Verfassungsbeschwerden gegen Neuregelung zur Tarifkollision gescheitert – ist die Beschwerdeablehnung der 3. Kammer des Ersten Senats rechtswidrig?
„Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss drei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die Neuregelung zur Tarifkollision nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2017 in § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) wenden. Den Beschwerdeführenden, zwei Gewerkschaften und einem Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, geht der Schutz gegenüber größeren Gewerkschaften durch die neue Regelung nicht weit genug. Sie müssen die aufgeworfenen Fragen jedoch zunächst von den Fachgerichten klären lassen…“ So beginnt die BVerfG- Pressemitteilung zum lang erwarteten Urteil (siehe unten umfangreicher). Armin Kammrad hält diese Entscheidung in seinem Kommentar für uns vom 04. Juli 2020 (wir danken!) für rechtswidrig: „… Faktisch steht damit eine höchstrichterliche Überprüfung noch aus, ob das Tarifeinheitsgesetz nicht auch weiterhin verfassungswidrig in das Koalitionsrecht eingreift, weil für die Beantwortung dieser Frage bereits formal nicht die Kammer, sondern nur der Senat zuständig ist. Dazu steht übrigens auch eine bereits beantragte Entscheidung des EGMR noch aus. Denn die Kernfrage ist, ob das Tarifeinheitsgesetz überhaupt in der von der Senatsmehrheit 2017 durchgewunkenen Form mit der Koalitionsfreiheit nach Art. 11 EMRK vereinbar ist. Es gibt also bisher keinen Grund für Minderheitsgewerkschaften sich nach dem (ergänzten) Tarifeinheitsgesetz zu richten…“ Siehe die BVerfG-Pressemitteilung vom 2. Juli 2020 sowie den umfangreichen Kommentar von Armin Kammrad:
- BVerfGE: Verfassungsbeschwerden gegen Neuregelung zur Tarifkollision in § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 Tarifvertragsgesetz nicht zur Entscheidung angenommen
„Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss drei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die Neuregelung zur Tarifkollision nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2017 in § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) wenden. Den Beschwerdeführenden, zwei Gewerkschaften und einem Dachverband von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, geht der Schutz gegenüber größeren Gewerkschaften durch die neue Regelung nicht weit genug. Sie müssen die aufgeworfenen Fragen jedoch zunächst von den Fachgerichten klären lassen. Die Verfassungsbeschwerde ist insofern subsidiär. (…) Es bestehen Zweifel, ob die Beschwerdeführenden in einer den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes genügenden Weise dargelegt haben, dass sie durch die angegriffene gesetzliche Regelung unmittelbar betroffen sind. (…) Zweifel bestehen auch, ob die Verfassungsbeschwerden hinsichtlich der Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten hinreichend substantiiert sind (…) Jedenfalls sind die Beschwerdeführenden zunächst auf den Rechtsweg zu den Fachgerichten zu verweisen. Hier wurden die Fachgerichte vorher nicht befasst und es liegt kein Ausnahmefall vor, der die Pflicht zu ihrer Anrufung ausnahmsweise entfallen lassen würde. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass es von vornherein sinn- und aussichtslos wäre, zunächst den Rechtsweg zu beschreiten. (…) Werden die Fachgerichte angerufen, müssten diese klären, ob beim Zustandekommen des Mehrheitstarifvertrags die gesetzlichen Anforderungen erfüllt worden sind, die zu einer Verdrängung von Tarifverträgen führen können. (…) Inwiefern die hier angegriffene Neuregelung dann auf praktische Schwierigkeiten stößt, muss sich zunächst „vor Ort“ zeigen, bevor das Bundesverfassungsgerichts die Frage beantworten kann, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist.“ Aus der BVerfG-Pressemitteilung vom 2. Juli 2020 zum Beschluss 1 BvR 672/19, 1 BvR 2832/19, 1 BvR 797/19 vom 19. Mai 2020
Beschwerdeablehnung der 3. Kammer des Ersten Senats ist rechtswidrig
Der letzte Satz der Pressemitteilung bringt es auf den Punkt: Denn er besagt, dass es laut Kammer nicht mehr um verfassungsrechtliche Grundfragen beim viel diskutierten Tarifeinheitsgesetz gehen soll, sondern nur noch um „praktische Schwierigkeiten“, welche zunächst die Gerichte klären sollen, obwohl die Senatsmehrheit (6:2) mit Beschlusses 1 BvR 1571/15 u.a. vom 11. Juli 2017 zwar den gesetzgeberische Eingriff in die Tarifautonomie zu Gunsten vor allem der Arbeitgeber – bedauerlicherweise – für verfassungskonform hielt, aber zugleich auch Vorkehrungen und Abhilfe vom Gesetzgeber verlangte, damit nicht „die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden.“ (BVerfG-PM vom 11. Juli 2017 ).
