Raus aus der Latenzphase. Jonas Berhe über institutionellen Rassismus und deutsche Abwehrreflexe
„Im August 1987 starb der 19jährige Kiomar Javadi im Hinterhof eines Tübinger Supermarktes. Aufgrund eines vermeintlichen Ladendiebstahls wurde er von mehreren Angestellten in dem Hof mit dem Gesicht zu Boden gedrückt und gewürgt. Der Würgegriff dauerte 18 Minuten. Obwohl Kiomar Javadi schon nach wenigen Minuten bewusstlos und nach 4-6 Minuten tot war, ließen die Beschäftigten nicht von ihm ab. Einige PassantInnen protestierten während der Tötung, schritten aber aufgrund der Einschüchterungen seitens der Mehrheit nicht ein. Die nach 18 Minuten eintreffenden Polizisten legten dem Toten Handschellen an. Im Januar 2005 verbrannte Oury Jalloh in einer Zelle des Dessauer Polizeireviers. Ein forensisches Gutachten aus dem Jahr 2019 bestätigte den Verdacht von Familie und Schwarzer Community, dass Oury Jalloh vor seinem Tod brutal misshandelt wurde. Nach wie vor gibt es berechtigte Zweifel an der offiziellen Erklärung, dass er gefesselt seine eigene Matratze angezündet haben soll. Durch mehrere Gerichtsverfahren stellte sich zudem heraus, dass es noch zwei weitere ungeklärte Todesfälle bei der Dessauer Polizei gibt. In Anlehnung an den Tod von George Floyd zeigen beide Fälle, dass auch hierzulande Brutalität gegen Schwarze Menschen und MigrantInnen sowie rassistische Polizeipraxis keine Ausnahme sind. Das Netzwerk »Death in Custody« hält 159 Fälle von Toten in Polizeigewahrsam seit 1990 fest. Wie reagiert die deutsche Politik auf die Kritik?…“ Artikel von Jonas Berhe, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 6/2020:
Raus aus der Latenzphase
Jonas Berhe* über institutionellen Rassismus und deutsche Abwehrreflexe
Im August 1987 starb der 19jährige Kiomar Javadi im Hinterhof eines Tübinger Supermarktes. Aufgrund eines vermeintlichen Ladendiebstahls wurde er von mehreren Angestellten in dem Hof mit dem Gesicht zu Boden gedrückt und gewürgt. Der Würgegriff dauerte 18 Minuten. Obwohl Kiomar Javadi schon nach wenigen Minuten bewusstlos und nach 4-6 Minuten tot war, ließen die Beschäftigten nicht von ihm ab. Einige PassantInnen protestierten während der Tötung, schritten aber aufgrund der Einschüchterungen seitens der Mehrheit nicht ein. Die nach 18 Minuten eintreffenden Polizisten legten dem Toten Handschellen an.
Im Januar 2005 verbrannte Oury Jalloh in einer Zelle des Dessauer Polizeireviers. Ein forensisches Gutachten aus dem Jahr 2019 bestätigte den Verdacht von Familie und Schwarzer Community, dass Oury Jalloh vor seinem Tod brutal misshandelt wurde. Nach wie vor gibt es berechtigte Zweifel an der offiziellen Erklärung, dass er gefesselt seine eigene Matratze angezündet haben soll. Durch mehrere Gerichtsverfahren stellte sich zudem heraus, dass es noch zwei weitere ungeklärte Todesfälle bei der Dessauer Polizei gibt.
In Anlehnung an den Tod von George Floyd zeigen beide Fälle, dass auch hierzulande Brutalität gegen Schwarze Menschen und MigrantInnen sowie rassistische Polizeipraxis keine Ausnahme sind. Das Netzwerk »Death in Custody« hält 159 Fälle von Toten in Polizeigewahrsam seit 1990 fest.
Wie reagiert die deutsche Politik auf die Kritik?
Der brutale Mord an George Floyd in Minneapolis durch einen bzw. mehrere Polizisten gab der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken Anlass, laut über »latenten Rassismus« bei der deutschen Polizei nachzudenken. Ihre Äußerung löste einen regelrechten Sturm der Entrüstung auf konservativer Seite, aber auch in den Reihen ihrer eigenen Partei bis hin zum Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch aus. Gökay Sofuoğlu hingegen, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, verteidigte Saskia Esken und verwies auf den jahrelangen Umgang der Polizei mit den NSU-Morden. Diese hätten vieles »vertuscht«. Eine recht euphemistische Umschreibung dafür, dass die Opferfamilien lange Zeit selbst als Tatverdächtige galten, schikaniert und bespitzelt wurden.
