[ak-Gewerkschaftsdebatte] Für eine sinnvolle Diskussion über Gewerkschaften

[Buch] Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und NeoliberalismusLinke Gewerkschaftskritik operiert oft mit fatalen Verkürzungen. Dabei wäre es für eine radikale Klassenpolitik wichtig, die Handlungslogik von Gewerkschaften zu begreifen. In ak 652 und 656 hat Christian Frings eine Gewerkschaftskritik formuliert und damit eine Diskussion über Sinn und Unsinn der Arbeit in Gewerkschaften ausgelöst. (Siehe Kasten) Frings zufolge schadet diese Arbeit dem Klassenkampf; die Rolle der Gewerkschaften vergleicht er mit der von Staat, Polizei, Justiz und Unternehmen. Doch damit blendet er die Widersprüche des Klassenkampfs unter den bestehenden Kräfteverhältnissen aus und reduziert sie auf einen simplen Widerspruch zwischen den ins Kapitalverhältnis integrierten Gewerkschaften und dem stets zum Kampf bereiten autonomen Proletariat. So geraten nicht nur nur die Möglichkeiten für emanzipatorische Gewerkschaftsarbeit aus dem Blick, auch die Herausforderungen für eine kämpferische Klassenpolitik insgesamt werden unkenntlich…“ Artikel von Kalle Kunkel aus ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis – Nr. 660 vom 19.5.2020 – sowie als Hintergrund auch der Artikel von Christian Frings aus dem ak 656 – wir danken der Redaktion!

Für eine sinnvolle Diskussion über Gewerkschaften.

Linke Gewerkschaftskritik operiert oft mit fatalen Verkürzungen. Dabei wäre es für eine radikale Klassenpolitik wichtig, die Handlungslogik von Gewerkschaften zu begreifen

In ak 652 und 656 hat Christian Frings eine Gewerkschaftskritik formuliert und damit eine Diskussion über Sinn und Unsinn der Arbeit in Gewerkschaften ausgelöst. (Siehe Kasten) Frings zufolge schadet diese Arbeit dem Klassenkampf; die Rolle der Gewerkschaften vergleicht er mit der von Staat, Polizei, Justiz und Unternehmen. Doch damit blendet er die Widersprüche des Klassenkampfs unter den bestehenden Kräfteverhältnissen aus und reduziert sie auf einen simplen Widerspruch zwischen den ins Kapitalverhältnis integrierten Gewerkschaften und dem stets zum Kampf bereiten autonomen Proletariat. So geraten nicht nur nur die Möglichkeiten für emanzipatorische Gewerkschaftsarbeit aus dem Blick, auch die Herausforderungen für eine kämpferische Klassenpolitik insgesamt werden unkenntlich.

Um die »Wesenszüge« der Gewerkschaften in der Klassengesellschaft zu bestimmen, betont Christian Frings drei Punkte: Erstens seien Gewerkschaften kein Produkt der Organisierung der Arbeiterklasse, sondern des »Tarifvertrags« (so in seinem Artikel im Sammelband »Neue Klassenpolitik«), mithin »halbstaatliche Organisationen« (ak 652). Sie seien zweitens geleitet von der Ideologie, Profit sei nicht in der Ausbeutung begründet, sondern der gerechte Anteil vom Kuchen für das Kapital. Der Sinn der Gewerkschaften sei deshalb drittens die Befriedung von Klassenkämpfen. Arbeitskämpfe – wenn sie denn mal geführt werden – hätten nur den Sinn, die Integrationskraft der Gewerkschaften zu stärken, indem von Zeit zu Zeit eine »kämpferische Haltung« herausgekehrt werde.

Korporatismus und Gewerkschaften

Ausgangspunkt für Frings‘ Argumentation ist die Tatsache, dass Staat und Kapital ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert und verstärkt mit dem Ersten Weltkrieg die organisierte Arbeiterbewegung nicht nur als politische Realität anerkennen, sondern sie in die Modernisierung kapitalistischer Herrschaft einbinden mussten. In den Gewerkschaften war die Frage, wie auf diese Einbindung zu reagieren sei, umkämpft. Es setzten sich jedoch spätestens mit der »Burgfrieden-Politik« im Ersten Weltkrieg die Fraktionen durch, die die Einbindung der Gewerkschaften – im Tausch für relativen sozialen Frieden – befürworteten.