Geht es nach dem Gesetzgeber, sei er am 18. Dezember 2018 mit der Einfügung des Halbsatzes in § 4a Abs.2 Satz 2 TVG den Forderungen des BVerfG nachgekommen. Hiergegen richten sich die Beschwerden. Die Beschwerdeführer meinen, dass dieser Halbsatz gerade nicht die 2017 festgestellte Benachteiligung beseitigt hat. Doch warum überprüft die Kammer dies nicht, sondern lehnt die Beschwerden als unzulässig ab? Ist es nicht eher so, dass sie mit ihrem Verweis auf die Praxis „vor Ort“ stillschweigend diese Änderung als verfassungsgemäß einfach durchwinkt? Und seit wann entscheiden praktische Realisierungsprobleme darüber, ob ein Gesetz verfassungskonform ist? Nach dem Umgang der Kammer mit den Beschwerden bräuchten eigentlich die Instanzengerichte gar nichts entscheiden, sondern könnten Entscheidungen zur Sache aussetzen und das BVerfG zu einer konkreten Normenkontrolle auffordern, also zu dem, was die Kammer den Beschwerdeführenden gerade verweigert. Denn es geht um Grundrechte und nicht, wie die Kammer meint, um die Schwierigkeiten bei der praktischen Realisierung von möglicherweise manifesten Grundrechtsverletzungen durch den Gesetzgeber. Darauf aufmerksam muss das BVerfG allerdings niemand mehr machen, als Institution hat hier das höchste Gericht versagt.
Tatsächlich ist dieser Umgang der 3. Kammer des Ersten Senats mit den Beschwerden bereits aus formalen Gründen rechtlich inakzeptabel. So ist zwar nachvollziehbar, dass die Kammer mit dem ehemaligen Arbeitgeberanwalt Harbarth (neben den Richterinnen Baer und Ott) dem zugeneigt ist, was Dennis Lüers am 11. Juli 2017 bei LTO mit „Aufatmen der Arbeitgeber“ kommentierte, also dass der BVerfG-Beschluss von 2017 zugunsten vor allem der Arbeitgeber in die Koalitionsfreiheit von Art. 9 GG eingreift. Jedoch bestand ein paar Jahre nach dem BVerfG-Beschluss für die Beschwerdeführenden keine Pflicht zu einer umfangreichen Beweisführung mehr. Die Frage ist viel mehr: Was ist mit dem 2018 eingefügten Halbsatzes in § 4a Abs.2 Satz 2 TVG? Was die Kammer da an Begründungsvoraussetzungen verlangt, kann sich weder auf § 23 noch auf § 92 BVerfGG stützen. Die Art der möglichen Grundrechtsverletzung wurde bereits mit der BVerfGE von 2017 ausführlich benannt, was nun die Kammer vermisst, war für den Senat 2017 vorhanden: Die unmittelbare Betroffenheit.