Die ablehnenden Reaktionen im aktuellen Rassismus-Diskurs sind insofern erstaunlich, als in der Rechtsprechung der jüngeren Vergangenheit eine rassistische Praxis der Sicherheitsbehörden festgestellt wurde. So entschied das Oberverwaltungsgericht Koblenz in einem Urteil aus dem Jahr 2016, die weit verbreitete Praxis des Racial Profiling durch Sicherheitsbehörden mit Hinweis auf Artikel 3 im Grundgesetz zu verbieten. Dass Racial Profiling aber weiterhin zum – oft brutalen – Handwerkszeug der (Bundes-)Polizei gehört, zeigt auch eine aktuelle Zusammenstellung der Initiative »Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt« (Kop). Diese notiert allein für Berlin zahlreiche Fälle für den Zeitraum 2000 bis 2020. Ausschlaggebend für diskriminierende Kontrollen, Übergriffe und Kriminalisierung, oft in genau dieser Reihenfolge, ist fast durchweg die Hautfarbe von Schwarzen Menschen bzw. Menschen migrantischer Herkunft.
Anfang Juni wurde in Berlin das erste Landes-Antidiskriminierungsgesetz (LADG) Deutschlands beschlossen. Dieses attestiert implizite Diskriminierung durch öffentliche Behörden und Polizei, da es nun erstmals ermöglicht, gegen diese zu klagen.
Tahir Della, Pressesprecher der »Initiative Schwarze Menschen in Deutschland«, spricht von einer »lang erwarteten Maßnahme« und sieht in der Regelung eine deutliche Verbesserung zur bisherigen Praxis des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Diese Anerkennung der Möglichkeit strukturell diskriminierenden Verhaltens seitens der Behörden wird aber nicht von allen Seiten als Meilenstein für eine schrittweise gesellschaftliche Verbesserung gewürdigt. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) zweifelt daran, dass das Berliner Gesetz ihm erlaube, weiterhin PolizistInnen zu Großeinsätzen nach Berlin zu senden, da diese dort gegebenenfalls kriminalisiert würden. Eine mindestens interessante Auslegung der gängigen und juristisch klar geregelten Praxis der Amtshilfe. Während der bayrische Innenminister die Berliner Gesetzgebung zunächst erstmal juristisch prüfen will, geht die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Nordrhein-Westfalen sogar so weit zu fordern, dass das LADG vollends gekippt werden muss.
WissenschaftlerInnen und die Schwarze Community zeichnen hingegen ein anderes Bild. Die Soziologin Vanessa E. Thompson forscht zu Formen polizeilicher Überwachung Schwarzer Menschen in Europa. Sie spricht in ihren Untersuchungen von kolonial-historisch geprägten und aktuellen Formen der Polizeiarbeit, die nach wie vor dafür sorgen, dass Schwarze Menschen deutlich öfter kontrolliert werden. Diese Form der Polizeiarbeit wirkt aber auch auf die weiße Mehrheitsgesellschaft und sorgt nicht nur für eine breite Akzeptanz der Kontrollen, sondern auch für die Übernahme entsprechender Stereotype im Denken und Wirken weiterer Institutionen. Bei Schwarzen Menschen hingegen verschiebt sich aufgrund einer jahrelang immer wieder erlebten Diskriminierung das Bild der Polizei. Vereinfacht gesagt: Sie erscheint als Bedrohung, nicht als Schutz.
No change without the community
Es bleibt festzuhalten, dass es nicht ausreicht, gängige Polizeipraxen zu kritisieren, um weiterreichende gesellschaftliche Veränderungen zu erwirken. Echte Veränderung braucht immer emanzipierte Subjekte und eigenes Handeln auf unterschiedlichsten Ebenen. Erst aufgrund historischer Recherchen und durch den Druck der Schwarzen Community und ihrer politischen Verbündeten wurden beispielsweise in verschiedenen Städten Kasernen und Straßen, die Jahrzehnte die Namen von Kolonialverbrechern trugen, umbenannt. Noch stärker die eigene politische Intervention begleiten soll auch der durch den Berliner Verein »Each One Teach One« (EOTO) aktuell organisierte Afrozensus. Diese breit angelegte Online-Befragung Menschen afrikanischer Herkunft bündelt Erfahrungen, Erlebnisse und politische Forderungen der Community.
Politisch gewinnbringend wäre es, die verschiedenen Ansätze und Auseinandersetzungen der Schwarzen Community um bestehende Kämpfe gegen Antisemitismus zu erweitern und noch offener auf Klassenbezüge einzugehen. Denn gerade ärmere Schwarze und MigrantInnen scheinen stark betroffen von Polizeibrutalität. Ob die Demonstrationen in vielen deutschen Großstädten auch weiterhin zu verändertem Handeln der weißen Mehrheitsgesellschaft führen oder eher eine Ausnahmeerscheinung sind, bleibt abzuwarten.
Wünschenswert wäre es. Denn um zu Saskia Esken zurückzukommen: Von latentem Rassismus kann hierzulande wirklich keine Rede sein. Es ist tatsächlich viel schlimmer.
* Jonas Berhe ist Gewerkschafter und Social-Justice-Aktivist. Zudem engagiert er sich beim Netzwerk u4e für einen längst überfälligen Wandel in Eritrea.
express im Netz und Bezug unter: www.express-afp.info