Im frühen Operaismus (1) wurde diese neue Form der demokratischen Einbindung (hier bezogen auf die Modernisierung parlamentarischer Herrschaft) als eine »politische Institutionalisierung des gesellschaftlichen Kampfes« beschrieben, die gerade dadurch für den Kapitalismus produktiv werde, dass »Konflikte und ihre Ursachen anerkannt und nicht unterdrückt werden«. (2) Der Kern des Korporatismus ist nicht die Leugnung gesellschaftlicher Konflikte, sondern ihre Anerkennung, um Regeln und Verfahren zu ihrer Bearbeitung schaffen zu können. Die Einbindung der Gewerkschaften beruht auf ihrer Anerkennung als Verhandlungspartnerinnen, auf Zugängen zu politischen und betrieblichen Entscheidungsebenen und vor allem auf rechtlich verankerten Machtressourcen: Arbeitsschutzrechte, Organisationsrechte, Legalisierung des Streiks etc.

Diese Rechte haben immer einen Doppelcharakter, weil sie mit einer Verregelung der Art und Weise einhergehen, wie Konflikte geführt werden dürfen. Hierzu gehört die Bestimmung legaler Streikziele (zum Beispiel Streik für mehr Lohn ja, politischer Streik nein), Regeln für gewerkschaftliche Aktivitäten im Betrieb, Verrechtlichung von Konflikten und vieles mehr. Es ist das Wesen dieser Einbindung, dass sie für Gewerkschaften und Beschäftigte spezifische Formen von Ermächtigungen schafft, deren Nutzung aber zugleich einen Druck erzeugt, die gesetzten Regeln anzuerkennen.

Es ist jedoch nicht so, dass die Gewerkschaften damit – wie Frings behauptet – »als die exklusiven Vertreter der lohnarbeitenden Menschen anerkannt« worden wären. (ak 652) Im Gegenteil lebt gerade das deutsche System der Arbeitsbeziehungen von bewusst gesetzten Spaltungen, die entsprechend umkämpft waren: So wurden Betriebsräte gegen den Widerstand der Gewerkschaften als betriebliche Institutionen geschaffen; ihre Legitimation und ihre Machtressourcen sind unabhängig von den Gewerkschaften. Ebenso war die Vertretung der Gewerkschaften in den Aufsichtsräten umkämpft: Das Kapital wollte unbedingt verhindern, dass die gewerkschaftlichen Vertreter*innen nur gegenüber der überbetriebliche Institution Gewerkschaft legitimationspflichtig sind. Es war die Kapitalseite, die durchsetzte, dass die Gewerkschafter*innen im Aufsichtsrat von den Beschäftigten des Betriebs gewählt werden müssen. Man erhoffte sich eine höhere Verpflichtung der gewerkschaftlichen Aufsichtsratsvertreter*innen auf das »Betriebswohl«, wenn sie von denen gewählt werden, deren Arbeitsplätze am »Betriebswohl« hängen.

Einbindung und Klassenkampf

Frings zieht aus der Einbindung der Gewerkschaften den Schluss, dass die Gewerkschaften in ihrem »Wesen« gar keine eigenständigen Organisationen seien, sondern ein Produkt der Anerkennung durch Staat und Kapital – und somit eigentlich nur »Charaktermasken« dieses Arrangements.

Doch das ist ein Griff in die strukturalistische Mottenkiste. In den theoretischen Diskussionen um den Strukturalismus wurde viel Energie dafür aufgewendet, die Wechselwirkung von Struktur, Handlung, Subjektivität und Autonomie besser zu verstehen. Für die Diskussion über den Charakter der Gewerkschaften ergeben sich drei wesentlich Schlussfolgerungen: Akteure sind erstens nie einfach Produkte von Strukturen, sondern agieren in diesen »eigensinnig«. Gesellschaftliche Strukturen entwickeln sich zweitens zwar hinter dem Rücken der Akteure, werden jedoch nur durch deren Handeln reproduziert. Daraus ergibt sich die Fähigkeit, die Strukturen zu verändern. Die strukturellen Zwänge sind drittens nicht einheitlich. Gesellschaftliche Akteure müssen vielmehr als Knotenpunkte widersprüchlicher Strukturen und Zwänge (im Fall der Gewerkschaften etwa, dass Betriebsnähe demokratisch ist und einbindend wirken kann) verstanden werden.

