Die Demokratie darf nicht am Betriebstor enden. Der Fall Tönnies zeigt: Gerade im Niedriglohnsektor braucht es mehr wirtschaftliche Bürgerrechte
„… Schon lange sind die in Teilen erschreckenden Arbeitsbedingungen in der Schlachtindustrie, aber auch in der Logistik oder bei Erntehelfern, bekannt. (…) Mit dem Verbot von Werkverträgen wird nur eine bislang legale Form untersagt, aber nicht das Prinzip außer Kraft gesetzt. Dieses ist von viel grundsätzlicherer Natur, es existiert breit gestreut im gesamten Niedriglohnsektor (…) Der mangelnde Arbeits- und Gesundheitsschutz hat jedoch woanders seine Ursache: in der Unternehmensverfassung. Im Innern sind Unternehmen so etwas wie eine „private Regierung“, wie es die US-Philosophin Elizabeth Anderson genannt hat. Die Beschäftigten treten zwar freiwillig (dies allerdings nur halb, denn sie brauchen ja einen Job) in das Unternehmen ein, aber mit Abschluss des Arbeitsvertrages unterliegen sie dem Direktionsrecht des Arbeitgebers. (…) Arbeit ist in einer modernen Gesellschaft jedoch keine rein private Angelegenheit mehr. Anderson fordert deshalb, die private Regierung durch eine öffentliche zu ersetzen. Solch eine öffentliche Regierung gibt es eigentlich schon, sie ist jedoch durch den Neoliberalismus unter die Räder gekommen: Die gesetzlichen Regelungen für Arbeits- und Gesundheitsschutz sind auf dem Papier recht gut – sie werden jedoch zu wenig umgesetzt. Die Gewerbeaufsicht hat wegen der Sparpolitik der vergangenen Jahre ihre Kontrollen massiv zurückgefahren. Gewerkschaften und Betriebsräte bewirken nur wenig und sind im Niedriglohnsektor zu schwach. (…) brauchen wir einen neuen Anlauf für wirtschaftliche Bürgerrechte. Und diese müssen für alle Menschen gelten, die hier arbeiten…“ Gastkommentar von Oliver Nachtwey vom 5. Juli 2020 in der Süddeutschen Zeitung online