften jedoch die zuvor im Hintergrund entstandenen Konflikte zwischen denen, die man heute im Libanon »die Eliten« nennt. Reiche Großfamilien, Landbesitzer, die für den Westen oder die Golfstaaten zuverlässige Ansprech- und Handelspartner waren, gewannen an Macht und wurden immer reicher. Konflikte entstanden dort, wo man keine Einigkeit über die politische Ausrichtung oder Wirtschaftsprojekte erzielen konnte. In diesem Klima entwickelten sich staatliche Strukturen, die Bildung und Gesundheit sowie Leben und Arbeiten der Bevölkerung verbessern sollten, nur dem Namen nach. Die besitzlose Bevölkerung folgte ihrer Religionsgruppe und den Eliten, um versorgt zu werden. Parallel zu Christen und Sunniten fanden die schiitischen Muslime in der Amal-Bewegung und der später entstandenen Hisbollah ihre Sponsoren. Vor dem Krieg in Syrien stabilisierte sich die wirtschaftliche Lage in der Region. Mit Beginn des Krieges 2011 wurde der Libanon vor eine Zerreißprobe gestellt. Die inneren Konflikte nahmen zu, die »Eliten« um die westlich orientierten Großfamilien und um Saad Hariri unterstützten die bewaffneten Regierungsgegner in Syrien und wurden dabei wiederum von Europa, den USA und den Golfstaaten unterstützt. Die libanesische Hisbollah und ihre Anhänger stellten sich auf die Seite der syrischen Regierung. Mit Hilfe des Iran und Russlands konnte Syrien weite Teile des Landes wieder unter Kontrolle bringen...“

„Libanon: Im Zangengriff der Krisen“ von Inga Hofmann in der Ausgabe Juli 2020 der Blätter externer Link zu Wirtschaftskrise und Epidemie und ihrer gemeinsamen Wirkung unter anderem: „… Anders als die Regierung erkannte die Mehrheit der Libanes*innen frühzeitig den Ernst der Lage. Viele Menschen begaben sich anfangs freiwillig in Isolation, zugleich aber flammten im April die überregionalen Proteste, die auch wegen der landesweiten Ausgangsbeschränkungen vorübergehend zum Erliegen gekommen waren, wieder auf. Vom schiitisch geprägten Süden bis in den sunnitischen Norden des Landes prangerten die Menschen auf den Straßen und Plätzen die Versäumnisse der Regierung sowie die zunehmend desaströse Wirtschaftslage an. Um den nötigen Mindestabstand einhalten zu können, protestierten zahlreiche Libanes*innen in ihren Autos. Anstelle der ansonsten omnipräsenten Parteiflaggen schwenkten die Demonstrierenden vor allem die Zedernflagge – das Nationalsymbol des Libanon. Die anfangs friedlichen Proteste drohen jedoch zu kippen: Vor allem in Tripoli im Norden des Landes kam es in den vergangenen Wochen wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und staatlichen Sicherheitskräften. Tripoli zählt zu den ärmsten Regionen des Mittelmeerraumes und wies bereits im vergangenen Jahr eine Arbeitslosenquote von über 50 Prozent auf. Bei den Protesten setzten Demonstrierende auch Bankfilialen in Brand. Ihre Unzufriedenheit richtete sich zunehmend gegen die libanesischen Geldhäuser, die aus ihrer Sicht maßgeblich für den drohenden Staatsbankrott verantwortlich sind. Seit Ende des Bürgerkrieges ist der Wechselkurs des libanesischen Pfunds an den US-Dollar gekoppelt. Dies soll eigentlich Investitionen aus dem Ausland erleichtern. Da der Libanon aber den Großteil der im Land konsumierten Güter importiert und diese in Dollar bezahlt, musste die libanesische Zentralbank über Jahrzehnte Devisen bei den libanesischen Banken einkaufen. Das Ergebnis ist ein kleptokratisches Schneeballsystem, von dem einzig und allein die eng mit dem Bankensektor verflochtene politische Klasse profitiert. Die Bevölkerung hingegen hat nun einmal mehr das Nachsehen. Denn um die derzeit fortschreitende Dollarknappheit einzudämmen, haben viele Banken Geldabhebungen in der US-Währung begrenzt. Zugleich ist das libanesische Pfund in den vergangenen Monaten um mehr als die Hälfte im Wert gesunken. Da der Libanon den Großteil seiner Lebensmittel und Medikamente importiert, sind zudem die Preise einiger Güter – wie etwa Zucker, Bohnen und Zigaretten – allein seit März um mehr als 50 Prozent angestiegen. Gleichzeitig verlieren infolge der Inflation vor allem Mittelschichtsangehörige große Teile ihrer Ersparnisse; viele Libanes*innen erhalten zudem seit Wochen keinen Lohn mehr. Ein Großteil der Bevölkerung kann daher nicht einmal Grundnahrungsmittel kaufen. Die wachsende Not treibt sie – trotz der weiterhin bestehenden Ausgangssperren – wieder auf die Straßen, wo ihr Protestruf „Der Hunger ist schlimmer als das Coronavirus!“ erschallt. Ihnen schließen sich die Studierenden an. Sie kritisieren vor allem das teure Bildungssystem: Regulär liegen die Studiengebühren bereits bei rund 9000 US-Dollar pro Semester, infolge der Inflation sind sie an vielen Universitäten aber noch weiter angestiegen. Staatliche Unterstützung gibt es keine, und ob man nach dem Studium einen Arbeitsplatz erhält, ist ebenfalls alles andere als sicher. Denn die Arbeitslosenquote lag schon vor der Coronakrise bei über 25 Prozent und ist in den vergangenen Monaten drastisch angestiegen: Aktuell sind 75 Prozent der Bevölkerung auf staatliche Unterstützung angewiesen, weil ihr Einkommen nicht zum Überleben reicht...“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=176431
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