All dies lässt Frings für die Gewerkschaften nicht gelten: Sie sind für ihn keine Akteure, in denen umkämpft sein kann, wie sie sich auf einem Feld bewegen, das durch bestimmte Spielregeln geprägt wird. Nein: Sie sind ausschließlich Produkt dieser Spielregeln. Kein Konfliktgegenüber des Kapitals, sondern ausschließlich das Instrument für die Einbindung der autonomen Arbeiterklasse in das Ausbeutungsverhältnis.

Dementsprechend wird im Panorama von Frings die Arbeiterklasse auch nur von der Einbindung durch die Gewerkschaften davon abgehalten, ihrer »offenen Feindschaft« gegen das Kapital »jederzeit in wilden Streiks und Riots« Ausdruck zu verleihen. (ak 656) Man fragt sich bei solchen Vorstellungen, wo dann all die ausgebrannten Büros von Reinigungsfirmen, Altenpflegeeinrichtungen und anderen Betrieben sind, in denen die Gewerkschaft nicht verankert ist.

Warum die Gewerkschaften so agieren, kann man laut Frings in Marx‘ Hauptwerk »Das Kapital« nachlesen, genauer: im letzten Kapitel des dritten Bandes. Die Gewerkschaften glauben, so Frings, an die »trinitarische Formel« – Marx‘ Erklärung dafür, warum in der Gesellschaft notwendig das falsche Bewusstsein entsteht, dass Profite nicht aus Ausbeutung entstehen, sondern der angemessene Ertrag der Unternehmer*innen für den Einsatz des Produktionsfaktors Kapital sind: »In der Sprache der Gewerkschaften heißt das heute produktivitätsorientierte Lohnpolitik – die Beschäftigten sollen gerecht an der gesteigerten Produktivität beteiligt werden.« (ak 652)

Alles falsches Bewusstsein

Bei den Gewerkschaften liege also ein falsches Gerechtigkeitsverständnis vor. Deshalb beteiligten sie sich an der Verschleierung der Ausbeutung im Lohnverhältnis. Mit diesem Erklärungsmodell wird eine gesellschaftliche Praxis aus einem falschen Bewusstsein abgeleitet, statt umgekehrt. Strukturalismus trifft auf Idealismus. Indem Frings in der ideologischen Verblendung der Gewerkschaften die Wurzel allen Übels entdeckt, umschifft er das zentrale Dilemma von Klassenpolitik in Zeiten, in denen die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht unmittelbar auf der Tagesordnung steht.So weist Frings darauf hin, dass auch die Gewerkschaft ein Interesse haben muss, dass der Unternehmer den »Lohnabhängigen ausbeuten kann«. In der Tat: Gewerkschaften, die einen möglichst hohen Preis der Ware Arbeitskraft durchsetzen wollen, sind unter den gegebenen Bedingungen auf funktionierende kapitalistische Akkumulation angewiesen, sowohl im einzelnen Betrieb wie auch gesamtgesellschaftlich.

Dieses Interesse ergibt sich jedoch nicht aus irgendwelchen ideologischen Verirrungen, sondern aus der widersprüchlichen Interessenkonstellation der abhängig Beschäftigten selbst. Denn solange der Verkauf ihrer Arbeitskraft ihre einzige Einkommensquelle ist, haben auch die abhängig Beschäftigten ein Interesse an ihrer eigenen Ausbeutung, die sie zugleich in all ihren Dimensionen (körperlich, psychisch, zeitlich etc.) so weit wie möglich begrenzen und in ihren Auswirkungen bekämpfen wollen. Es kommt daher nicht selten vor, dass Gewerkschaften mit Belegschaften über Kreuz liegen, weil letztere einen Absenkungstarifvertrag befürworten, damit sie weiter ausgebeutet werden können, und erstere sich damit schwertun, um die Tarifverträge vor Unterhöhlung zu schützen.

Dieser Widerspruch ist der Ausgangspunkt für die Einbindungsfähigkeit des Kapitals gegenüber der lebendigen Arbeit. Sie ist auch der Ausgangspunkt für den Doppelcharakter der Gewerkschaften als »Konflikt-Partner« (Walther Müller-Jentsch) (3), den Frings negiert.