Das Herangehen der 3. Kammer ist in vor allem aus einem anderen Grund sehr kritikwürdig. So hielt nicht nur ich 2017 die Entscheidung der Senatsmehrheit für verfassungswidrig (vgl. meinen Beitrag „Was tun, wenn das Bundesverfassungsgericht verfassungswidrig entscheidet?“ vom 11. Juli 2017 ), sondern auch die Richter Paulus und die Richterin Baer in ihrem Sondervotum. Es stellt eine Missachtung dieser beiden richterlichen Mitentscheider dar, nun als Kammer über die Beschwerden zu einer Gesetzesänderung entscheiden zu wollen, welche 2017 Gegenstand der (divergierenden) Begründung war. Denn dies ist einer Kammer gesetzlich verwehrt; sie kann nicht über die Verfassungskonformität von Gesetzen entscheiden. Dass der Entscheidung „grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt“ (§ 93a Abs. 2a BVerfGG) zeigt doch gerade die Uneinigkeit des Senats 2017. Da sich die Beschwerden eindeutig gegen eine Gesetzesänderung richten, mussten die Beschwerdeführenden nicht nur die Einjahresfrist nach § 93 Abs.3 einhalten. Sie müssen sich auch nicht auf die gerichtliche Praxis verweisen lassen. Sie handeln nämlich auch entsprechend des Sondervotums von Paulus und Baer, worin diese zu der beanstandeten Rechtslücke im TVG erklärten: „Es ist nicht an den Gerichten, diese Lücke zu füllen“. (vgl. BVerfG-PM vom 11. Juli 2017 ). Die Antwort auf die Frage, ob der Gesetzgeber diese Lücke mittlerweile geschlossen hat, ist deshalb nicht „subsidiär“, wie die Kammer meint. Auf einer nicht verfassungswidrigen Grundlage kann ein Gericht nicht verfassungskonform entscheiden.
Die 3. Kammer des Ersten Senats ignoriert also nicht nur die Haltung der Richter*innen im Sondervotum, sondern will auch über einen Kammerbeschluss durchsetzen, dass nicht der gesamte Senat wie 2017 überprüft, ob der Gesetzgeber der Forderung der Senatsmehrheit von 2017 entsprochen hat. Faktisch steht damit eine höchstrichterliche Überprüfung noch aus, ob das Tarifeinheitsgesetz nicht auch weiterhin verfassungswidrig in das Koalitionsrecht eingreift, weil für die Beantwortung dieser Frage bereits formal nicht die Kammer, sondern nur der Senat zuständig ist. Dazu steht übrigens auch eine bereits beantragte Entscheidung des EGMR noch aus. Denn die Kernfrage ist, ob das Tarifeinheitsgesetz überhaupt in der von der Senatsmehrheit 2017 durchgewunkenen Form mit der Koalitionsfreiheit nach Art. 11 EMRK vereinbar ist.
Es gibt also bisher keinen Grund für Minderheitsgewerkschaften sich nach dem (ergänzten) Tarifeinheitsgesetz zu richten. Streiks sind sowie sowohl Mehrheits- wie Minderheitsgewerkschaften erlaubt, da die Kammer eine abschließende Überprüfung nun blockiert, auch bezüglich gleicher und evtl. besserer Forderungen als die der Gewerkschaft mit mehr Mitgliedern. Von einem freiwilligen Anrufen der Gerichte bei Tarifkollision, von der die 1. Vorsitzenden des Marburger Bundes, Dr. Susanne Johna, am 2. Juli 2020 ausgeht, würde ich eher abraten, da dies einer Anerkennung der rechtlichen Verbindlichkeit des Tarifgesetzes gleich käme (wobei, worauf Wolfgang Däubler in Arbeitsrecht 2020, S.85 hinweist, bei der gerichtlichen Bestimmung der ‚Mehrheit‘ sowie so, „viele schwer lösbare Fragen“ auftreten). Vor allem sollte die berufliche Karriere vom CDU-Politiker und ehemaligen Arbeitgeberanwalt Stephan Harbarth bei Verfassungsbeschwerden, welche besonders Tarifkonflikte betreffen, beachtet werden. Es gibt keinen sachlichen Grund künftig gerade hier den neuen Präsidenten des BVerfG nicht als befangen zu betrachten.
Kommentar von Armin Kammrad vom 04. Juli 2020 – wir danken!
- Siehe zuletzt dazu unser Dossier: Koalition hat ihre »Tarifeinheit« – bis zum BVerfG oder Generalstreik?