Welche Rolle kann die Praxis in den Gewerkschaften bei der Konstitution von Klassenbewusstsein und der Entwicklung von Konflikterfahrung für abhängig Beschäftigte spielen? Um die Gewerkschaften als wesentlichen Raum zu verstehen, in dem diese Erfahrungen gemacht werden, ist es sinnvoll, diese in Anlehnung an Nicos Poulantzas‘ berühmte Formulierung vom Staat als Verdichtung von Kräfteverhältnissen zu begreifen, die auf mindestens vier Ebenen von widersprüchlichen Logiken geprägt sind:

  1. Der Kampf um den Anteil am kapitalistischen Kuchen setzt den Kuchen voraus. Die Gewerkschaften wie auch die Beschäftigten können in ihren konkreten Auseinandersetzungen von der wirtschaftlichen Situation ihre Betriebe oder Branchen nicht abstrahieren. Schon diese sehr grundsätzliche Bestimmung kann jedoch in unterschiedlichen Bereichen sehr unterschiedliche Konsequenzen für eine emanzipatorische Gewerkschaftspolitik haben. So kann in den Auseinandersetzungen um den öffentlichen Dienst das Mitdenken der finanziellen Situation des Konfliktgegenübers auch zu einer Politisierung der Auseinandersetzung führen, weil damit immer Fragen der Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge berührt werden.
    In den Exportbranchen dagegen, in denen die Beschäftigten (!) durchaus, zumindest materiell, von der Einbindung in das Exportmodells des deutschen Kapitals profitieren, ist dieser Widerspruch sehr viel schwerer emanzipatorisch aufzulösen. Hier stellt sich die Frage, ob Konflikte jenseits finanzieller Interessen politisierbar sind, wie Kämpfe um Zeit und Arbeitsbedingungen oder auch die Notwendigkeit der Konversion hin zu einer gesellschaftlich sinnvolleren Produktion. Eine Diskussion, zu der aktuell erste zaghafte Ansätze erkennbar sind.
  2. Die oben beschriebenen Einbindungsformen sind nicht einfach Formen der korporatistischen Korrumpierung. Sie funktionieren, weil sie den Beschäftigten institutionalisierte Machtressourcen im Tausch für eine verregelte Austragung von Konflikten bieten. Das nimmt eine große Portion Unsicherheit aus der eigentlich grundsätzlichen Prekarität der Lohnarbeiterexistenz. Eine Ausrichtung auf Konflikte mit ungewissem Ausgang muss daher begründen können, warum darüber mehr zu erreichen ist als in den institutionalisierten Formen, die durch die Konfliktorientierung immer auch gefährdet werden.
  3. Die Gewerkschaften haben auf die politisch bewusst herbeigeführte institutionelle Trennung von Gewerkschaften und Betriebsräten reagiert, indem sie versuchen, die Betriebsräte an sich zu binden. Damit sind die Gewerkschaften vor allem in ihren ehrenamtlichen Gremien zu einer Betriebsräteorganisation geworden. Die Betriebsräte haben jedoch als gesetzliche Institution (unabhängig vom politischen Bewusstsein der Menschen) eine betrieblich geprägte Perspektive. Dies kann einerseits emanzipatorisch sein, weil es für eine enge Anbindung an die Belegschaft sorgt. Es ist andererseits in Widerspruch geraten zu überbetrieblichen Solidaritätserfordernissen: Betriebsräte sind leichter erpressbar mit dem wirtschaftliche »Wohl« des einzelnen Betriebs.
  4. Die Gewerkschaften haben formale demokratische Strukturen. Sie sind zugleich stark von einem großen hauptamtlichen Apparat geprägt, der ein wesentliches Element ihrer Handlungsfähigkeit als Organisationen ist. Gerade in zugespitzten Konfliktsituationen können die Hauptamtlichen durch ihre operative Verantwortung das Handeln der Gewerkschaft prägen. Diese Situation erzeugt beständige Aushandlungsprozesse (und Konflikte) über das Maß an demokratischer Legitimation des Organisationshandelns. Dies wird dadurch noch verstärkt, dass die oben beschriebenen Einbindung häufig über die hauptamtlichen Funktionär*innen erfolgt. Sie tragen den Widerspruch der »Konflikt-Partnerschaft« als beständigen Widerspruch in ihren persönlichen Handlungsanforderungen mit sich herum. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass es nicht einfach ist, in diesem Widerspruch immer gradlinig zu bleiben.

Die Gewerkschaften sind also geprägt durch den Widerspruch von Einbindung und Konflikt im real existierenden Kapitalismus. Sie sind damit ein komplizierter, aber zentraler Akteur der Klassenpolitik in Deutschland. Statt gewerkschaftliche Politik pauschal zu verdammen, kommt es darauf an, die Handlungsbedingungen von Gewerkschaften zu verstehen – und eine Auseinandersetzung darüber zu führen, wie eine progressive Strategie für den Kampf im Kapitalverhältnis wie auch darüber hinaus entwickelt werden kann.

Artikel von Kalle Kunkel aus ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis externer Link – Nr. 660 vom 19.5.2020

Kalle Kunkel hat als Gewerkschaftssekretär gearbeitet, macht aber aktuell eine Lohnarbeitspause, um die Kämpfe in den Krankenhäusern theoretisch zu bearbeiten.

Anmerkungen:

1) Als Operaismus bezeichnet man eine antiautoritäre theoretische Strömung und soziale Bewegung, die in den 1960er Jahren in den Fabriken Norditaliens entstand und von der Annahme ausging, dass die Arbeitsbedingungen und die Position der Arbeiter (Operaio = Arbeiter) in der betrieblichen Hierarchie entscheidenden Einfluss auf die Kampfbereitschaft und Kampfformen und die Entstehung des Klassenbewusstseins haben.

2) So Massimo Cacciari in seinem 1972 erschienenen Text »Zum Problem der Organisation in Deutschland«.

3) Dieser für die kritische Analyse sinnvolle Begriff hat leider in den letzten Jahren eine affirmative Wendung erfahren, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann.

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Kasten: Gewerkschaftsdiskussion in ak

In ak 651 plädierte Torsten Bewernitz dafür, dass sich Syndikalist*innen mehr für die DGB-Gewerkschaften interessieren sollten. In ak 652 antwortete Christian Frings, dass Linke in den Gewerkschaften nichts gewinnen könnten externer Link. In ak 654 widersprach Nelli Tügel und betonte die anhaltende Bedeutung der Gewerkschaften als Werkzeug der in ihr zusammengeschlossenen Lohnabhängigen. Gabriel Kuhn erklärte in ak 655, Gewerkschaften seien ein Mittel zum Zweck (des Klassenkampfes), das Linke nutzen müssten, ohne allzu große Illusionen in sie zu hegen. Christian Frings präzisierte daraufhin in ak 656 seine Gewerkschaftskritik und argumentierte, dass Gewerkschaften strukturell zum Korporatismus neigen, sich in einer nationalen Logik bewegen würden und für internationale Solidarität unbrauchbar seien. [LabourNet Germany meint: Ein Abo des ak externer Link lohnt sich immer!]

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Einmischen in den Klassenkampf! Aber wie?

Die globale Revolte braucht keine Lohngruppen und keinen Tarifvertrag

Auf meinen Versuch einer theoretischen Kritik der mit Gewerkschaften unvermeidlich verbundenen Sozialpartnerschaft (ak 652) haben Nelli Tügel (ak 654) und Gabriel Kuhn (ak 655) geantwortet, sie plädieren für ein Engagement in den etablierten Gewerkschaften. Gleichzeitig entwickelt sich eine Diskussion um die eskalierende globale Welle von Aufständen und die Frage, was sie mit dem Klassenkampf zu tun hat. Mario Neumann warnt vor einem Rückfall in »Klassenkampfnostalgie«, die er nicht ganz zu Unrecht mit der traditionellen »gewerkschaftlichen und betrieblichen Begrenzung« gleichsetzt und der er die revolutionären Dimensionen der Aufstände vom Irak bis Chile entgegenstellt. (ak 654) Worauf Nelli Tügel betont, dass auch die traditionellen Organisationsformen von Partei und Gewerkschaften noch einiges zu bieten hätten, wie z.B. die jüngsten Erfahrungen in den USA zeigen würden. (ak 655)

Die sich heute wieder ganz praktisch aufdrängende globale Dimension des Klassenkampfs, die mit dem Abschied von der Arbeiterklasse nach 1980 in der Linken in den Hintergrund getreten war, ist hilfreich, um einige der von mir angesprochenen Punkte der Gewerkschaftskritik zu verdeutlichen. Denn in den Plädoyers von Tügel und Kuhn für die Arbeit in den Gewerkschaften bleibt ausgeblendet, dass die von mir skizzierte rechtlich-staatliche Einbindung der Gewerkschaften mit einem strukturellen Nationalismus dieser Organisationsform verbunden ist, der sich durch noch so viele internationalistische Appelle nicht überwinden lässt.

Akademisierte Linke

Doch zunächst zu einem Missverständnis, das mir bei Tügel vorzuliegen scheint. Ihr Drängen darauf, uns in betriebliche Konflikte und Streiks einzumischen, klingt so, als hätte ich mit meiner Kritik einer »unter radikalen Linken« verbreiteten »Haltung« – nämlich sich von Arbeiterkämpfen fernzuhalten – eine theoretische Begründung geben wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Das größte Problem der aktuellen Diskussion um eine »neue Klassenpolitik« besteht darin, dass die »Linke« heute sehr viel stärker als in den 1970er-Jahren akademisch geprägt und im Wissenschafts- und Kulturbetrieb tätig ist. Kaum jemand geht noch selbst in die Fabrik, ins Krankenhaus, ins Call-Center oder einen Logistik-Betrieb, um sich an Klassenkämpfen zu beteiligen.

Streiks werden nur aus der Ferne beobachtet, und wenn sich einzelne doch mal an den Streikposten verirren, lassen sie sich ohne eine gewisse Hartnäckigkeit von den dort anzutreffenden Arbeiter*innen abwimmeln und an den Gewerkschaftssekretär bzw. die Gewerkschaftssekretärin verweisen. Ein französischer Industriesoziologe hat es mal schön formuliert: Die sicherste Methode, um nicht zu verstehen, worum es bei einem Streik wirklich geht, sei es, nach den offiziellen Streikzielen zu fragen. Eben die wird dir der Sekretär bzw. die Sekretärin in all ihrer tarifrechtlichen Kompliziertheit erzählen. Die Motive der Beteiligten können völlig andere sein: endlich mal den Bossen zeigen, dass wir auch noch Macht haben; auf neue Weise mit den Kolleg*innen in Kontakt kommen; einfach mal die quälende Tretmühle der Arbeit stoppen; Stärke für den unvermeidlichen innerbetrieblichen Konflikt nach dem Streik aufbauen – vielleicht auch die eigene Gewerkschaft mit Aktionen unter Druck setzen.

All das wirst du nie erfahren, wenn aus purer Bequemlichkeit und wegen der kulturellen Distanz, die bis zur Sprachlosigkeit zwischen »bildungsfernen« Arbeiter*innen und akademischer Linker reicht, der Kontakt nur über die Gewerkschaft läuft. Gerade die Veränderung der »Selbst- und Fremdbezüge«, die sich im Streik »herstellen können« (Tügel), würden wir dann mit großer Wahrscheinlichkeit verpassen. Aus diesem Grund plädiere ich für mehr theoretische Klarheit über das widersprüchliche Verhältnis zwischen emanzipatorischen Kämpfen und der gewerkschaftlichen Integration und Repräsentation des Klassenantagonismus.

Begrenzter Klassenkampf

Im Konflikt im Betrieb, in dem wir einen großen Teil unseres Lebens verbringen und ausgebeutet werden, geht es immer um Alles – die gesamten Dimensionen der Unterdrückung, Erniedrigung, der Verletzung unserer Körper und Seelen und des Raubs an unserer Lebenszeit. Der Konflikt um die Ausbeutung findet täglich statt, mal in offener, meistens aber in verdeckten und widersprüchlichen Formen. Mit dem zunehmend kooperativen, arbeitsteiligen und technisierten Charakter der kapitalistischen Produktionsweise wird dieser alltägliche Konflikt jedoch zu einem immer größeren Störfaktor für die Kapitalverwertung. Den grundlegenden Ansatzpunkt für seine Eindämmung bietet die mystifizierende Form des Lohns – durch die Illusion, dass wir unsere Arbeit und nicht lediglich unsere Arbeitskraft verkaufen, verschwindet die Ausbeutung. Die für die Stabilität des Kapitalismus so wichtige Trennung von »Ökonomie« und »Politik«, organisatorisch in der Trennung von Gewerkschaft und Partei fixiert, grenzt den Klassenkampf auf die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft, also die Regulierung eines scheinbar reinen Vertragsverhältnisses ein.

Massengewerkschaften wurden ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, in Westeuropa nach der großen unorganisierten Streikwelle von 1889 bis 1991, zu staatlich befestigten Repräsentationsformen, weil das Kapital in den hochentwickelten imperialen Industrienationen auf den alltäglichen Frieden in seinen Produktionszentren angewiesen war. Dass ausgerechnet Gewerkschaften die Orte sein sollen, an denen die Voraussetzungen für Streiks entstehen, wie Tügel schreibt, geht völlig an den historischen Erfahrungen vorbei und widerspricht auch der aktuellen Situation. Im internationalen Vergleich sind die Länder mit dem höchsten gewerkschaftlichen Organisationsgrad tendenziell auch die mit den niedrigsten Streikraten. Zu Beginn ihrer Entwicklung zu Massenorganisationen in den 1890er-Jahren wurden sie daher auch als »Streikverhinderungsvereine« bezeichnet. Wenn Gabriel Kuhn schreibt, wir müssten uns auf die großen Gewerkschaften wegen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel beziehen, bleibt die Frage offen: Mittel wofür? Für die Entwicklung des radikalen Klassenkampfs – oder für seine Eindämmung?

Der Prozess der Befestigung und Integration der Gewerkschaften, den Soziolog*innen als die »Institutionalisierung des Klassenantagonismus« (Theodor Geiger) bezeichnet haben, war zunächst kompliziert und langwierig. Wie sollte die offene Feindschaft zwischen zwei Klassen, die jederzeit in wilden Streiks und Riots eskalieren konnte, in einer vom Staat sanktionierten Form eingehegt werden? Welche Institutionen wie Arbeitsrecht, Arbeitsgerichtsbarkeit, betriebliche Mitbestimmung oder Gewerbeaufsicht mussten überhaupt erst geschaffen werden, um den Klassenkampf entpolitisieren zu können? Und welcher vielfältigen sozialstaatlichen Institutionen bedurfte es, um die großen existenziellen Fragen der Lohnarbeit wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Kinderschutz und Alter aus dem Klassenkampf durch ihre Verrechtlichung herauszuhalten? Solange alle diese Fragen offen blieben, entwickelten sich die Kämpfe und Organisierungsversuche noch in verschiedene Richtungen.

Anarchosyndikalistische und unionistische Organisationen

Die Zeit der Herausbildung von integrationswilligen Massengewerkschaften war international zugleich die Blütezeit anarchosyndikalistischer und unionistischer, also die strikte Trennung von »ökonomischem« und »politischem« Kampf ablehnender Organisationen in den zwei ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Stärker als auf Tarifverhandlungen setzten sie auf die direkte Aktion im Arbeitsalltag; der in das Räderwerk der kapitalistischen Produktion geworfene Holzschuh (le sabot), die Sabotage der Produktion, wurde zu ihrem Markenzeichen. Als eine der herausragendsten dieser Organisationen gelten die Wobblies, die Industrial Workers of the World (IWW) in den USA, die zwischen 1905 und 1918 einen frischen Wind in die Klassenkämpfe brachten und daher noch heute für viele inspirierend wirken. Aber auch in diesem Fall militanter Klassenkämpfe wird in der Regel das Verhältnis von Organisierung und Basismilitanz falsch verstanden. Als einer der berühmtesten Streiks der Wobblies gilt die zwei Monate dauernde Arbeitsniederlegung von Textilarbeiter*innen in der Industriestadt Lawrence, Massachusetts, die am 11. Januar 1912 begann. Bis zu zwanzigtausend überwiegend weibliche Arbeiterinnen, die aus vierzig verschiedenen Nationen stammten, beteiligten sich an dem Streik, der den Song »Brot und Rosen« berühmt machte. Wie die feministische Historikerin Ardis Cameron in ihrer großartigen Studie »Radicals of the Worst Sort. Laboring Women in Lawrence, Massachusetts, 1860-1912« (1995) aus den Archiven rekonstruiert, war die tragende Kraft dieses Streiks nicht die formale Organisierung, sondern das informelle Netzwerk der Frauen in den proletarischen Quartieren, in denen sie die betrieblichen und ethnischen Spaltungen überwinden konnten. Nur wenige der streikenden Frauen waren Mitglieder der Wobblies. Von außen und im Nachhinein sieht es dann natürlich so aus, als habe die formale Organisation den Streik herbeigeführt und vorangetrieben, weil sie als Sprecher auftrat und schriftliche Dokumente hinterließ – »die im Dunkeln sieht man nicht«.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass syndikalistische Strömungen in Deutschland nur einen marginalen Einfluss hatten. Denn mit den Bismarckschen Reformen wurde hier trotz aller Revolutionsrhetorik schon sehr früh ein sozialstaatlicher Kompromiss zwischen organisierter Arbeiterbewegung und bürgerlichem Staat gefunden. Dieses, vom Standpunkt des Kapitals aus teure, aber äußerst produktive Regulierungsmodell wurde nach dem 1. und vor allem nach dem 2. Weltkrieg in unterschiedlichen Formen von den Industrieländern übernommen und durch Institutionen wie die mit dem Versailler Friedensvertrag geschaffene Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zum Standard erklärt – selbstredend nur für die imperialen Nationen im kapitalistischen Weltsystem. Trotz aller Verschiebungen im Grad der Tarifbindung oder dem Organisationsgrad der Gewerkschaften, auf die Tügel verweist, ist nach wie vor diese »Institutionalisierung des Klassenantagonismus« durch den nationalen Staat prägend für die Einhegung des Klassenkampfs. Nicht die Gewerkschaften selbst sichern die Einhaltung von Tarifverträgen, sondern nationale Gerichte. Sinkt die Tarifbindung zu stark, dann wird eben ein staatlicher Mindestlohn eingeführt.

Krisenkorporatismus statt Radikalisierung

Auf die Krise von 2007/2008 reagierten die DGB-Gewerkschaften mit einer stärkeren Hinwendung zum Korporatismus, keineswegs mit einer Radikalisierung, wie sich manche erhofften. Dass Gewerkschaften aus Gründen der Mitgliederwerbung auch schon mal mit »innovativen« Formen der Beteiligung oder des »organizing« experimentieren, ist historisch überhaupt nichts Neues und ändert nichts daran, dass sie in ihrer ganzen Existenz auf die Absicherung durch den nationalen Staat und sein nationales Recht angewiesen sind. Einen gewerkschaftlichen Internationalismus kann es daher strukturell nicht geben. Einen wirklichen Bezug der Kämpfe in den Metropolen auf die aktuelle Welle globaler Revolten wird es nur dann geben, wenn sie auch hier aus den verkrusteten Formen der gewerkschaftlichen Befriedung ausbrechen – wie es vielleicht ansatzweise in Frankreich geschehen ist. Ohne die Militanz der Gelbwesten-Bewegung im letzten Jahr, die auch als Reaktion auf das Ausbleiben erfolgreicher gewerkschaftlicher Kämpfe entstanden ist, wäre es kaum zu dem jetzigen Streik gekommen, der das Land immer noch in Atem hält.

Artikel von Christian Frings aus ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis externer Link – Nr. 656 vom 21.1.2020

Christian Frings ist Hausbesetzer, Übersetzer und Autor in der Tradition des rheinischen Radikalismus.

Siehe von ihm zuvor:

  • Sozialpartnerschaft ist kein Betriebsunfall. Das Ambivalente an den Gewerkschaften gehört zur Ordnungsfunktion, die diese im Kapitalismus ausüben
    Vorab: Mit meinen Ausführungen will ich ganz bewusst vermeiden und davor warnen, dass wir uns auf sinnlose und erhitzte Polemiken für oder gegen Gewerkschaften einlassen. Ich will zunächst erst einmal ganz nüchtern verstehen, was Gewerkschaften sind und wie sich ihre Wesenszüge im Zusammenhang von kapitalistischer Klassengesellschaft erklären lassen. Nur wenn wir diese Zusammenhänge verstehen, können wir sinnvoll darüber reden, wie wir in der Praxis mit ihnen umgehen sollten...“ Artikel von Christian Frings aus ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis – Nr. 652 vom 16.9.2019 externer Link
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